Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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wieder das weiße Kopftuch, „ich darf nicht hier liegen. Dieser Kirchhof ist nur für die Herrschaft, für die Großherren und Großfrauen, nicht für unsereinen. Wir werden auf dem Gemeindefriedhof begraben – da ist es enger, aber man ist auch näher beisammen. Und die Erde ist leicht: kein Stein liegt darauf, nur viele Blumen. Darum kommen wir immer wieder, und darum sind wir mehr als ihr. Ihr werdet immer weniger, und wir werden immer mehr!“

      „Dann will ich bei dir unter den Blumen liegen!“ erklärte Aurel und griff nach Milas Hand.

      „Das geht nicht“, sagte Mila mit einem traurigen Lächeln und schloß die weiße Kirchhofspforte. „Das schickt sich nicht für einen Jungherrn!“

      Wieder war die gläserne Wand da: so dick wie eine Kirchhofsmauer und so hoch wie diese hölzerne Pforte. Auch wenn man tot war, konnte man nie hinüber.

      „Hier hast du es ja auch viel schöner“, suchte Mila ihn zu trösten. „Unsere Toten liegen so dicht nebeneinander, daß sie sich gar nicht in den Gräbern bewegen können!“

      „Und warum liegen sie so dicht beisammen?“ fragte Aurel weiter. Sie gingen jetzt auf dem Feldweg, der an der alten Windmühle vorbei zum Hofe führte.

      Mila blieb auf der kleinen Anhöhe neben der Mühle stehen. Die großen grauen Windflügel standen still, ein dunkles Kreuz gegen den hellen Sommerhimmel. Dann sagte Mila ernst:

      „Weil wir so wenig Erde haben!“

      Aurel begriff das nicht: gibt es nicht genug Erde – überall Erde, so weit man sehen kann? Verwundert fragte er:

      „Warum nehmt ihr dann nicht die Erde, die ihr braucht?“

      „Nein, das geht nicht“, erklärte Mila, „weil die Erde deinem Vater gehört!“

      „Die ganze Erde?“

      „Nicht die ganze, aber so weit du sehen kannst und noch weiter. Und wo die Grenze von Blumbergshof aufhört, da fängt ein anderes Gut an, das einem anderen Herrn gehört. Denn die Erde gehört nur den Herren, wie der Himmel nur Gott gehört. Das ist nun einmal so eingerichtet.“

      Aurel hob sich auf den Zehenspitzen, aber das war ihm nicht hoch genug: Mila mußte ihn auf ihre Arme nehmen. Von hier aus konnte er das weite Land übersehen, das im grellen Licht der schon tief geneigten Sonne dalag. Er streckte den kleinen Arm aus und beschrieb einen Bogen durch die Luft:

      „Die ganze Wiese bis zum Wald – gehört die Papa?“

      Mila nickte mit dem Kopf:

      „Ja, das alles gehört dem Großherrn. Und der Wald auch!“

      „Und dort“, Aurel wies auf die andere Seite, „alle diese Felder, die Allee und der Krug – gehört das alles ganz allein Papa?“

      „Ja“, bestätigte Mila, „alle Felder und auch die Heuschläge und Wälder hinter dem Krug – alles gehört dem Großherrn!“

      Aurel schwieg überwältigt. Der Vater erschien ihm fast so groß wie der liebe Gott.

      „Und das alles“, fuhr Mila fort, indem sie den Jungen wieder auf die Erde setzte, „wird einmal den großen Brüdern und dir gehören!“

      „Dann nehm’ ich den Kleinen Wald“, erklärte Aurel eifrig, als sie weitergingen, „und bau’ dir ein Haus, und dann haben wir genug Erde, damit wir zusammen begraben werden!“

      Auf dem Viehweg, der von der Landstraße zum Hofe führte, kam ihnen die Herde entgegen. Eine rosa Staubwolke, durch die schräge Sonnenstrahlen fielen, zog hinter der Herde her, die jetzt zu den Ställen einbog. Die braunen und schwarzweiß gefleckten Leiber der Kühe schaukelten, die Hörner wiegten sich, eine schwarze Kuh ging an der Spitze.

      „Das bedeutet Unglück!“ meinte Mila ärgerlich. „Warum läßt der Pakalneek die Schwarze an der Spitze gehen?“

      „Was für ein Unglück?“ fragte Aurel erschrocken.

      „Irgendeins“, sagte Mila und blieb am schrägen Bretterzaun stehen, „Unwetter, Feuerschaden oder Tod!“

      Jetzt trappelten die Schafe, dichtgedrängt, eine weiche, wollige Masse, blökend mit langen, schwappenden Ohren vorüber. Pakalneek, der alte Hirt, mit zerrissenem, tief über das Gesicht hängendem Strohhut und bloßen Füßen, schlurfte, eine Rute in der Hand, hintendrein. Aber gleich hatte auch ihn die dicke Staubwolke verschluckt.

