Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
In der Kirche ist es eiskalt. Der Atem steigt wie Dampf aus den Mündern. Man muß mit den Füßen hin und her treten, damit die Zehen nicht erfrieren. Der Pastor steht in einem langen schwarzen Nachthemd zwischen zwei brennenden Weihnachtsbäumen – warum zieht er sich nicht wärmer an? Und dann poltert, quiekt und dudelt es hoch oben in der Luft – aber man kann den großen Leierkasten gar nicht sehen. Und alles fängt an zu singen. Wieder laufen die Eiskugeln über den Rücken, wieder steigt es heiß in die Augen auf, die Lichterbäume fangen an zu schwimmen, aber Aurel starrt immer auf das schwarze Nachthemd, es ist so breit und groß: vielleicht hat er darunter einen Pelz an? Dann schielt er zum Vater hinüber. Der sitzt so ernst und feierlich da, die rote Fuchsfellmütze in der Hand – nein, lachen wird er nicht.
Ein Mann mit einem langen Stock, an dem ein Schmetterlingsnetz hängt, geht von Reihe zu Reihe, und jeder wirft etwas hinein. Die Mutter drückt Aurel ein silbernes Zehnkopekenstück in die Hand, und er wirft es in den Beutel. Endlich kann man nach Hause fahren. Es ist schon dunkel, an jedem Schlitten brennt eine Laterne. Dickverschneite Tannenzweige tauchen im Lichtschein auf und verschwinden wieder in der Finsternis. Die Schellen klimpern.
Zu Hause gibt es heiße Schokolade mit Schmantschaum und gelbes, noch ganz feuchtwarmes Safranbrot mit Rosinen und Mandeln.
Dann werden die Kinder im Lesezimmer eingesperrt. Hier ist es ganz dunkel. Nur die Ritze unter der Tür wird immer heller, und als es zum dritten Mal klingelt, geht sie auf. Aber es blendet so, daß man zuerst gar nichts sehen kann. Endlich hat jeder seinen Tisch gefunden, benommen steht man davor, betastet die vielen Sachen, stopft sich etwas Süßes in den Mund und besieht sich mit scheinbarem Interesse auch die Geschenke der anderen, damit diese den eigenen Tisch bewundern.
Dann geht alles in den Großen Korridor hinauf, wo der Leutebaum brennt, die Mägde und Knechtskinder mit buntem Kattun, Wollsocken, Fausthandschuhen, Pfeffernüssen und Knallbonbons beschert werden. Indrik, der Gärtner, taktiert, ein schriller, klagender Gesang heult durch das Haus. Dann drängt sich alles zum Händeküssen, aber Aurel läuft schnell vorher hinunter.
Noch flackern die Wachskerzen, aber hier und dort ist eine schon heruntergebrannt, man muß den Stummel auspusten. Der Vater bläst mit dem Pfeifenrohr die Lichter oben an der Spitze aus. Manchmal knistert ein kleiner Ast, und es riecht dann so gut nach den angebrannten Nadeln. Immer dunkler werden die Schatten der Tannenzweige an den Wänden und oben an der Decke. Zuletzt brennt nur noch eine Kerze tief verborgen am Stamm – „das ist Schwesterchens Licht“, sagt die Mutter leise, „jetzt ist sie bei uns, und jetzt wollen wir an sie denken.“
Alle müssen schweigen, es ist so still, daß man das Flackern der unsichtbaren kleinen Flamme hört. Aurel blickt zur Decke hinauf, die schon fast ganz von schwarzen Astschatten verdunkelt ist, nur hier und dort schimmert ein schwacher Lichtschein durch. Es ist, als wüchse oben der Schattenbaum immer dichter und dunkler zusammen, als kämpfe das kleine Licht gegen die große Finsternis. Und dann erlischt es.
Karlomchen zündet die Lampe an.
Der Vater ist aufgestanden, klopft an das Barometer und sagt:
„Es klärt sich auf, morgen fahren wir auf die Hasenjagd!“
„Aber ich bitte dich“, sagt die Mutter, „morgen kommen doch die Koiküllschen Cousinen zu Mittag!“
„Um so besser“, meint der Vater schmunzelnd, „ich habe sie nicht eingeladen!“
„Aber ich mußte es doch tun“, seufzt die Mutter, „und dann hat man ein Jahr wieder Ruhe!“
Diese Koiküllschen Cousinen sind immer zu Weihnachten fällig, und wenn sie fort fahren, hat die Mutter Kopfschmerzen und muß sich ins Bett legen.
