Wunder wird es hier keine geben. Goran Fercec

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Название Wunder wird es hier keine geben
Автор произведения Goran Fercec
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746538



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identisch mit seinem physischen Wesen, ein Körper im weißen Hemd mit einer weißen schlabbrigen Unterhose. Er sieht es nicht, weiß aber, dass hinter seinem Rücken seltsame Dinge passieren. Jemand hat Milch über den Küchentisch verschüttet und sie stehen gelassen, damit sie sauer wird. Die Welt hat sich verlangsamt, die Dimensionen haben sich vermischt. Diesen letzten Gedanken überprüft er, indem er den Finger in den Marmorkuchen steckt, den er, ohne nachzudenken, für einen solchen Nachmittag gekauft hat. Eine weitere unnötige Geste der Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber. Unter der Oberfläche ist der Kuchen ganz gesund. Bevor Bender hierher kam, wusste er gar nicht, was ein Marmorkuchen überhaupt ist. Er hätte nicht laut sagen sollen, dass er sein ganzes Leben lang ausgerechnet einen Marmorkuchen kosten wollte, auch wenn es die Wahrheit war. Doch leider nehmen die Leute manche Wahrheiten durchaus wörtlich und reagieren dann direkt darauf. Die Leute erzählten ihm also alles über die Zubereitung von Marmorkuchen und über deren ethnischnationalen Zusammenhang. Mehrmals. Damit er ja nicht vergessen möge, wo er gelandet ist und woher er kommt. Er kann den Marmorkuchen nicht mehr loswerden. Der Marmorkuchen als Ersatz für alles, was fehlte. Marmorkuchen als Grund für seine Ankunft hier. Marmorkuchen für die Augenblicke seiner Einsamkeit. Marmorkuchen, um das Bewusstsein über seine Herkunft in seinem Inneren zu versenken. Er könnte zurückkehren, und sei es nur, um dem Marmorkuchen zu entfliehen. Er setzt sich auf den Stuhl, so bequem wie möglich, ohne ihn unter dem Tisch hervorziehen zu müssen. Die Stuhllehne bohrt sich in seinen Rücken wie eine falsch gewachsene Rippe. Er bricht ein Stück Marmorkuchen ab und legt es sich in den Mund, wobei er den Kopf zurückwirft. Ein paar Krumen fallen ihm auf die Brust und bleiben zwischen seinen Brusthaaren hängen. Dass es keine einfache Methode gibt, um die Krumen aus den Haaren zu entfernen, ruft bei Bender eine überbordende Bedrücktheit hervor sowie eine Verachtung aller Dinge, die eine Tendenz aufweisen, Krumen zu bilden. Er putzt seine Brust mit der Hand und wirft die Krumen zu Boden. Als er vor fünfzehn Jahren flüchtete, musste er einen Zufluchtsort finden, selbst wenn er dort für immer hätte bleiben müssen. Jetzt hat er keine andere Sicherheit außer der Tatsache, dass es in seiner Wohnung, obwohl noch Sommer ist, kalt geworden ist. Er steht auf, reibt sich die Hände und geht, den Schmerz auf der Fußsohle vergessend, als ob nichts, rein gar nichts Enttäuschendes passiert wäre, zum Fenster und schließt es. Die einzige Hoffnung, die noch nachhallt, als die Stimmen nicht mehr von der Straße hereinkommen, ist in seinem Kopf. Die Hoffnung ist immer ein Wunsch, der sich in eine Frage verwandelt. Während er die Stirn gegen das Glas lehnt, leuchtet die Frage in seinem Kopf wie eine Neonreklame. DAS ZUCKEN, DIE LÄHMUNG IM RÜCKEN, DIE ER IM NACHMITTÄGLICHEN TRAUM GESPÜRT HAT, HAT DIESE LÄHMUNG EINEN NAMEN?

