auf. Gebückte Körper versuchen, sich im Dunkeln zu verstecken. Alle Geheimverstecke sind aufgedeckt. Die Statisten, die in der Dunkelheit für die Illusion zuständig sind, sind einander nun gezeigt worden. Die Spannung ist dahin. Bender steht auf und macht einen Schritt. Er macht noch einige Schritte, dann hält er inne. Er kann sich nicht entscheiden, welchen Weg er nehmen soll, um den Ausgang zu finden. Der Himmel ist nach dem Feuerwerk voller Rauch. Man sieht weder den Mond noch die Sterne. Man sieht auch die Milchstraße nicht, die den Verirrten hilft. Er kann nur mit Mühe seine Füße bewegen. Den Blick auf das Signallicht neben der U-Bahn geheftet, nähert er sich dem Drahtzaun, ertastet mit den Händen den Durchgang und schlängelt sich hindurch, halb kriechend. Er richtet sich auf und geht weiter, zum beleuchteten Teil der Straße. Im Lichte der Straßenlampe überblickt er die gesamte Katastrophe jenes Augenblicks, in dem Begehren auf Aggression getroffen ist. Sein braunes Hemd ist mit Blutspritzern übersät. Es sieht nicht erschreckend aus, sollte ihn überhaupt irgendjemand anschauen wollen. Allerdings ist seine Hose ein offensichtlicher Beweis für seinen Misserfolg. Der nasse Fleck fühlt sich auf der Innenseite seiner Oberschenkel kühl an und zieht die Blicke der Autofahrer auf sich, die zwar schnell unterwegs sind, aber doch langsam genug, um seine Schande zu sehen. Die raucherfüllte Luft nagt an seinen Nasenlöchern. Er denkt, an vorderster Front muss es wohl so ausgesehen haben. Er zieht die Ärmel seines Hemds über die Handflächen hinunter und wischt sich damit das Gesicht ab. Dann krempelt er die Ärmel über die Ellbogen hoch. Er bricht auf zur Hauptstraße. Am Eingang zur U-Bahnstation stehen Menschen und tun so, als würden sie weder ihn noch seine verletzte Nase sehen. Er hätte an ihrer Stelle das Gleiche getan. Sie schauen hypnotisiert auf einen Punkt. Das Feuerwerk hat sie geblendet und ihnen Freude bereitet. Für einen Augenblick haben sie beschlossen, gut zu sein. Heute wollen sie niemanden verurteilen. Keine Verachtung zeigen. Die braven Bürger werden so tun, als sei alles in bester Ordnung. Die Hose ist nicht vollgepisst. Die Nase ist nicht gebrochen. Unter den Nägeln ist keine Erde. Die Schuhe sind nicht schlammig. Das Gesicht ist nicht von Prügeln gezeichnet. Das Blut bleibt lieber im Kopf, als durch die Nase herauszukommen. Die Muskeln sind stark genug, um sich zu verteidigen. Fremde werden hier wie lästige Anhängsel geduldet. Die glückseligen Blicke der Bürger, die da und dort an Bender hängenbleiben wie Kletten, sind lediglich ein Symptom. Die, an denen er jetzt vorbeigeht, werden es niemals schaffen, gute Zeugen zu sein, weil sie Angst haben vor dem, was sie sehen. Ihre Kälberblicke und die leicht geöffneten Münder verraten sie. Bevor ein Zeuge begreift, was er da sieht, muss er dreihundert Mal blinzeln. Wenn er es endlich begriffen hat, ist das Blut schon getrocknet, und die Bilder, deren Zeuge er wurde, haben sich bereits in Luft aufgelöst. Für die Passanten mag es aussehen, als wäre er aus dem Kampf als Sieger hervorgegangen. Vom Park nach Hause wie von der Schule nach Hause. So viele Köder für einen Unschuldigen. Die Kommentare, die er hört, erscheinen ihm seltsam. Das ist nicht seine Sprache. Er muss sich bemühen, um sie zu verstehen. Der Sinn kommt nur von der rechten Seite. Die Stille auf der linken Seite ist Folge der eingesteckten Schläge. Sein Blickwinkel ist verschoben, und er ist nicht mehr ganz sicher, was es ist, das er da sieht. Was genau sieht er, wenn nicht das Spiegelbild seiner eigenen Panik in den Gesichtern der Männer, die ein Grüppchen bilden, und auf die er zugeht und die auf ihn zugehen? Er erkennt sie. Es sind die Demonstranten vom Nachmittag, die von ihrem Sieg überzeugt waren, allerdings fühlen sie sich, sobald es dunkel wird, als Verlierer. Eine Überzeugung, die sich nie wieder in das Gefühl, es sei die Sache wert gewesen, verwandeln lassen wird. In einer Hand halten die Männer Fähnchen mit Parolen, in der anderen je eine Bierflasche. Einer von ihnen steckt sein Fähnchen in die Flasche und zeigt das den anderen. Sie machen Geräusche, die Verwunderung und Begeisterung ob der praktischen Idee zum Ausdruck bringen sollen. Nun stecken alle ihr Fähnchen in ihre Bierflasche. Jetzt haben sie je eine freie Hand, wissen aber nicht, was sie mit ihr tun sollen. Bender geht an ihnen vorbei, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie sagen etwas zu ihm, aber er kann sie nicht hören. Er sieht nur ihre Münder, die sich öffnen. Die blutige Nase fordert immer dazu auf, zu überprüfen, ob noch Trotz in ihm steckt. Bender begreift, dass sie ihn einladen, sich ihnen anzuschließen. Nasenbrüder. Niederlagenbrüder. Sie spüren, dass sie das Recht haben, ihn anzusprechen. Er muss doch einer von