„Nein“, stöhnt sie dann und preßt ein Taschentuch mit Eau de Cologne an die Schläfe, „wenn man sich mit Ameli unterhält, dann denkt man: Adele ist doch klüger; und wenn man mit Adele spricht: Nein, Ameli ist doch klüger!“
„Sind beide so klug?“ fragt Aurel verwundert.
„Nein, klug sind sie nicht“, seufzt die Mutter.
Und wirklich: der Vater mit den großen Brüdern fährt auf die Jagd, und die Koiküllschen Cousinen kommen. Natürlich schon eine Stunde vor dem Mittagessen, aber es dauert lange, bis sie sich im Vorzimmer aus den Pelzpelerinen, den vielen Unterjacken, Schals, Seelenwärmern und Mantillen herauswickeln, die dicken Filzschuhe ausziehen, die hohen Frisuren zurechtmachen und die feuchten, erfrorenen roten Nasenspitzen abwischen. Aber die grauen Pulswärmer behalten sie an, trotzdem haben sie immer kalte und rauhe Hände. Aurel küßt sie ungern, und die großen Brüder küssen dann immer den eigenen Daumen.
„Bist du aber gewachsen“, sagt Ameli. Und Adele bückt sich und hält die Hand ganz tief über den Fußboden: „So klein warst du – da habe ich dich schon gesehen!“
Dann stehen beide vor dem Weihnachtsbaum, falten die Hände und machen einen schiefen Kopf.
„Nein, habt ihr einen wonnigen Baum“, sagt Ameli, „und was für einen wonnigen Engel!“
„Einen solchen Baum können wir uns nicht leisten“, seufzt Adele, „aber wir haben ja auch keine Kinder!“
Als man sich zu Tisch setzt, sagt die Mutter entschuldigend: „Onkel ist mit den Jungen auf der Jagd – da kann er sich leicht verspäten!“
„So, auch am Feiertag auf der Jagd?“ sagt Ameli spitz.
Adele schüttelt die Frisur:
„Und bei der Kälte mit den Kindern – ist das nicht der reine Leichtsinn?“
Nach dem Essen sitzt man im Saal. Karlomchen, Fömarie, Herr Ackermann – alle versuchen abwechselnd der Mutter beizustehen, aber die Unterhaltung kommt nicht in Gang.
„Ich fürchte, es wird schon dunkel“, sagt endlich die Mutter, „ihr habt einen weiten Weg!“
„Wir haben eine Laterne!“ sagt Ameli unerschüttert, „wir wollen doch Onkel begrüßen!“
Aber der Vater erscheint nicht. Er ist schon längst nach Hause gekommen – Aurel hat die Schlitten gehört –, und auch die großen Brüder haben sich verkrochen und kommen nicht herunter.
Endlich meldet die schwarze Tina: der Kutscher sei vorgefahren.
„Unser Kutscher?“ fragt Adele überrascht.
„Wahrscheinlich hat er die Pferde schon angespannt“, meint die Mutter, „und jetzt frieren sie!“
„Die armen Kinder, hoffentlich ist ihnen nichts zugestoßen“, seufzt Ameli besorgt. „Kann man denn auch im Dunkeln Hasen schießen?“
Als die Koiküllschen Cousinen fort sind, öffnet sich die Lesezimmertür. Der Vater steht schmunzelnd auf der Schwelle, die lange Pfeife in der Hand.
„Bist du denn schon zu Hause?“ fragt die Mutter verwundert. „Schade, jetzt sind sie fort!“
„Weil ich die Pferde anspannen ließ!“ lacht der Vater und schließt wieder die Tür.
Auch der Pastor kommt mit der Pastorin; er hat jetzt kein schwarzes Nachthemd an, und sie trägt ein blaues Samtkleid mit weißem Spitzenkragen. Aber dafür hat er eine schwarze Halsbinde, und manchmal gucken die Enden hinten am Nacken heraus. Seine Augen sind hinter der Brille tief in den Kopf gesunken, und niemals lacht er.
Ganz anders ist Doktor Martinell, mit der goldenen Kette über dem weißen Bauch. Immer tänzelt er, die langen Bratenrockschöße flattern um ihn herum, immer ist er begeistert, immer