Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Aber noch war es finster. Auch wenn Janz, der Gartenjunge, in der Frühe mit der Stallaterne kam, um den Kachelofen zu heizen, war alles dunkel. Janz ging lautlos, wie ein Gespenst, in seinen Wollsocken; nur die Bohlen des Fußbodens knackten, und das Licht der flackernden Laterne schwankte hin und her, bis es vor der Holzkiste stillstand. Dann hockte sich Janz auf den Knien vor dem Ofen nieder, und jetzt konnte Aurel ganz deutlich im Schein der Laterne sehen, daß die rechte Socke auf dem Hacken ein Loch hatte, ein großes, rundes Loch.
Die Ofentür klapperte, das Feuer knisterte, prasselte; Janz schlurfte davon, aber die roten und gelben Lichter tanzten noch lange vor dem Ofen auf dem Fußboden, bis dann langsam die Dämmerung vom Fenster ins Zimmer stieg und es allmählich Morgen wurde.
Mila kam, Aurel wurde aus seinem Käfig herausgehoben, der Tag fing an.
Ein Tag war damals noch eine kleine Ewigkeit, oder vielleicht stand die Zeit überhaupt still, wie das Haus stillstand mit seinen weiten, hellen Räumen, den vielen weißen Kachelöfen und der alten englischen Standuhr, deren Räderwerk längst abgelaufen war und die ein merkwürdiges, heiseres Schnurren von sich gab, wenn man ihre Gewichte herunterzog.
Aber das durfte man eigentlich nicht tun, und Aurel war auch dazu viel zu klein, nur wenn Mila ihn auf die Arme hob, konnte er bis zu den schweren Bronzezapfen hinauflangen und die blanke Scheibe des Perpendikels ein wenig auf und ab ticken lassen. Doch gleich darauf stand sie wieder still, der Zeiger rührte sich nicht. Die Uhr wollte nicht gehen.
Nur die großen viereckigen Sonnenstücke wanderten langsam über den weiß gescheuerten, ungestrichenen Bretterfußboden und die bunten Flicken-Dielenläufer, die von einer Schwelle zur anderen schräg durch die Zimmer liefen. Auf diesem Dielenläufer im Saal ging Mila oft hin und her, den kleinen Aurel auf den Armen, und Minka, die dreifarbige Katze, lief feierlich, mit hochgehobenem Schwanz, hinter ihrem Rock immer auf und ab, bis der Junge ins Bett getragen wurde und sie sich wieder schnurrend zu ihm hinlegen konnte. Auf diesem gestreiften Dielenläufer machte Aurel seine ersten Gehversuche: Mila an der einen Hand und Karlomchen an der anderen. Vor ihm aber, nur ein paar Schritte entfernt, hockte die Mutter mit ausgebreiteten Armen auf den Knien und fing ihn auf, wenn er das letzte Stück ganz allein mit einem hellen Jauchzer an ihre Brust taumelte.
Dann hob die Mutter ihn auf ihre Arme, war aber gleich so erschöpft, daß sie ihn doch der Wärterin abgeben mußte und Mila ihn wieder zu sich nahm.
Wie zart und zerbrechlich war die Mutter und wie klein und bucklig Karlomchen neben der breiten, kraftstrotzenden Mila! Mila, und nicht die Mutter, hatte den Jungen genährt, und so hing er auch noch jetzt unzertrennlich an ihr wie an keinem anderen Menschen.
Sonst waren da noch die großen Brüder: drei Knaben, viel älter als er, die mit dem verspäteten Jüngsten nichts anzufangen wußten. Aber an einem hellen Wintermorgen wurde Aurel ins Schlafzimmer der Mutter geführt, und da lag etwas Winziges, Rosiges neben ihr im Bett. Nun hatte er eine kleine Schwester.
Der Vater war fast immer unsichtbar, und zu ihm durfte man nicht hineingehen. Nur manchmal öffnete sich die Tür, und dann stand er da in seinem braunen Hausrock, die lange Pfeife in der Hand, sagte etwas und war ebenso plötzlich wieder verschwunden. Aber ein wenig Pfeifenrauch blieb im Saal zurück, und dieser Geruch war eigentlich alles, was der kleine Aurel von seinem Vater hatte.
Dafür öffnete sich ihm ein neues Reich, in das ihn Mila jetzt öfters mitnahm: die Gesindestube neben der Küche. Hier ging es laut und lustig zu, es war ein Kommen und Gehen, immer saß jemand am blankgescheuerten Tisch bei einem großen geblümten Kaffeekrug, die Mädchen rannten hin und her, es war ein ewiges Lachen und Geschwätz. Besonders toll trieb es die schwarze Tina, aber auch die kleine Karlin hatte ein Mundwerk, das nur selten stillstand. Und was gab es da für sonderbare Männer: den alten Kutscher Marz mit dem buschigen Vollbart, der ihm tief über die Brust hing und den er immer mit dem Handrücken strich, wenn er einen Kaffeeschluck geschlürft hatte; den stillen, bedächtigen Gärtner Indrik, der niemals lachte und immer zu träumen schien und der eine so schöne tiefe Stimme hatte, daß alle Mädchen weinten, wenn sie ihn hörten. Aber er sang nur selten und niemals, wenn man ihn bat. Dann war da oft der kleine, aufgeregte Buschwächter Mickel mit den kurzen, krummen Beinen und dem abgeschossenen Daumen: der glatte vernarbte Stumpf sah gruselig und widerlich aus, aber Aurel mußte ihn doch immer wieder genau betrachten.
