wenn etwas, das einmal verloren ist, für immer verloren bleibt. Je näher die Kolonne dem Hauptplatz kommt, desto schneller wird ihr Rhythmus. Bender spürt den Geruch von Verbranntem. Er tastet seinen Körper ab, aus Angst vor Flammen, dann sieht er eine Fackel, die einer von den Anführern in den ersten Reihen angezündet haben muss. Der Rauch füllt die Kolonne dort, wo am wenigsten Leute sind. Der Polizist kommt näher und zwingt den Mann mit der Fackel, diese zu löschen. Man hört Pfeiftöne und Geschrei. Der Polizist achtet nicht auf die Beschimpfungen. Das Stimmengewirr wird bald durch Pfeiftöne ersetzt. Von irgendwoher kommt ein Feuerzeug geflogen und fällt wenige Meter von Bender zu Boden. Die Explosion des Feuerzeugs übertönt die Stimme aus dem Megafon. Bender wird sich erst jetzt der Stimme bewusst, die die Kolonne schon die ganze Zeit begleitet hat. Die Stimme aus dem Megafon zerstört die Illusion eines friedlichen Nachmittags. Bender erkennt die Wörter Recht, muss, nehmen, Hände. Danach beginnt die Menge zu klatschen, und Bender verliert den Sinn des Satzes. Die Stimme aus dem Megafon macht weiter, sobald der Applaus verstummt. Jemand neben Bender erwähnt den Tod. Bender schaut in die Richtung, aus der das Wort gekommen ist. Er sieht eine Gruppe von Frauen. Eine von ihnen hat einen Strumpf über das Gesicht gezogen. Sie würde erschreckend aussehen, wäre da nicht ihr rundlicher Körper, der ihr ein träges Aussehen verleiht, so dass sie nicht bedrohlich wirkt. Bender stellt sich auf die Zehenspitzen eines Fußes und versucht zu sehen, was vorne geschieht. Das ist nicht die Richtung, in die er gehen wollte. Er will die Kolonne ausnützen, um bis zu dem Spielwarengeschäft am Ende der Straße zu kommen. Dann wird er rechtzeitig die Demonstration verlassen und seines Weges gehen. Er geht weiter. Jemand schubst ihn und gibt ihm ein Zeichen, dass er sich beeilen muss. Er versucht, seinen Rhythmus zu halten. Der Schmerz im Fuß zwingt Bender zu humpeln. Er ignoriert den Schmerz. Er konzentriert sich auf den Punkt, wo die Menge am dünnsten ist. Er sucht nach dem Loch, durch das er schlüpfen kann, um seinen Weg fortzusetzen. Ein Stein, den jemand auf die Kolonne wirft, trifft ihn fast an der Schulter. Er versucht, sich auf beide Zehenspitzen zu erheben, aber der Schmerz hindert ihn daran. Vorne scheint sich etwas zusammenzubrauen. Bender hüpft auf einem Bein herum. Er wiederholt den Sprung so viele Male, wie nötig ist, um zu sehen und zu begreifen, dass die Kolonne auf eine Mauer von Polizisten zusteuert, die nicht so aussehen, als würden sie die Demonstrierenden durchlassen. Sobald die Demonstrierenden die Polizisten sehen, schreien sie lauter und werfen Parolen wie Gummigeschosse. Bender versteht, ein Zusammenstoß mit der Polizei ist unvermeidlich. Dieser Zusammenstoß zwischen dem Gefühl der Ungerechtigkeit auf der einen Seite und dem Befehl auf der anderen Seite könnte Narben an der Zeit hinterlassen. Bender versucht, seine Panik vor dem offensichtlichen, aber unklaren Befehl, dem die Kolonne sich nähert, in den Griff zu bekommen. Er weiß nicht genau, wie er sich verhalten soll, falls er mitten im Konflikt landet. Als die Demonstration sich dem Polizeikordon nähert, wird es auf einmal still, und für einen Augenblick kann man keine einzige Stimme mehr hören. Bender hebt den Kopf und sieht in einem Fenster in der Ferne eine menschliche Figur, die reglos dasteht. Bender stellt fest, für diese Person am Fenster muss all das hier wie eine Massenszene in einem Film aussehen, in der es absolut egal ist, wogegen die Menschen in der Kolonne eigentlich aufbegehren. Die Person am Fenster verschwindet, kehrt aber dann mit einem Fotoapparat zurück und richtet diesen auf das leere, angespannte Feld zwischen Demonstration und Polizeimauer. Ein Hund taucht zufällig dort auf und läuft umher, wobei er mit dem Schwanz wedelt und zuerst die eine, dann die andere Seite beobachtet. Aus den hinteren Reihen kommt wieder Lärm. Statt Worte wirft jemand einen Stein auf den Polizeikordon. Nun vermag nichts mehr die Köpfe aufzuhalten, die schneller sind als die Körper und auf die Polizeischilde zulaufen. Vom Fenster aus betrachtet, muss der große Körper der Masse müde und unwichtig aussehen. Der Mensch am Fenster hält mehrmals die Kamera ans Auge, zieht sich dann in die Dunkelheit seiner Wohnung zurück und schließt das Fenster. Das geschlossene Fenster ruft bei Bender das Gefühl hervor, dass es keinen Ausweg gibt. Er hört einen dumpfen Schlag, Faust gegen Kopf. Die ersten Reihen der Demonstranten mischen sich unter die Polizisten. Der Durchbruch sorgt für Schweigen in der Menge. Dann schreit jemand eine Parole, die sich wie Tränengas ausbreitet. Die Augen füllen sich mit Tränen. Eine Frau beginnt zu schreien. Ein Mann neben Bender reißt die Arme in die Höhe, als wäre er bereit, einen Schuss ins