Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
In den Folgebänden wird der politische Hintergrund zunehmend bedeutsamer; Vegesack weitet seinen Entwicklungsroman eines jungen baltischen Adligen aus zur Schicksalsgeschichte einer ganzen Volksgruppe. Er schildert den Umsturz der alten Ordnung im Baltikum, die Ära der Russifizierung und Unterdrückung der deutschen Kultur während der Zarenherrschaft, die Grausamkeiten während der lettischen, estnischen und russischen Revolution von 1905 und schließlich den Verlauf des Ersten Weltkriegs im Baltikum: die Unabhängigkeitsbestrebungen der Letten und Esten, die Kämpfe zwischen Rot und Weiß, den todesmutigen Einsatz der „Baltischen Landeswehr“ zur Befreiung der Heimat von der Bolschewikenherrschaft, die in Riga vom 3. Januar bis 22. Mai 1919 wütet, und die blutigen Kämpfe des aus deutschen Freikorps aufgestellten „Baltenregiments“ im Frühjahr 1919 gegen das kommunistische Rußland. Am Ende kommt es zur Landreform und damit zur Enteignung der Deutschen, die bis dahin die führende Schicht in Livland, Kurland und Estland gebildet hatten. 700 Jahre lang, seit der Christianisierung des Baltikums durch den Deutschen Ritterorden, hatten sie das kulturelle Antlitz dieses Landes geprägt.
In „Herren ohne Heer“ beginnt sich Aurel der außerordentlichen Gefährdung der Deutschen in ihrem Leben als Minderheit bewußt zu werden, „denn Herren ohne Heer zu sein, ist“, wie Vegesacks Landsmann, der Dichter Otto von Taube, in einer Rezension schreibt, „das natürliche Los aller Kolonisten.“ Aurel erlebt die reale Bedrohung der Idylle als Einbruch in das Magische seiner harmonisch-behüteten Kinderwelt, dem schließlich im „Totentanz in Livland“ der heroische Untergang folgt. Nicht zuletzt kommt in den sehr unterschiedlichen Haltungen und Interessen der weit verzweigten Familie von Onkeln und Tanten des Aurel von Heidenkamp, die vom „angerussten“ Onkel Jegor bis zum dünkelhaften Vertreter deutschen Junkertums, Graf Bork, reicht, die innere Zerrissenheit der deutschen Minderheit zum Ausdruck. Auffällig ist auch die ironische Distanz, mit der die Stimme des Erzählers auf ihre Hauptperson, die in der großen Weltgeschichte doch nur zur „kleinen baltischen Nebenfigur“ wird, hinabschaut.
Tragödie – das bedeutet nach Ansicht des Erzählers eine Tragödie, die schon im 15. Jahrhundert begann, weil die von ihr betroffene Volksgruppe „allzuweit vom Mutterland abgesprengt“ war; das bedeutet aber auch die innerlich erlebte Tragödie im Konflikt all jener, die die große, heroische baltische Vergangenheit reflektieren und in Selbstzweifel geraten. Gefangen in ihrer Zerrissenheit müssen sie die baltische Tragödie in sich ausfechten – sie kommen auf der Suche nach Identität gegen die traditionellen Bahnen und die Last der Vergangenheit, das schwere Erbe, nicht an, so Carola Gottzmann in ihrem Aufsatz „Die baltische Tragödie in Aurel von Heidenkamp“: „Die Bürde der Geschichte, die auf dem Menschen ruht, fließt nicht nur mit dem Verhängnis des gewaltsamen Untergangs zusammen, sondern spielt sich auch in den Menschen ab. Die baltische Tragödie findet in Mischka, in Nix und in Aurel statt, während andere Personen des Romans, wie Balthasar, Onkel Nicolas, Jegor, Oscha, Rembert, Tante Olla und andere Verwandte und Bekannte von ihr als von außen kommende Macht überrollt werden.“ Aurel vergleicht sich selbst und seine Brüder mit dem Ehrfurcht einflößenden Werdegang seiner Ahnen: In seinem Bruder Balthasar sieht er einen Nachfahren derjenigen, die mächtige Herren in den Hansestädten gewesen waren – sein Bruder Christoph setzt die Tradition derer fort, die Soldaten waren. Reinhard repräsentiert für ihn den Bauern, der mit Zähigkeit und Geduld an seiner Scholle hängt: von einem westfälischen Bauerngeschlecht, das im 15. Jahrhundert nach Livland eingewandert war, stammen sie ursprünglich ab. – Und er? Die Selbsterkenntnis und Bilanz seines eigenen Lebens am Schluß des Werkes lautet: „So haben die großen Brüder das Erbe der Vorfahren unter sich aufgeteilt und dir, dem Jüngsten und Letzten, blieb nichts Richtiges übrig.“
Zentrales Thema der „Baltischen Tragödie“ ist der Verlust. Immer wieder muß Aurel gerade das verlieren, wozu er seine Zuneigung entfalten möchte, eine Bindung aufbauen kann – seien es nun Haustiere oder geliebte Menschen. Bereits der erste Band ist geprägt durch diese einschneidende, schmerzhafte Erfahrung: Ihm entschwinden besonders jene, die er am meisten liebt: seine Amme, der Hauslehrer oder der beste Freund. So wird dem sensiblen, verschlossenen Knaben ein Sich-Öffnen nur schwer möglich. Schließlich ist es der Tod des Vaters, der zum Begreifen des Endgültigen, des „Nie wieder“ führt.
