Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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den Polsterstühlen und Kissen und schleppen das Schaukelpferd hinaus. Wie sonderbar so ein Sofa, so eine Couchette auf dem Grase aussah – aber das waren dann gar keine Möbel mehr, das waren Ozeandampfer, Eisenbahnen, Karossen. Und der Rasenplatz war die Welt: rund und ohne Grenzen.

      Wie die Mittagssonne schmorte, wie die Luft flimmerte, wie tief im blauen Himmel die weißen Sommerwolken schwammen! Waldi, die alte Jagdhündin, lag mit herausgestreckter Zunge auf der Verandastufe, Sagrei auf dem Rasen, und Schamyl hatte sich unter dem Sofa verkrochen. Sogar die Schmetterlinge flatterten nur träge in der Luft, und zwei waren zusammengewachsen und konnten überhaupt kaum noch fliegen. Sollte man sie nicht auseinandernehmen? Aber die schwarze Tina lachte nur: sie fand das komisch. Und die Mutter sagte ernst: „Laß sie nur, wie sie sind.“ Das Schmetterlingspärchen taumelte weiter.

      Wie es von der Lindenlaube her duftete und summte! Die dunklen Kronen der uralten Bäume ragten bis über den Giebel des silbergrauen Schindeldaches. Alle waren ins Haus gegangen. Nur Aurel lag noch, versteckt zwischen Sofa und Stühlen, auf einer Matratze und blinzelte mit halb geschlossenen Augen in das flirrende Licht. Und dann schlief er ein.

      Karlomchen weckte ihn. Wie traurig besorgt sie ihn über die schiefgeneigten Brillengläser ansah, und wie sonderbar ihre Stimme klang. Er sollte gleich zur Mutter kommen.

      Auf der Veranda begegnete er der schwarzen Tina. Sie hielt den Klopfer in der Hand und hatte so erschrockene Augen. Im Schlafzimmer war es dunkel und kühl. Die grünen Fenstervorhänge waren zugezogen. Nur ein schmaler Lichtstreifen fiel schräg über den Fußboden bis zum Bett, in dem die Mutter, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, lag. Sie zog den Jungen an sich und strich mit der Hand über sein Haar. Dann sprach sie, aber ihre Stimme war so leise, daß Aurel nur das Summen der Fliegen hinter dem Fenstervorhang hörte. Und als endlich die Worte zu ihm drangen, konnte er sie nicht begreifen. Er starrte angestrengt auf seine nackten Beine, die über die Bettkante baumelten. Wenn er den einen Fuß ein wenig vorstreckte, berührte er mit den Zehen den kühlen Nachttisch. Und wenn er den großen Zeh etwas einbog, konnte er mit dem Nagel das glattpolierte Holz kratzen. Nein, er begriff nicht, was die Mutter da sagte, warum Mila jetzt fortgehen, ohne ihn fortgehen sollte.

      „Willst du denn gar nicht bei mir bleiben?“ fragte die Mutter traurig.

      „Ich bleibe bei dir und Mila“, erklärte er immer wieder.

      „Und wenn Mila fortgeht?“

      „Warum muß Mila fort?“

      Nein, das begriff er nicht. Noch weniger: er verstand überhaupt nicht den Sinn dieser Worte. Mila war ein Stück von ihm wie die Mutter. Konnte man ihn denn entzweischneiden, mittendurch in zwei Teile? Nein, das konnte man nicht. Wenn er hierblieb, dann blieb auch Mila hier. Die Mutter machte nur Spaß. Wie kühl das polierte Holz war, und wie schön der Nagel kratzen konnte, wenn man den großen Zeh zusammenzog.

      Aber dann führte Karlomchen den Jungen ins Spielzimmer, und hier stand Mila, das weiße Kopftuch und das rote, aufgequollene Gesicht, und sie hatte keine Schürze um, und statt der Sandalen trug sie richtige Stiefel. Sie sah so fremd aus, nur das Kopftuch war wie immer ein wenig auf die Seite gerutscht, aber jetzt fing es plötzlich an so merkwürdig zu zucken, beugte sich nieder – und dann sah Aurel nichts mehr. Er fühlte nur, wie etwas Heißes, Bebendes aufstieg, wie etwas Furchtbares, Unbegreifliches ihn schüttelte, die Kehle zusammenschnürte und endlich brennend wie fließendes Feuer in die Augen stürzte.

      Aber begriffen hatte er es noch immer nicht, auch nicht, als die Tür sich schloß, als er allein da stand, als Karlomchen kam und ihn schlafen legte. Er ließ alles ruhig mit sich geschehen. Die schwarze Tina wusch ihn, sie sollte diese Nacht bei ihm schlafen. Karlomchen brachte das Abendbrot, aber essen konnte er nicht. Dann betete sie wie immer mit ihm, auch die Mutter kam noch zum Gutenachtkuß. Minka sprang zwischen den Gitterstäben ins Bett, der Junge schlief ein.