Herz aufzunehmen. Für Bender scheint die Geste des Mannes erschütternd. Bender versucht, eine Stelle zu finden, von der aus er sich aus der Masse entfernen kann, die ihn für einen Gleichgesinnten hält. Als Menschenrechte erwähnt werden, bricht eine Frau mit einer Zigarette in der Hand in Tränen aus. Bender geht zum Ende der Kolonne, in die Gegenrichtung der Demonstration. Er schlägt sich mit Hilfe seiner Schultern durch. Er bekommt ein paar Schläge in den Rücken ab, dreht sich aber nicht um. Er ist überzeugt, dass er bis zum Ende weitergehen muss. Am schlimmsten ist es, die Flucht anzutreten und dann auf halbem Wege stehenzubleiben. Jemand ruft ihm zu: Feigling! Bender hebt den Blick, findet den Schuldigen aber nicht. Er geht weiter, bis zum Ende. Dass er am Ende angelangt ist, begreift er, als er eine leere Straße voller Papier, Dosen und Zigarettenkippen erblickt. Einfach weiterzugehen, erscheint ihm dumm. Er dreht sich um. Von dort, wo er steht, sieht er, wie immer mehr Polizeihelme sich unter die Masse mischen. Wie auch sonst im Leben führt auch ein anderer Weg zum Spielwarengeschäft. Bender geht die Straße weiter, in Richtung Norden. Ein paar Straßen weiter sieht es aus, als wäre gar nichts passiert. Er geht weiter nach Osten und durch die Fußgängerzone zu einem kleinen Platz. Dann noch ein paar Meter nach Süden. Während er sich dem Spielwarengeschäft nähert, scheint ihm, als würden die Mütter mit den Kinderwägen ihm wohlwollende Blicke oder ein Lächeln schenken. Vielleicht sieht er aus wie ein Mann, der soeben aus einer Schlacht kommt. Er stellt sich vor den Eingang des Spielwarengeschäfts und wartet, dass die Tür aufgeht. Die Tür geht nicht auf. Bender kommt näher, aber das ändert nichts. Die Tür ist noch immer zu. Bender nähert sich weiter, und erst als er das gedämpfte Licht im leeren Geschäft sieht, versteht er, dass es geschlossen ist. Er bückt sich. Er hält sich die Hände über die Augen und schaut hinein. Das, was er für lebende Menschen gehalten hat, sind Puppen, die Mütter und Kinder darstellen. Väter gibt es keine. Außer einen. Einen lebenden. Während ein pickliger junger Mann in einer Wächteruniform aus dem Inneren des Geschäfts auf ihn zugeht, steckt Bender die Hände in die Hosentaschen und begreift, dass er eine Bewegung gemacht hat, die der junge Mann als bedrohlich aufgefasst haben könnte. Bender lässt die Hände in den Hosentaschen, obwohl jemand denken könnte, dass er eine Bombe festhält oder eine andere Bedrohung parat hat, die den idyllischen Ort des Glücks in einen Ort der gesellschaftlichen Frage nach Schuld und Verantwortung verwandeln könnte. Darauf hat er keine Lust. Er hat ganz andere Gründe, vor der Glastür des geschlossenen Spielwarengeschäfts zu stehen. Er spürt, dass sein Rücken taub wird. Er hebt einen Arm und hält sich die Nase an die Achsel. Der junge Mann nähert sich der Tür und zeigt durchs Glas künstliche Zähne, die einen Satz kauen. Bender versteht nicht, was der junge Mann versucht, ihm zu sagen, also nähert er sich der Tür und gibt dem jungen Mann mit dem Kopf ein Zeichen, er solle das, was er gesagt hat, wiederholen. Der junge Mann wiederholt seine Grimasse, aus der Bender die Silben GE-SCHLOS-SEN herausliest. Bender richtet seinen Blick auf die Schulter des jungen Mannes. Eine angenähte Epaulette mit einem Adlerkopf. Selbst wenn Bender es sich vorgenommen hätte, diese Situation ist viel zu sinnlos, um es mit Ehrlichkeit zu versuchen. Er müsste durch die Glasscheibe erklären, dass er eine Kriegerpuppe sucht, auf die er draufgetreten ist und deren Hand er gebrochen hat. Er sagt nichts. Er starrt nur ins Gesicht des jungen Mannes, das sich in das Gesicht eines Buben verwandelt hat. Das Bubengesicht schaut ihn noch einige Momente erschrocken an, dann entspannt es sich, nimmt eine Habt-Acht-Stellung ein und setzt wieder eine Grimasse auf. Der Bub bewegt seine Lippen WIR-HA-BEN-ZU-WE-GEN-DER-DE-MON-STRA-TIO-NEN, dann zuckt er mit den Schultern, dreht sich um und geht wieder zurück zu den schlafenden Puppen, wobei er sich mit der rechten Hand die Unterhose aus der Arschspalte zieht. Während der Bub-Wächter in der Dunkelheit des Spielwarengeschäfts verschwindet, gibt die zu kurze Hose den Blick auf dessen Elefantenbeine frei. Bender entfernt sich vom Eingang und geht die Straße hinunter. Als er um die Ecke biegt, gerät er in die zerschlagene Kolonne, die er schon ganz vergessen hatte. Als wäre das alles vor dreißig Jahren passiert, und nicht vor fünfzehn Minuten. Um sich nicht wieder reinziehen zu lassen, nimmt Bender den Eingang zur U-Bahn und steigt humpelnd auf die Rolltreppe, die ihn in den Untergrund bringt. Am Bahnsteig sieht er eine große chinesische Familie, die von einem Ausflug zurückkommt. Der Schmerz im Fuß zwingt Bender, sich auf den Blechstuhl unter einem körnigen Plakat zu setzen. Er hebt seinen Fuß, löst die