      „Und die Kühe und Schafe – gehören auch die alle Papa?“ fragte Aurel.

      „Ja, auch alle Kühe und Schafe und alle Pferde und alle Schweine und alle Hühner und Enten und alle Häuser!“

      Sie kamen jetzt am Knechtshaus vorbei, einem roten, kahlen Ziegelsteinbau mit kleinen schwarzen Fensterhöhlen. Vor der Tür, im Staube, wälzten sich halbnackte Kinder in braunen Lumpen. Eine alte Frau humpelte über die Schwelle, bückte sich tief und griff nach Aurels Hand. Er wich ängstlich zurück, aber schon fühlte er den harten, zahnlosen Mund auf der Haut und hörte das unheimliche Zauberwort „Jungherr“, das ihn kalt, wie etwas Feindliches, anwehte.

      Aber dann öffnete sich die Gartenpforte, die dichten Johannisbeersträucher und die niedrigen Apfelbäume nahmen ihn schützend auf; von den Blumenrabatten vor der Gartenveranda dufteten Levkojen und Reseda, und oben auf der hölzernen Treppe, neben dem Geländer, stand die Mutter, beugte sich nieder, breitete die Arme aus und drückte den Jungen an ihr Herz.

      Nun war alles wieder gut, alle Fragen, alle dunkle Unruhe verstummt. Die Toten lagen auf dem Kirchhof, aber der Kirchhof war weit. Und die Knechtskinder wälzten sich in dickem Staub – aber das Knechtshaus war tief unten, hinter dem Gartenzaun. Die Welt war wieder schön, und dies hier war die Welt: das Haus mit den weißen Säulen, den blühenden Oleandern, den hohen schlanken Lebensbäumen, die sich, eine grüne Mauer, schützend auf der Gartenseite erhoben. Und alles, alles gehörte Papa.

      Der Vater wurde ihm dadurch noch rätselhafter, noch fremder. Auch wenn er jetzt oft auf der Veranda saß, im Korbstuhl, die lange Pfeife zwischen den Knien, und über den runden Rasenplatz in den dunklen Schlauch der Allee blickte, an deren Ende, unter den tief herunterhängenden Lindenzweigen, der rote Ziegelsteinfleck des Kruges schimmerte. Von hier aus konnte man auch den Wirtschaftsweg übersehen, der hinter einer dünnen Blättergardine junger Laubbäume quer über den Hof führte, so daß jedes Gefährt und jeder, der vorüberging, wie vor einer Linse die runde Einfahrt der Allee überqueren mußte. Und weiter zwischen einigen Lücken dieser „Gardine“ schimmerte sogar die alte Landstraße durch, die am Kruge vorbeizog.

      Dies war der Lieblingsplatz des Vaters; von hier aus konnte er beobachten, wer zum Verwalterhaus, wer zu den Ställen, wer zur Klete ging, wer zum Kornmagazin und wer zur Mühle fuhr. Hier sah man den Postboten oder den Fleischer in ihren klappernden Wägelchen vom Krug her durch die Allee zuckeln, die sonst nur von herrschaftlichen Equipagen benutzt werden durfte. Aber der Postbote kam nur zweimal in der Woche und der Fleischer noch seltener, so daß der Weg zwischen den Wagenspuren vergraste.

      Kam ein Knecht oder der Viehpfleger oder der Verwalter an der Alleeöffnung vorbei, so blieb er stehen, zog tief den Hut und ging erst weiter, wenn der Vater den Gruß mit einem Kopfnicken oder einem Wort erwidert hatte. Ja, einmal hatte Aurel sogar gesehen, wie zwei uralte Bäuerchen vor dem Vater auf der Veranda in die Knie gefallen, auf den Knien bis zu ihm gerutscht waren und kniend seine Hand geküßt hatten. Der Vater war wirklich fast wie der liebe Gott und auch wie Gott oft lange unsichtbar. Manchmal war er ganz verschwunden, irgendwo auf den Nachbargütern oder in der Stadt.

      Und dann geschah es, daß an einem heißen Sommertage alle Polstermöbel, Kissen, Matratzen, Heusäcke und Decken auf den runden Rasenplatz wanderten und hier ein ohrenbetäubendes Klopfen begann. Die schwarze Tina, Karlin, Janz, sogar Minna, die alte Waschfrau, liefen aufgeregt hin und her, schüttelten die Matratzen, trugen Lehnstühle, Sofas, Couchetten, klapperten und klopften. Auch Karlomchen und die Mutter griffen zu, schleppten die Pelze, die Jagdmuffen und Fußsäcke aus den Truhen, hingen die Bären- und Elchfelle auf dem Geländer der Veranda auf.

      Die großen