      Mitten in der Nacht wachte er auf. Es war so merkwürdig dämmerhell im Zimmer, wie gedämpftes Mondlicht, nicht Tag, nicht Nacht. Alle Dinge konnte man sehen, aber alle Dinge waren hinter einem Schleier: der weiße Kachelofen, der Strohstuhl, Milas Bett. Aurel richtete den Kopf auf und starrte hinüber.

      „Mila!“ rief er.

      Aber keine Antwort kam, nur ein gleichmäßiges, tiefes Atmen. Er mußte zu ihr, er mußte sie wecken, er mußte sehen, daß alles ein böser Traum war, daß sie dalag und daß sie immer bei ihm bleiben würde.

      Leise erhob er sich aus der warmen Decke, kletterte vorsichtig über das Gitter, trippelte mit den bloßen Füßen über die kühlen Bohlenbretter und blieb vor Milas Bett stehen. Aber da war keine Mila. Ein fremder, im Schlaf zerwühlter Kopf lag dort auf dem Kissen mit offenem Mund.

      Aurel erstarrte. Lange stand er da wie gelähmt. Dann hatte er es begriffen: Mila war fort, und er war hier ohne Mila. Er wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Irgend etwas würgte seinen Hals. Nur mühsam konnte er den Kopf wenden wie damals, als der Schatten des Wolfsmenschen auf sein Bett fiel. Und plötzlich wußte er: der Wolfsmensch hatte Mila geholt. Und jetzt wollte er ihr Herz fressen. Er mußte zu ihr, er mußte sie retten, jetzt gleich, bevor es zu spät war. Er brauchte ja nur durch den Garten zu laufen, da wußte er unten ein Loch im Zaun, und dann über den Heuschlag, immer am Graben entlang, bis zum Großen Walde – wenn er dann rief, würde Mila ihn hören. Noch konnte der Wolfsmensch sie ja nicht weit fortgeschleppt haben. Aber er mußte sich beeilen.

      Leise kletterte Aurel auf den Strohstuhl und von dort auf das Fensterbrett. Jetzt saß er im Nachthemd auf dem harten Holz, hielt sich am Fensterhaken und tastete mit den nackten Beinen in die Tiefe. Wie kühl und feucht die Blätter des wilden Weines waren, der die Gartenseite des Hauses berankte. Und wie schwarz und schmal sich die Lebensbäume gegen den blaßgrünen Himmel abhoben.

      Vom Heuschlag stiegen weiße Nebel auf, und dahinter am Horizont zog sich ein langer roter Streifen über den schwarzen Wald. Eine Schnarrwachtel knarrte.

      Dorthin mußte er; wenn er den Fensterhaken losließ, kam er schon hinunter – tief konnte es ja nicht sein …

      „Aber Aurel!“

      Er fühlte sich von hinten umschlungen – Karlomchen hielt ihn und zog ihn ins Zimmer zurück. Dann lag er schluchzend im Bett.

      Die weiche, warme Dämmerung war hart und kalt geworden, die tiefe Geborgenheit war zerrissen.

      Vom offenen Fenster wehte kühl ein erstes schmerzliches Verlorensein.

       Das rote Bänkchen

      Fömarie heißt eigentlich Fräulein Marie, aber das ist zu lang, Aurel kann das Wort „Fräulein“ nicht aussprechen. Fömarie hat eine turmhohe Frisur mit Knotenzopf und unzähligen Spangen, runde, wasserhelle, immer erschrockene Augen und furchtbar viel Röcke, die man alle sehen kann, wenn sie in der Allee spazierengeht. Denn dann rafft sie die Röcke mit einem „Pagen“, einem schwarzen Gummiband, hoch, weil draußen doch Pfützen sein könnten:

      „Aurel, paß auf, da kommt eine Pfütze!“

      Und Fömarie macht mit hochgerafften Röcken einen gewaltigen Sprung.

      Ebenso fürchtete sie sich vor Fröschen, Kröten, Donner, Mäusen und Zugwind.

      „Mein Gott, es hat geraschelt“, sagt sie mitten in der Nacht und macht Licht. Oder: „Es donnert!“ – und hält sich beide Ohren zu. Oder: „Es zieht!“ – und schließt alle Fenster. Wenn Fömarie ausgeht, steckt sie sich und Aurel immer Wattepfropfen ins Ohr. Und dann wandern sie in der Allee: immer bis zum Krug und wieder zurück. Manchmal auch die „kleine Runde“: auf der Landstraße ein Stück und dann auf den Wirtschaftsweg heimwärts. Alles richtet sich nach dem Wind, und wenn man trotz aller Berechnungen den Wind ins Gesicht bekommt, darf man nicht sprechen und muß die Hand vor den Mund halten.

      Aber Aurel kann die Wattepfropfen nicht leiden: er zieht sie heimlich aus den Ohren heraus.

      „Mein Gott, wo sind deine Wattepfropfen?“

      „Herausgefallen.“