Drübersteigen. Verlassen, ersetzen, vergessen. Nur so kann sich die Welt nach einer Katastrophe wieder und noch einmal erneuern. Selbstverständlich ist sie nur begrenzt haltbar. Ort und Zeit sind zufällig, ebenso der Turnschuh in seiner Hand. Die Unbestimmbarkeit des Zufalls löst eine primäre Angst aus, mit der er noch immer nicht zurechtkommt. Er hat Angst, jemand könnte ihn zufällig auf der Straße anhalten, ihm die Hand auf die Schulter legen, ihn an der Wange streicheln, seine Hand drücken, alles dafür tun, dass er sich sicher fühlt, ihn dann jedoch mit einem Faktum abschießen wie mit einer Gewehrpatrone, dummdumm. Mit einem Faktum, das sich auf egal was beziehen könnte. Er legt den Converse-Turnschuh von einer Hand in die andere, wie einen Teil von sich selbst, mit dem er nichts anzufangen weiß. Seine Lippen bewegen sich auf der Suche nach einem Halm, durch den er eine weniger wiedererkennbare Realität mit weniger Fakten einatmen könnte. Wenn er nicht auf der Stelle losgeht, werden alle Spielwarengeschäfte vor seiner Nase schließen. Dann würde er erklären müssen, warum es den starken Aragorn nicht mehr gibt. Um sich dem Kind gegenüber nicht rechtfertigen zu müssen, muss er weitergehen. Aragorn muss wiederauferstehen. Bender legt den Turnschuh neben den Container, für den Fall, dass ein Einbeiniger vorbeikommt. Neben der Tafel mit dem Straßennamen biegt er links ab und geht geradeaus weiter zu dem Gebäude mit dem Archiv, das eigentlich der getarnte Sitz des Geheimdienstes ist. Das hat er sich selbst ausgedacht. Seit er nicht mehr arbeitet, ist das seine Art, die Realität aufrechtzuerhalten. Das Gebäude ist von den trägen Strahlen der Nachmittagssonne überzogen. Am Eingang steht ein Wächter und raucht. Bender sieht die Polnisch-Lehrerin, die ihren Hund spazieren führt. Er hat sie an dem großen, schwarzen Labrador mit dem muskulösen Körper und der feuchten Schnauze erkannt. Er nickt ihr zu, während sie darauf achtet, dass ihr Blick nicht den Blick des Wächters am Eingang trifft. Sie hat sich einen durchsichtigen Plastiksack über die rechte Hand gezogen, damit wird sie den Hundekot aufsammeln. Sie erkennt ihn, schweigt jedoch. Es ist zu wenig Zeit für ein Gespräch. Irgendwann früher, als er noch etwas gemacht hat, hat sie für ihn einen Text über Kieślowski übersetzt. Sie hat ihm geholfen zu verstehen. Irgendwann früher, da kam es vor, dass sie bei einem Treffen ein paar Sätze wechselten. Über den Hund. Oder über Kieślowski. Da gibt es immer irgendetwas, das man hinzufügen kann. Obwohl der Hund sich nicht verändert und Kieślowski schon lange nicht mehr atmet. Sie geht hinter ihm vorbei. Der Hund dreht seinen Kopf und schaut ihn an, als würde er ihn wiedererkennen. Dann reißt er sich los, zieht der Polin den Griff seiner Hundeleine aus der Hand und läuft zu ihm, verlangsamt, während ihm die Zunge wie ein Stück Menschenfleisch aus dem Maul hängt und die Spucke in alle Richtungen spritzt. Bender bleibt wie angewurzelt stehen. Er versucht, der Situation entsprechend zu reagieren. Man muss schnell denken. Eine Entscheidung treffen. Er wird seine rechte Hand für den Biss hinhalten. Seine rechte Hand ist schließlich stärker als seine linke. Er spürt keine Angst, während er im Hintergrund sieht, wie die kleine Polin die Hände in die Höhe hält und den Hund beim Namen ruft. Sie sieht aus wie eine schwarz verhüllte Klagefrau auf einer Insel. Zu ihm dringt nur das Echo eines slawischen Namens, der ebenso stark ist wie der Hund selbst. Witold. Der Hund, der sich ihm mit leidenschaftlicher, jedoch unklarer Absicht nähert, heißt Witold. Sollte Bender deshalb weniger oder mehr besorgt sein? Witold sieht aus, als hätte sich der Schatten des Wächters am Eingang zum Staatsarchiv losgerissen, und als er schon ganz nah ist, hebt Bender den rechten Arm und hält ihn hin, im Bewusstsein, dass er ein Opfer bringen muss. Witold läuft an Bender vorbei, ohne auf ihn zu achten, er lässt ihn stehen, wie angewurzelt, erschrocken und mit erhobenem rechten Arm. Bender lässt den Arm sinken und schaut dorthin, wo die Polin gestanden ist, von der keine Spur mehr zu sehen ist. Er schaut sich nach Witold um, sieht jedoch nur den leeren und gut gepflegten Eingang zum Stadtpark. Das große Metalltor ist offen. Eltern mit Kindern und Hunden kommen lachend aus der klaffenden Dunkelheit des Parks heraus. Eine wenig überzeugende Idylle, gestört durch das eine oder andere Kind, das herumschreit und genervt mit seinen Sachen um sich wirft. Bender beschließt, später hineinzugehen, wenn der Park für Eltern und Kinder geschlossen sein wird. Er geht weiter in Richtung Norden. Von der Nebenstraße kommt er auf die Hauptstraße und stößt mit einem demonstrierenden Menschenstrom zusammen. Wie bei einem Fisch-Exodus bewegen die Menschen langsam ihre Körper und öffnen ihre Münder, wobei sie ihren Singsang nach