Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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verlangte Erklärung ‚Ich bin ein Russe‘ niederzuschreiben, und bin deshalb den größten Schikanen und erbittertsten Verfolgungen von Seiten des russischen Lehrerpersonals ausgesetzt gewesen, ebenso auf der Universität. Während des Krieges habe ich mich am großen deutsch-baltischen Liebeswerk für die deutschen Kriegsgefangenen, das von der russischen Regierung streng verboten war, beteiligt und habe unter Lebensgefahr Briefe der aus Ostpreußen nach Sibirien verschleppten deutschen Zivilgefangenen über die Grenze in die Deutsche Gesandtschaft nach Stockholm gebracht […] und bin dann im Sommer 1917 nur in Folge monatelanger, durch die Berliner Unterernährung mir zugezogener schwerer Krankheit daran verhindert worden, als Freiwilliger die Ostoffensive mitzumachen“ (Schreiben vom 27. 4. 1923 an Dr. Hock).

      Auch sonst ist sein Leben im Bayerischen Wald keineswegs idyllisch. Als Kleinstlandwirt und Selbstversorger muß er sich um Haus und Stall, Wiesen und Felder kümmern: „Und im Winter, wenn es nur Holz zu hacken gab“, erzählt er, „fing ich an zu schreiben.“ Der Dreißigjährige entscheidet sich für ein Leben als freier Schriftsteller. Niemals habe er „wegen des Geldes oder der Pension“ einen Beruf ergreifen wollen, bekennt er 1968 in einem Interview: „Wenn man mir so etwas anbieten würde – ich komme ja auch ab und zu in solche Käfige, in denen Menschen arbeiten, in Büros –, dann würde ich ablehnen.“ Seine Devise lautet: „Lieber ein hungriger Wolf sein als ein fetter Kettenhund.“

      Anfangs leben die Ehepartner vor allem von ihren Übersetzungen: Aus dem Russischen überträgt der Sprachbegabte vor allem Gogol, Nabokow und Turgenjew, daneben u.a. Gedichte August Strindbergs aus dem Schwedischen, das er von seiner Frau gelernt hat. Immer wird er ein Leben der Bedürfnislosigkeit, längere Strecken hindurch gar der Armut führen. Als ihm nach seinem Theatererfolg ein Kölner Zeitungsverlag das hochdotierte und angesehene Amt des Chefredakteurs anbietet, lehnt er ab – er zieht die Freiheit seiner ‚Waldeinsamkeit‘ vor.

      Als Aussteiger wird Vegesack bezeichnet, als Naturapostel, und bisweilen auch als weltfremder Eremit. Mit dieser Perspektive kokettiert der Dichter in seinem Lyrikband „Die kleine Welt vom Turm gesehen“ (1925). „Hab keinen Kalender und keine Uhr, / keine Zeitung dringt in mein Haus. / Sonne und Mond und Sterne nur / kommen und gehen tagein und tagaus“ – so beginnt das „Lied des Zeitlosen“, das er besonders liebte und immer wieder vortrug. Weitere Gedichtbände mit lyrisch-idyllischen und humoristischironischen Versen und Lebensweisheiten in der Nachfolge eines Morgenstern oder Ringelnatz werden folgen: so seine „Kleine Hausapotheke“ (1944), „Schnüllermann sieht das Leben heiter an“ und „In dem Lande der Pygmäen“ (beide 1953). Letzteres, ein Reich reiner Menschlichkeit und voller „Liebes-Lauben“, wo nicht die Keulen der „großen Schlag-Worte“, „sondern nur die Sag-Worte“ etwas zu sagen haben, läßt Vegesack in die Traumgefilde glückseliger Inseln entschweben und Thomas Mann ausrufen: „Das ist ja ein erstrebenswertes Land, Ihr Land der Pygmäen! O, wüßt ich nur den Weg dahin, drei Tage wollt ich wandern.“ – Auch mit Unterhaltungsromanen nach dem Vorbild seiner Frau wie „Liebe am laufenden Band“ (1929) und mit Kinderbüchern wie „Spitzpudeldachs“, seinen „Tiergeschichten aus dem Bayerischen Wald“, die er sich zusammen mit seinem 1923 geborenen Sohn Gotthard in den Sommerferien 1936 an der Ostsee ausdenkt, macht er sich einen Namen.

      Vegesacks Wahlheimat ist in den zwanziger Jahren noch nicht an das Stromnetz angeschlossen. Der Familienvater indessen will seinen Strom selbst produzieren – was bei den Weißensteinern auf wenig Verständnis, noch weniger auf Unterstützung stößt. Um seinen Traum zu verwirklichen, stürzt sich der Dichter in exorbitante Schulden: 1924 kommt es zum Bau des legendären Windkraftwerkes. Seine Burg wird zum Modell einer autarken Aussteigerexistenz.