       3

      Bender hockt da und sammelt Haare vom Boden auf. Als er seinen kahlrasierten Kopf berührt, wandern seine Gedanken in die falsche Richtung. Er hätte das schon vor langer Zeit tun sollen. Er steht auf und trägt das abgeschnittene Haar zum Mülleimer. Während er seine Hände säubert, erscheint ihm das Haar wie lebendig. In der halbdunklen Wohnung gibt es genug Nachmittagslicht, um Lebendiges von Nichtlebendigem zu unterscheiden. Er pustet in die Handflächen, dann beschließt er, Hose und T-Shirt zu suchen. Seine ganze Kleidung sieht gleich aus. Das erleichtert die Auswahl. Die schwarze Hose trägt er schon seit Tagen. Es gibt niemanden, der ihn dazu bringen könnte, Kleidung in die Schmutzwäsche zu tun. Eine Hose, ewig und steif wie eine Mönchskutte. Die Hose gilt es zu verschleißen, um zu sehen, wie lange sie seinen Zweifeln standhalten kann. Er zieht den Gürtel zu. Schon ist ihm wärmer. Das Blut fließt wieder durch seine Adern. Als er sich das T-Shirt über den rasierten Kopf zieht, ist er froh, dass die Geste, sich mit der Hand durchs Haar zu fahren, keinen Sinn mehr hat. Er sieht sich im Spiegel an. Seine Kleidung wirkt nicht luxuriöser, als sie aussieht, wenn sie im Schlafzimmer über der Stuhllehne hängt. Einen Augenblick lang erscheint er sich selbst zufrieden, wie er da so mitten im Zimmer steht und sich über die Haut an den Oberschenkeln fährt, durch den ausgedünnten Stoff der Hosentaschen hindurch. Er ist noch immer in der Lage, Annehmlichkeiten zu spüren. In seine linke Hosentasche legt er eine Zigarettenschachtel. In die rechte Hosentasche die Schlüssel. Er wendet sich zum Fenster. Zwischen den Zweigen der Platanen sieht er ein großes, magentafarbenes T mit einem kleinen Zeichen darüber. Dann hat er plötzlich den Eindruck, dass ihm jemand vom waagrechten Teil des T aus zuwinkt. Er geht zum Fenster, schärft seinen Blick und sieht tatsächlich einen kleinen Mann in Schwarz, der ihm zuwinkt. Er wirkt, als würde er tanzen oder Geister beschwören. Bender löst seinen Blick von dem leuchtenden Magenta-T und verlässt die Wohnung. Im Treppenhaus schaltet er das Licht ein, obwohl es noch genug Tageslicht gibt. Er trifft niemanden. Er geht auf die Straße, und eine unbekannte Vibration klebt sich in sein Gesicht statt eines Grußes und macht ihn fast stumm. Zuerst ist es ein ganz leises Brummen wie aus dem Blasinstrument aus Eukalyptusstämmen, das die Aborigines spielen. Die Fensterscheiben erzittern leicht, als würden tausend starke Frauen gleichzeitig die Fenster vor einem Sturm schließen. Das Brummen ähnelt immer mehr einer Katastrophe in Friedenszeiten, dann aber erblickt er eine Lokomotive und begreift, dass es keinen Grund zur Panik gibt. Immer wenn ein Zug gegenüber von seinem Wohnblock vorbeifährt, hält Bender inne. Als würde eine Trauergemeinde vorbeiziehen. Er kann nicht zulassen, dass ein Zug voller Menschen, die die Stadt verlassen, unbemerkt wegfährt. Obwohl manche beschämten Stadtflüchtlinge das vielleicht ganz gerne hätten. Er winkt ihnen nach, starr wie eine Säule, die Hand in Höhe der Schulter gehoben. Er winkt wie jene Kinder, die es gewohnt sind, neben der Eisenbahn zu leben, oder so, wie Geisteskranke winken könnten. Er steht da und winkt. In seiner linken Hand hängt der Müllsack, in dem auch die Reste seiner Haare sind. Die Lokomotive ist ganz nah und die Stahlräder sind so hoch, dass er darunter die Welt auf der anderen Seite der Eisenbahnschienen sehen kann. Wäre er schlau und geschickt genug, könnte er sich darunter durchschlängeln. Jemand hat ihm von einem Mann erzählt, der in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts unbedingt nach Paris reisen wollte, aber die Behörden wollten ihm keine Reisedokumente ausstellen. Dieser Mann, er kann sich an seinen Namen nicht mehr erinnern, hat sich unter einen Waggon auf der Strecke Belgrad–Paris gehängt. Der Mann hat die gesamte Fahrt durchgehalten. Er hatte seine Schulter an einen Griff unter dem Waggon gebunden und kam fünfzehn Stunden später in Paris an. Bender hat dem Mann, der ihm die Geschichte erzählt hat, nie Glauben geschenkt, trotzdem sucht er jedes Mal, wenn ein Zug vorbeifährt, mit dem Blick den Mann, der an einem Griff unter dem Waggon festgebunden ist. Er sollte seinen Kopf auswechseln. Das Geschrei der Kinder auf den Schaukeln und das Brummen des Zuges, der Richtung Westen fährt, werden von Fahrradglocken übertönt. Die Räder fahren hinter ihm vorbei. Das ist die zweite Angst, die zu überwinden ihm gelungen ist. Anfangs hatte er Panik vor den gebückten Radfahrern und ihren Glocken. Dann wurde ihm klar, dass das Risiko eines Zusammenpralls minimal ist, denn es ist leichter für den Menschen, den Willen des Fahrrads zu beherrschen, als den Willen eines anderen Menschen. Zwar besteht immer die Gefahr, dass ihn ein Radfahrer beim Bremsen leicht streift, aber ein Zusammenprall lässt sich verhindern. Die Radfahrer fahren hinter ihm vorbei. Sie sind ausreichend weit weg, dass er ihre Gedanken nicht spürt. Aus dem Augenwinkel betrachtet, sehen sie aus wie eine berittene Division. Er denkt, er sollte sich ein Fahrrad kaufen, und geht zu einem der drei Container. Mit der linken Hand hebt er den Deckel des zweiten Containers in der Reihe, und bevor er den Müllsack hineinschmeißt, bückt er sich und wirft einen Blick hinein. Er schaut sich an, wo er die Abfälle seines eigenen Körpers entsorgen wird. Es gibt gute Gründe für eine solche Geste. Am Boden des Containers erblickt er den Rest eines Menschen bzw. von etwas, das einmal einem Menschen gehört hat. Ein schwarzer Converse-Tennisschuh mit einem roten Stern auf der Seite. Identisch mit dem Turnschuh, den er selbst gerade am rechten Fuß trägt. Bevor er den Müllsack in den Container wirft, bückt er sich und wühlt darin herum. Mit den Fingerspitzen holt er den Turnschuh heraus. Tadellos. So gut wie neu. Er schaut hinunter auf seinen Turnschuh. Nein, er kann noch immer keine Verbindung entdecken zwischen dem Turnschuh, den er in der Hand hält, und jenem an seinem rechten Fuß. Er lässt zu, dass ein unvermeidliches Gefühl des Zerfalls in ihm aufsteigt wie erhöhte Temperatur, er überzeugt sich selbst davon, dass er hier soeben auf die Überreste gestoßen ist von dem, was aus ihm eines Tages werden wird. Schreiende Kinder freuen sich über seinen Fund. Er hebt seinen rechten Fuß, legt ihn auf das linke Knie und gleicht den gefundenen Überrest mit der Länge seines Fußes ab. Ein Gegenstand, der aller Logik nach ihm gehören könnte, aber überflüssig ist.