Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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wo die vielen Equipagen unter weißen Staubdecken standen: das „kleine“ Kupee, das „große“ Kupee, der alte „Wasok“ – eine Art russische Kibitke – Kaleschen, Korbwagen, Jagdwagen und die mächtige, nur mit sechs Pferden zu fahrende „Familien-Droschke“, ein Ungetüm aus Urgroßvaters Zeiten.

      Unter den herunterhängenden Decken konnte man überall hineinkriechen; am liebsten setzten sich Aurel und Adda in das „große“ Kupee, lehnten sich tief zurück, steckten die Arme in die breiten, mit bunten Glasperlen bestickten Armhänger, lehnten die Köpfe gegen die Schlummerrollen und federten auf dem weichen Polster. An den Fenstern waren dunkelgrüne Seidenrouleaus mit Fransen angebracht, zupfte man an einem Schnürchen, schnellten sie in die Höhe und rollten sich oben auf. Zog man an einer Troddel, klingelte ein helles silbernes Glöckchen oben auf dem Bock. In dieser Kutsche war Großtante Ernestine über Königsberg zur Kur nach Marienbad gefahren! Wie es in allen Ecken nach Mottenpulver, nach altem Parfüm, uraltem Reisestaub roch!

      Und neben dem Wagenhaus war der Pferdestall; ein angenagelter Habicht, von dem nur noch ein paar zerzauste Flügelfedern übrig waren, spreizte sich über der Tür.

      Gleich am Eingang neben der Häckselmaschine stand die große Wassertonne, aus der die Pferde mit gesenkten Köpfen so merkwürdig lautlos tranken. Nur die sammetweichen Nüstern bewegten sich saugend über dem dunklen Wasserspiegel. Da standen die Pferde in den hohen Boxen: Ehra, die Fuchsstute; der dunkelbraune Viererzug: Brauni, Iipsi, Mascha und Mazurka; die beiden Apfelschimmel: Schalk und Scheck; und Hamilkar, der alte blinde Rappe, der nur noch zum Wasserfahren benutzt wurde. Sie mahlten mit den Mäulern, schnaubten, wendeten die langen, schmalen Köpfe – die Ketten klirrten, und dann und wann stampfte ein Huf. Wie Aurel diese schwere, von Pferde-, Zaumzeug- und Hafergeruch gesättigte Luft liebte!

      Die viereckige Düngerluke zum Garten stand offen. Grell und blendend, wie mit einem scharfen Messer herausgeschnitten, lag das Gartenstück im flimmernden Mittagslicht. Über den dichten Stachelbeerbüschen krümmten sich die alten kalkbespritzten Apfelstämme unter ihrer wachsenden Last. Weiße Kohlschmetterlinge schaukelten, Bienen brummten und Spatzen tschiebsten in der brütenden Luft.

      Aurel kletterte durch die Luke über den brodelnd warmen Düngerhaufen zu den Mistbeeten hinunter, zog eine rote Karotte aus der fetten Erde, wischte sie mit ihrem eigenen Blätterstengel ab und biß in die süße, harte Frucht. Die Erdkörner knirschten zwischen den Zähnen.

      Eine dunkle Wolke, hob sich der lärmende Spatzenschwarm aus dem Erbsenspalier und warf sich in den großen Cyrenenbusch am Ziehbrunnen. Knarrend senkte sich die lange Brunnenstange in die Tiefe. Janz schöpfte Wasser.

      „Willst du sehen, wie tief die Erde ist?“ rief er lachend über den Zaun.

      Aurel rannte aufgeregt durch die Pforte, und Janz hob ihn an den bemoosten Bohlenrand des dunklen Brunnenschachtes. Mit der anderen Hand stieß er langsam die Stange mit dem Eimer in den Abgrund. Wie unergründlich tief lag dort unten der blaue Himmel.

      „Siehst du, wie tief die Erde ist? Dort hört sie auf, dort ist nur Wasser!“

      Mit einem klatschenden Schlag stieß der Eimer in den Himmel, zerschlug den Spiegel, füllte sich mit Wasser und stieg schwankend und schwappend aufwärts. Dann setzte Janz Eimer und Jungen auf den Rasen.

      „Willst du schmecken, wie kalt das Wasser ist?“

      Aurel beugte sich über den grünbemoosten Holzeimer. Das noch schaukelnde Wasser schlug ihm eisig in das erhitzte Gesicht.

      „Und noch tiefer“, erklärte Janz, indem er die große Karaffe füllte, „ist lauter Eis. Die Erde ist eine Eiskugel, die nur oben ein wenig von der Sonne angewärmt wird!“

      Da rief Mila von der Küchentreppe, und Aurel mußte zum Mittagessen ins Haus.