ihnen sein. Einer von den Hundert, denen es gelungen ist auszuweichen, vor Feuersbrunst, Verstümmelung, Hängen, Kastration und Komasaufen. Geblieben sind ihnen Willkür, Selbstbewusstsein, Selbstverachtung und vollgepisste Oberschenkel. Gerade daran erkennen sie ihn, während er an ihnen vorbeigeht. Er ist ihr Mitkämpfer, der sich vor Angst in die Hose gemacht hat. Sie verstehen ihn. Am liebsten würden sie ihn an der Schulter tätscheln und ihm zuflüstern, er solle doch den nassen Fleck auf seiner Hose vergessen. Er sieht nur ganz zufällig wie einer von ihnen aus. Alle Niederlagen sind gleich, alle Verlierer sehen gleich aus. ER SELBST SIEHT GANZ ZUFÄLLIG GENAUSO AUS! Sie haben ihn als einen Verlierer erkannt und somit als einen, der zu ihnen gehört. Sie winken ihm zu, als hätten sie jemanden gesehen, der ihnen Trost spenden kann. Jungs, sollte er zu ihnen sagen, Jungs, nehmt eure Hände wieder runter. Fuchtelt hier nicht so rum wie Käfer auf dem Rücken. Jungs, er hat sich nicht vor Angst angepisst. Er hat sich angepisst, weil er an sich selbst gedacht hat, in einem Augenblick, als er an etwas anderes hätte denken sollen: an sich selbst als ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft. An das Zugehörigkeitsgefühl. An Würde. Vielleicht sollte er zu ihnen gehen, mit ausgestreckten Händen, um sich vor einer falschen Verbindung zu schützen. Aber was soll er ihnen sagen? Dass Würde, Zugehörigkeitsgefühl und Nützlichkeit in der Gemeinschaft so etwas sind wie das Fähnchen in der Bierflasche? Bender zieht an ihnen vorüber, so wie die Tage an ihnen vorüberziehen. Mit einem schnellen Blick in ihre Gesichter erfasst er die tragische Maske ihrer Enttäuschung. Es ist keine kurzfristige Konsequenz, sondern ein endloser Zustand. Bender geht weiter und blickt zu Boden.
5
Bender steht vor der Wohnungstür, er hat die feste Absicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und eine neue Seite in seinem Leben aufzuschlagen. Mit dem alten Schlüssel ins neue Leben einzutreten ist keine leichte Sache. Das flackernde Licht im Treppenhaus geht genau in dem Augenblick aus, als Bender mit den Fingern das Schloss ertastet, also muss er sich zusätzlich Mühe geben, um seinen Beschluss zu verwirklichen. Er bemerkt, dass aus dem Guckloch seiner Wohnung Licht kommt. Dabei ist er ganz sicher, dass er beim Hinausgehen das Licht ausgeschaltet hat. Er presst ein Ohr gegen die Tür. Ihm scheint, er hört die Stimmen von Kindern, die partout nicht ins Bett wollen. Das ist nicht die Geräuschkulisse seines Lebens. Dann wird es still. Er verspürt Erleichterung, sperrt die Tür auf und betritt seine Wohnung. Eine Welle unendlicher Freude schlägt Bender entgegen. Alles, was er sieht, freut sich über ihn. Die Wände würden sich bewegen, wenn sie könnten. Der Spiegel zeigt ihm fröhlich das Bild eines Verlierers. Dann bricht auch beim Telefon die helle Freude aus, es läutet. Bender macht drei Schritte und hebt ab. Die Berührung des Telefonhörers verursacht ihm Schmerzen am äußeren Rand des verletzten Ohrs, noch bevor irgendjemand spricht. Bender räuspert sich. Am anderen Ende beginnt jemand zu sprechen. Bender erkennt die Stimme nicht. Er presst den Hörer fester an das schmerzende Ohr. Er ist überzeugt, am anderen Ende muss jemand sein, der seine, Benders, Stimme erkennen kann. Ansonsten wäre dieser Augenblick gänzlich sinnlos. Zwei Stimmen, die sich gegenseitig nicht erkennen, lassen keine Hoffnung für die Zukunft aufkommen. Bender versucht, zum Anfang zurückzukehren, die Stille zu rekonstruieren, die vor dem Telefonläuten geherrscht hat. Es fällt ihm schwer, eine Kette von Ereignissen zu finden, hinter der er wie hinter einer unumstößlichen Tatsache stehen könnte. Er hat versucht, die Tür aufzusperren. Das Licht ist ausgegangen. Er hat das Ohr gegen die Tür gepresst. Er hat die Wohnungstür aufgesperrt. Er hat die Wohnung betreten. Er hat mit Mühe den Lichtschalter gefunden. Er hat das Licht eingeschaltet. Sein Bild im Spiegel hat ihm keine Angst eingejagt, sondern ihn lediglich dazu gebracht, zehn Unterschiede zu finden. Bender vor dem Spaziergang und Bender nach dem Spaziergang. Die Oberlippe hat sich verdoppelt. Das rechte Auge ist zugeschwollen. Seine Handflächen sind so zerkratzt, als wäre er auf allen Vieren nach Hause gekrochen. Die Risse an seinem Hemd sind fatal. Der nasse Fleck zwischen den Beinen ist erniedrigend. Die verschlammten Hosenbeine machen ihn zum Verfolgten und Verfolger zugleich. Er löst seinen Blick vom Spiegelbild und lässt ihn durch den Raum wandern. Die Wände sind ihm um eine Nuance grüner erschienen als heute Morgen. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass Farbe sich beim Trocknen verändert, und dann hat das Telefon geläutet. Ein