Zeitlebens ist der Autor dieser Trilogie mit der Verarbeitung des Heimatverlusts beschäftigt. Noch auf der anderen Halbkugel der Welt, ein halbes Jahrhundert nach seinem Aufbruch, wird er wiederholt vom alten Blumbergshof träumen, wie ein aufgewühlter Brief vom April 1960 an seine Nichte bezeugt. Immer wieder ist Siegfried von Vegesack an den Ort, dem er sich so sehr verbunden gefühlt hat – nach Blumbergshof – zurückgekehrt: 1933, 1935, 1938, 1939 und zuletzt, in ein längst zweckentfremdetes und fremdes Haus, als Wehrmachtsdolmetscher im Zweiten Weltkrieg. Danach ist es nicht mehr möglich. „Was frommt es, dem Verlor’nen nachzuklagen?“ fragt er in „Das Unverlierbare“, das zusammen mit einer Reihe anderer Gedichte über seine unverlierbar-verlorene Heimat in wenigen Sommertagen des Jahres 1946 entstanden ist:
Um das Verlor’ne klagen nur die Toren…
Viel tiefer noch, als du es je besessen,
bewahrt’s das Herz und wird es nie vergessen:
Nur das ist unverlierbar, was du ganz verloren!
„Die Baltische Tragödie“ ist wohl der Roman zur Geschichte der Deutschen im Baltikum. Zu Beginn der NS-Zeit geschrieben, ist er trotz seines Erscheinungsdatums ein Appell an Toleranz und Verständigung zwischen den Mitgliedern verschiedener Volksgruppen. Ohne Pathos und Anklage, bis in Einzelheiten dokumentarisch getreu, zeichnet Vegesack die geschichtlichen Entwicklungen nach. Dennoch wird seine Trilogie – insbesondere wegen ihres politischen dritten Teils – nach dem Zweiten Weltkrieg mit Rücksicht auf die sowjetische und französische Zensur zunächst nicht wiederaufgelegt werden: Erst 1949 kommt es unter dem Titel „Versunkene Welt“ zur Neuausgabe des ersten Bandes; der „Totentanz in Livland“ (1935) und die einbändige Ausgabe der „Baltischen Tragödie“ von 1936 befinden sich in der Sowjetischen Besatzungszone 1946 gar auf der „Liste der auszusondernden Literatur“.
Die baltische Schicksalsfrage läßt Vegesack nicht mehr los, erstmals sucht er auch ihre unmittelbare Gegenwart dichterisch aufzuarbeiten, plant Anfang 1939 einen vierten Band. In ihm läßt er die im Baltikum verbliebenen Familienangehörigen des Aurel von Heidenkamp das Fazit ziehen: „Wir haben etwas geleistet, was am allerschwersten ist: wir haben wieder von vorne angefangen. Wir haben nicht die Hände in den Schoß gelegt und unserer großartigen Vergangenheit wehmütig nachgetrauert – wir haben zugepackt, wir haben uns ein neues, wenn auch sehr bescheidenes, aber doch eigenes Dasein geschaffen.“
„Ich machte mich an die Arbeit und habe in Weißenstein 1940 den ‚Letzten Akt‘ der ‚Baltischen Tragödie‘ geschrieben“, notiert der Dichter in seinem ungedruckt gebliebenen Rechenschaftsbericht „Wie ich die zwölf Jahre erlebte“. Wie die ehemaligen „Großherren“ nach der Güterenteignung von 1917 sich vergeblich um die Erhaltung ihrer „Restgüter“ bemühen, bis sie – wie sein älterer Bruder Manfred, das Vorbild für die Figur des Reinhard in dem Gesamtzyklus – durch die Zwangsumsiedlung ins Dritte Reich in den ersten Kriegsjahren die Heimat endgültig aufgeben müssen, ist das Thema dieses selbständigen Fortsetzungsbandes. Gewidmet ist „Der letzte Akt“ „allen Müttern, Vätern und Kindern aller Völker, die ihre Heimat verloren“. Der Autor verteidigt ihn in einem Brief an seinen Lektor vom Januar 1941: „Sicher gibt dieses Buch kein vollständiges, vielleicht auch einseitiges Bild vom Aufbruch der Balten – jedenfalls aber ein Bild, das der Wahrheit näher kommen dürfte, als das, was unsere Zeitungen,