      Unter der Erde war kaltes Wasser, Eis und Finsternis. Aber auf der moorigen Wiese, am Rande der Pferdekoppel, brannte die Sonne. Die Luft über den Gräsern, den blauen Glockenblumen, dem gelben Löwenmaul und den roten Kleebällen flimmerte; die Blätter der Ellernbüsche am Stangenzaun hingen schlaff und unbewegt in der drückenden Glut.

      Aurel ging hinter Mila her auf dem schmalen Fußweg, der an der Koppel entlang zum Kirchhof führte. Er hielt einen kleinen bunten Tonkrug in der Hand, und Mila trug eine tiefe Blechkanne am Henkel. Unter ihrem dunkelroten Rock schauten die nackten, von schwarzen Sandalenriemen umwickelten Knöchel hervor.

      Plötzlich blieb sie stehen. Als Aurel aufschaute, sah er im Ellerngestrüpp am Zaun das braune, verschlafene Gesicht von Wannag, dem jungen Pferdeknecht. Wannag schlief immer; auch wenn er die Pferde striegelte oder die Häckselmaschine drehte, tat er dies wie im Schlaf. Gähnend, mit merkwürdig unbewegten Augen stand er da hinter dem Zaun, den nackten großen Fuß auf der wippenden Birkenstange.

      Aurel sollte ein wenig vorauslaufen, und als dann Mila später nachkam, war das weiße Kopftuch ihr tief in den Nacken gerutscht. Ihre Wangen glühten unter den schwarzen, wirr hervorquellenden Haaren.

      „Ist das eine Hitze!“ stöhnte sie, indem sie mit hochgehobenen Armen das Kopftuch wieder in Ordnung brachte.

      Langsam stiegen sie den steilen Hang zum Kirchhof hinauf. Aber auch hinter der dichten Tannenhecke, unter den hohen Birken und Kiefern war es drückend heiß. Und nachdem sie einen halben Krug Erdbeeren gepflückt hatten, setzten sie sich auf einen flachen Grabstein, der eingesunken im hohen Grase lag. Etwas abseits, hinter einer Reihe solcher Steinplatten, stand ein weißes Marmorkreuz mit verblaßter Goldschrift neben einem kleinen Hügel. Sonst war der Kirchhof eine Wildnis, in der Fichten, Kiefern, Birken, stämmige Eichen, stachlige Wacholderbüsche, ja sogar weichnadlige Lärchen durcheinanderwuchsen.

      „Liegen die Toten tief in der Erde?“ fragte Aurel und steckte sich eine dunkle Erdbeere in den Mund.

      „Ja, tief“, sagte Mila, „sehr tief. Die können nie mehr heraus.“

      „Im Wasser oder noch tiefer im Eis?“

      „Nein, in der Erde, die ist tief genug“, erklärte Mila mit einem abwesenden Gesicht.

      Aurel überlegte: darum begräbt man also die Toten auf einem Berg, damit sie nicht im Wasser liegen müssen.

      „Und warum legt man so schwere Steine auf die Gräber?“ fragte er nach einer Weile.

      Mila schwieg. Dann sagte sie leise:

      „Damit die Toten nicht wiederkehren.“

      „Aber auf dem Grab dort liegt kein Stein, da steht nur ein Kreuz.“ Aurel wies auf den kleinen Rasenhügel.

      „Dort liegt dein totes Schwesterchen“, sagte Mila ernst. „Und das ist ja auch wiedergekommen“, fügte sie nach einer Weile lächelnd hinzu.

      „Und alle anderen dürfen nie wiederkommen?“ Aurel sah Mila erschrokken an.

      Sie schüttelte das weiße Kopftuch:

      „Nein, nie.“

      Aurel grübelte.

      „Und wer liegt unter diesem Stein?“

      Mila war aufgestanden. Sie gingen an der Gräberreihe entlang, und Mila zeigte auf die einzelnen Steinplatten:

      „Dein Großvater, und dessen Vater, und dessen Vater …“

      „Und die Großmütter?“

      „Die Großfrauen liegen alle neben ihnen, unter demselben Stein. Und hier liegt der General, der gegen die russischen Heiden kämpfte und mit dem schwedischen König bis in die Türkei ritt.“

      Aurel blieb stehen:

      „Und warum hebt man nicht den Stein auf, damit er wiederkommen und weiterkämpfen kann?“

      „Weil er genug gekämpft hat“, meinte Mila, „und weil genug Blut geflossen ist!“

      „Und werde ich auch einmal hier liegen?“ forschte Aurel weiter und holte sich wieder eine Erdbeere aus dem Krug.

      „Vielleicht, wenn die großen Brüder