Am liebsten aber hatte er den Gartenjungen Janz, der im Winter die vielen Öfen heizte und die Wassereimer an der über die Schulter gelegte Stange vom Ziehbrunnen zur großen Tonne trug, die im Küchenflur stand. Immer schleppte Janz etwas: Holz oder Wasser. Immer rief man nach ihm, und immer war er auf den Beinen. Trotzdem fand er Zeit, für Aurel Spielzeug zu schnitzen: eine kleine Schaufel, einen Schlitten, ein Boot. Wenn Aurel etwas wollte, dann ging er zu Janz. Und Janz tat alles, was der kleine Herr befahl. Einmal steckte er sogar seine Hand ins offene Herdfeuer, nur weil Aurel wissen wollte, ob es auch wirklich heiß sei. Ja, es war heiß. Die Haut war sogar ein wenig angebrannt. Janz lächelte, als er die Stelle zeigte. Aber Aurel fing an zu weinen. Er wußte es selbst nicht, warum.
Auch wenn die Mägde in der Dämmerung beim Spinnen oder Flicken sangen, oder wenn Mickel mit seinem abgeschossenen Daumen auf der Ziehharmonika spielte, stiegen dem Jungen die Tränen auf, aber er mußte trotzdem zuhören.
Hier in der verräucherten, dunstigen Gesindestube fühlte er etwas, was ihm in den stillen, hellen Herrenhausräumen fehlte: derbes, ursprüngliches Leben. Aber zugleich fühlte er, daß er von diesem Leben ausgeschlossen war, daß er hier immer ein Fremder, ein
Nichtdazugehöriger bleiben würde. Sogar der alte Marz nannte ihn „Jungherr“, und Minna, die Wäscherin, küßte ihm jedesmal die Hand, wie alle Dienstboten der Mutter die Hand küßten.
Nein, er gehörte nicht in die Gesindestube, etwas stand zwischen ihm und diesen Leuten, etwas, was er nicht begriff und doch spürte, wie eine gläserne Wand, die ihn von allem abschloß. So sehr er sich auch bemühte, das Glas zu durchbrechen – er blieb doch immer draußen, und selbst wenn er Janz’ verbrannte Hand hielt oder Mickels Daumenstumpf befühlte, war etwas Fremdes zwischen seiner und ihrer Haut, ein unüberbrückbarer Abgrund.
Wie beneidete er alle diese Menschen, die so unbekümmert schwatzten und Späße machten, die schmatzend, mit aufgestützten Ellbogen, den Kaffee schlürften und sich mit Butter gemischten Quark auf die dicken Schwarzbrotschnitten schmieren durften. Drinnen im Speisezimmer gab es nur Butter. Und wieviel besser schmeckte dieser weiße, körnige Quark! Mila gab ihm davon, außerdem hatte sie immer in ihrer tiefen Schürzentasche süße klebrige Bonbons oder braune gebrannte Zuckerstangen, an denen man lange lutschen konnte.
Nein, Mila war nicht fremd, sie gehörte zu ihm, wenn sie auch hier in der Gesindestube aß. Und nur durch Mila fühlte er dunkel sich mit allen diesen Leuten verbunden, wenn sie ihm auch im Innersten verschlossen blieben. Es gab eben zwei Welten: die eine war still, mit bunten Dielenläufern, feiner Butter, Flüstern, gedämpften Schritten. Und die andere war laut, mit Quark und Gelächter und weißem Sand auf dem Fußboden. Diesen weißen Sand, der so schön unter den Schuhen knirschte, liebte Aurel besonders.
Aber Quark und Sand blieben immer draußen hinter der Backstube. Dieser Raum mit dem mächtigen Backofen und der hohen Mehltruhe, der gleich hinter dem Anrichtezimmer lag, trennte die beiden Welten voneinander. Hier knetete Liese, die alte Köchin, mit aufgekrempelten Ärmeln den Teig in einem gewaltigen Trog, hier roch es säuerlich nach frischgebackenem Grobbrot, nach lockerem Karrasch und klintschigem Süßsauerbrot, und hier gab es, gleich neben dem Ofen, ein geheimnisvolles dunkles Loch in der Mauer, mit furchtbaren Spinngeweben. Aurel gruselte sich vor diesem Loch, aber er mußte doch immer wieder hineinschauen. Manchmal saß eine fette, runde Spinne in ihrem Netz, und dann mußte Janz seinen Arm hineinstecken – ganz tief, bis zum Ellbogen, und das graue Spinngewebe herausholen. Aber die Spinne selbst blieb immer in ihrem Versteck.
In der Backstube standen auch die vielen Wasserstiefel vom Vater und den Brüdern, und Aurel sah zu, wenn Janz das weiße Schweinefett mit den Fingern in das schwarze Leder hineinrieb. Hier putzte auch Janz Vaters alte Schrotflinte mit einem geölten Hedepfropfen, den er mit einem Stock durch die Läufe stieß. Wenn Janz die