Norden und Süden hin murmeln. Vielleicht wartet am Ende der Straße ein Wegweiser für ihr weiteres Vorgehen. Alles Verbrauchte sollte man verlassen oder abwerfen. Bender schaut in beide Richtungen. Das, was er sucht, befindet sich in der Richtung, in die die Mehrheit unterwegs ist. Kein Grund zur Panik. Er wird in den Menschenstrom eintreten, und wenn er beim Spielwarengeschäft ankommt, wird er langsam wieder heraustreten. Die Straße ist für Autos gesperrt. Das deutet darauf hin, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Eine blaue Neonlichtröhre in einem Schaufenster, das wie ein mit Wasser gefülltes Aquarium aussieht, fesselt seine Aufmerksamkeit. Sein Staunen kennt kein Ende. Hier wird er sich kurz erholen, eine Weile innehalten und sich seinem Begehren nach dem, was hier angeboten wird, hingeben. Die Angebote sind tatsächlich sehr günstig. Bender steht vor dem Reisebüro und reibt seinen Oberschenkel. Kuba. Siebenhundert Euro. Malta. Neunhundert Euro. Dreisternehotel. Istanbul. Vierhundertachtzig Euro. Viersternehotel. Das Angebot für Tansania ist verziert mit einem Foto von Sansibar, aufgenommen von einem Schiff aus. Das Meer ist türkisblau, sein Versuch, das Meer darzustellen, ist gar nicht überzeugend. Die blaue Neonlichtröhre lässt die ganze Szene noch weniger überzeugend aussehen. Häuser im arabischen Kolonialstil wirken verlassen und tot. Auf dem Platz vor den Häusern ist kein Mensch. Die offenen Fenster sind mit stumpfem Schwarz gefüllt. Der Himmel ist weniger blau als das Meer. Das letzte ideale Bild der Welt bietet Griechenland. Das Foto, das die Entscheidung für diese Reise auslösen soll, zeigt die Akropolis. Vor dem weißen Tempel sind gehende Menschen zu sehen, gefangen im Format einer Fotografie von neun mal dreizehn, Menschen, die nie wieder in ihre Hotelzimmer zurückkehren werden. Eine Tragödie, von der niemand berichtet hat. Bender schaut in das Reisebüro hinein. Innen ist es kühl und leer. Die Frau, die die Reisearrangements verkauft, hat entweder das Büro verlassen oder ist mit den restlichen Sachen verschmolzen. Er könnte versuchen, hineinzugehen und die unsichtbare Frau wieder zurück unter die Lebenden zu holen. Er liest weitere Angebote, bis die Städtenamen sich zum unleserlichen Namen einer inexistenten Megalopolis vermischen. Er löst den Blick von der Glasoberfläche erst, als er darin die Spiegelung einer Menschenmasse sieht, die plötzlich hinter seinem Rücken angewachsen ist und die Straße wie eine Flutwelle erfüllt hat. Bender dreht sich um zu den Demonstrierenden. Niemand achtet auf ihn. Die Menschenmasse bewegt sich langsam. Für einen achtlosen Passanten ist es ein Leichtes, Teil dieser Kolonne von Männern und Frauen in roten T-Shirts mit Transparenten und Fahnen in den Händen zu werden. Die Masse öffnet ihre Münder in einem gemeinsamen Rhythmus, aber die Stimmen, die herauskommen, zerbröseln ohne Bedeutung. Die Masse brummt wie ein Bienenschwarm. Die Passanten stehen mit überraschtem Gesichtsausdruck an der Häuserwand und warten, dass dieser ungünstige Moment vorübergeht. Er erkennt kein einziges Gesicht. Jemand aus der Kolonne hebt die Hand und winkt Bender zu, er solle sich doch der Masse anschließen. Bender ignoriert diese Einladung. Der Mann schlägt sich durch bis zum Rand der Kolonne, kommt ganz nahe an Bender heran und gibt ihm ein Zeichen, das sich nicht mehr ignorieren lässt. Bender lächelt. Das Gesicht des Mannes kommt ihm bekannt vor. Noch bevor er Zeit hat, nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen, stößt ihn ein Passant von der Wand weg, und Bender macht einen Schritt mit dem falschen Fuß, hinein in die Menge der Demonstranten. Der Mann, der ihn gerufen hat, ist verschwunden. Bender ist plötzlich mitten in einer Gruppe von Afrikanern, die lauter sind als der Schmerz an seiner Fußsohle. Die Menschenmasse trägt ihn weiter, und hätte er sich nicht mit der Hand an einem unbekannten Mann festgehalten, hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre hingefallen. Der Mann dreht sich mit einem fragenden Blick um. Bender schüttelt den Kopf und antwortet mit einem brüderlichen Lächeln. Später auf dem Heimweg wird er darüber nachdenken, wie wenig überzeugend dieses Lächeln war. Einige Schreie lösen eine Kettenreaktion aus. Die Menge beginnt zu brüllen. Bender versucht, die Schrift auf den T-Shirts zu lesen, versteht aber die Botschaft nicht. Die Straße, durch die die Demonstranten marschieren, ist für den Verkehr gesperrt. Polizisten stehen am Rand und beobachten die Lage. Es könnte sich als Fehler erweisen, weiterhin in der Kolonne zu bleiben. Als die Demonstration für einen Augenblick innehält, versucht Bender, durch einen Spalt zwischen den Körpern zu entkommen. Kaum ist er draußen, taucht ein Polizist vor ihm auf und stößt ihn zurück in die Menge. Bender verliert wieder das Gleichgewicht.