      Doch die Renovierungsarbeiten nehmen kein Ende. Viele Künstlerfreunde sind bei dem so gar nicht antiquierten Adligen zu Gast, darunter Werner Bergengruen, Hans Carossa, Erich Mühsam, Ina Seidl, Reinhard Koeppel, Max Unold und immer wieder Alfred Kubin. Einer von ihnen, der Schriftsteller und SDR-Redakteur Werner Illing, beschreibt die in der damaligen Mühsal liegende Herausforderung, die Vegesack zum ernsthaften Romanautor macht: „Der Kampf mit dem Haus begann, er dauerte viele Jahre, bis endlich der Dichter den Turm dadurch in die Knie zwang, daß er ihn selbst zum Gegenstand eines literarischen Vorwurfs machte: das fressende Haus wurde zum Roman, zum ersten Roman, den Siegfried von Vegesack schrieb. Und weil der Roman erfolgreich war, half er die Löcher stopfen, die das Haus in den mageren Geldsäckel des Dichters gefressen hatte.“

      Verherrlicht hat er das Aussteigerdasein nicht: In seinem Roman „Das fressende Haus“ (1932) erzählt er von einem baltischen Emigranten, der einen alten Turm im Bayerischen Wald erwirbt, jedoch in allen weiteren Unternehmungen scheitert. Als er alles Erworbene, sogar die geliebte Frau im Kindbett verliert, begreift Kai von Torklus, daß man nur das, „was man im Herzen bewahrt, wirklich besitzt“ – die für Vegesack vielleicht grundlegendste Erkenntnis. Sechs Verlage, darunter ein englischer (1936), werden das neben seiner baltischen Trilogie erfolgreichste Werk immer wieder auflegen, zuletzt 1978. – Isabel, Vegesacks Tochter, ist bereits 18 Jahre alt und gerade auf einer Italienreise unterwegs, als ihr der Vater im November 1935 folgenden Lagebericht aus Weißenstein gibt: „Hier gibt es ja schließlich auch einiges Schöne zu sehen, was es auf Capri bestimmt nicht gibt: dicker Dreck, Nebel, Regen. […] der Tee ist gefroren, man muß die Kruste mit dem Löffel durchschlagen, und das Wasser in der Waschschüssel ist gefroren, und die Zahnbürste hat Rauhreif, und die Handtücher sind wie aus Blech, und von der Decke rieselt der Kalk, manchmal fliegen einem auch angefaulte Asseln und klebrige Herbstfliegen auf den Kopf, auch Spinnen, und es zieht durch das ganze Haus, weil die Türen nicht zugehen oder kaputt sind, und auch die Fensterscheiben sind kaputt, und die Fensterstöcke angefault, und der Fußboden bricht überall ein, man bleibt mit dem Fuß zwischen den Brettern stecken, und das Treppengeländer wackelt, und wenn man im Dunkeln hinaufgeht, knallt man mit dem Knie gegen den Treppenabsatz, und wenn man anknipst, brennt das Licht nicht, weil es ausgeschaltet ist, und wenn es eingeschaltet ist, geht die Sicherung durch, und wenn die Sicherung durch ist, dann wird so lange herumprobiert, bis es Kurzschluß gibt und überhaupt keine Lampe brennt, und dann sitzt man im Dunkeln, d.h., wenn man sitzen kann und nicht vom Wind, der von unten weht, fortgeblasen wird.“

      Erst 1966, fast ein halbes Jahrhundert, nachdem er den Turm bezogen hat, wird er einem Bekannten melden können: „Der Turm ist jetzt warm, in allen Stockwerken warmes Wasser!“ Der Name –„fressendes Haus“ – ist geblieben: Heute zählt es zu den kulturellen Sehenswürdigkeiten der Stadt Regen; neben dem Vegesack-Nachlaß beherbergt es im Erdgeschoß die Dichterstube als Erinnerung an das Schriftstellerpaar.

      Es ist der mit ihm eng befreundete Zeichner Alfred Kubin, der ihn ermutigt, seine Erinnerungen an die baltische Heimat niederzuschreiben. Sein Hauptwerk, „Die Baltische Tragödie“, wird daraus entstehen, die mit der 33. Auflage im Jahr 1981 über 157.000 Exemplare erreicht. Siegfried von Vegesack wird zum Gestalter der baltendeutschen Lebenswende, zum „Historienmaler unter den Autoren der baltischen Welt“, so Wolfgang Schwarz in seinem Nachruf. Und der schöpferische Impuls entlädt sich wie ein Sturzbach. Als er am 12. März 1933 einige Tage in „Schutzhaft“ genommen wird, weil er die Hakenkreuzfahne, die „eine Horde von braunen Uniformen aus Regen“ auf dem Turm der Weißensteinschen Burgruine gehißt hatte, wieder herunterholen ließ, schreibt er in der Gefängniszelle „ungestört“ und „in aller Ruhe“, wie er lakonisch bemerkt, den ersten Teil der Trilogie zu Ende. In nur 43 Tagen hat er den Roman „Blumbergshof“ fertiggestellt.

      „Das Buch lebt aus der Ursprungs- und Heimatwelt seines Dichters. Sorgfältig umhegt und doch schon Vergänglichkeitsschauern ausgesetzt, wächst ein verträumter Junge heran im ländlichen Herrenleben des Vorkriegsbaltikums, inmitten einer großen, von prachtvollen schrulligen Originalen durchsetzten Verwandtschaft“ – so umreißt Werner Bergengruen den Auftakt zur „Baltischen Tragödie“. Wie der Mittelteil ist er weitgehend autobiographisch geschrieben – Blumbergshof und Altschwanensee sind die Orte seiner Kindheit, und auch der Autor selbst träumte dort von einem Studium der Musik und war unglücklich in eine Kusine verliebt, bis er Clara Nordström kennenlernte. Die Welt seines Alter Egos Aurel ist die patriarchalische Welt der dünnen deutschen Oberschicht, und schon bald wird sich der kleine Protagonist bewußt, daß ihn eine „gläserne Wand“ von den lettischen