Wunder wird es hier keine geben. Goran Fercec

Читать онлайн.
Название Wunder wird es hier keine geben
Автор произведения Goran Fercec
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746538



Скачать книгу

Unterlegenheitsgefühl ableitet. Er wird seine Symptome ignorieren, um sich Spaghetti mit Sauce Bolognese zubereiten zu können. Der größte Topf ist für die Spaghetti, der etwas kleinere für die Sauce. Alles ist schon halb fertig. Jedes Mal, wenn er ein Glas mit der fertigen Sauce in die Hand nimmt, macht ihn die Größe der Packung wütend. In der Ökonomie des Handels existieren Alleinstehende nicht als Zielgruppe. Ihre Bedürfnisse werden in die Bedürfnisse von mindestens zwei oder höchstens vier Personen eingerechnet. Bender schließt daraus, dass die Gesellschaft zu langsam ist, öffnet das Glas und schüttet die Hälfte des Inhalts in den Metalltopf. Er wird nicht überleben, wenn er nicht lernt zu improvisieren. Die Improvisation dauert weniger als eine Viertelstunde. Die Zeit, die in die Zubereitung der Mahlzeit investiert wurde, ist nicht proportional zu dem, was serviert wird. Das Produkt ist immer besser als die Menge der investierten Zeit. Er setzt sich mit dem Rücken zum Fenster und beginnt zu essen. Außer dem, was auf seinem Teller ist, hat nichts einen eigenen Geruch. Obwohl Bender schon seit Jahren allein lebt, isst er nicht wie ein Schwein, er benützt noch immer Löffel, Gabel und Messer, noch immer isst er nicht vom Boden. Allerdings isst er manchmal gar nicht. Kaum hat er zu essen begonnen, hört er wieder Schritte im Stiegenhaus. Er beschließt, dass das Schritte sind, vor denen man am besten weglaufen sollte, fährt aber dennoch fort mit dem, was er gerade tut, schiebt sich das Essen in den Mund, kaut und schluckt. Er dreht den Kopf und horcht. Die Schritte verraten nichts über die Person, die die Treppen hinaufsteigt. Weder ihr Alter noch ihr Geschlecht, noch ihr Gewicht. Das Einzige, was die Schritte verraten, ist, dass derjenige, der hinaufsteigt, seine Schritte absichtlich verlangsamt, je näher er Benders Wohnungstür kommt. Das ruft Nervosität hervor. Bender schaut sich um. Seine Wohnung könnte einen nicht angekündigten Besucher empfangen. Die Putzfrau war erst gestern da. Die Farbeimer müsste man in den Keller bringen. Das Flügelgeflatter der Tauben, die sich auf dem Balkon paaren, übertönt die Schritte, aber als die Tauben sich wieder beruhigen, sind die Schritte nicht mehr zu hören. Bender fällt ein, dass er ja jederzeit so tun könnte, als wäre er nicht da. Den Atem anhalten und an der Stelle, wo der Parkettboden am wenigsten knarrt, stillhalten. Bender entspannt seinen Körper und entlässt die Luft aus der Lunge, aber er tut es zu früh. Der Angriff erfolgt aus beiden Richtungen gleichzeitig. Die Türklingel ertönt im selben Augenblick wie das Läuten des Telefons. Bender geht zur Tür und ignoriert das Läuten, aber dann dreht er doch um und geht zum Telefon. Er wischt sich mit der Hand über den Mund, bevor er den Hörer abhebt. Sein abgewischter Mund grüßt ins Leere. Auf der anderen Seite ist Stille. Bender fordert die Stille mehrmals heraus, bekommt jedoch keine Antwort. Er ist zu alt, um an einen Zufall zu glauben. Er legt den Hörer auf, die Schritte im Flur setzen sich wieder in Bewegung und steigen weiter hinauf, zu den höheren Stockwerken. Bender akzeptiert die Schritte wie ein unvermeidliches Echo eines Lebens, das sich parallel zu seinem abspielt, und kehrt in die Küche zurück.

       2

      Er schlief und träumte in Farben. Der Traum duftete nach zerbröselter Erde und Angst. Im Traum trägt er einen Pyjama, er ist einer sommerlichen Nachmittagshitze ausgeliefert, er sitzt im hinteren Teil eines offenen Militär-Jeeps, neben ihm zwei Typen in Uniform. Sie bringen ihn irgendwohin, er kann die Landschaft nicht erkennen. Die Männer haben ihm nichts gesagt, er weiß gar nicht, wie er hier gelandet ist. Er denkt, das könnte ein schmerzloses Ende seiner Reise sein. Die untergehende Sonne brennt auf seinen Rücken. Er muss weglaufen, aber die Wächter halten ihn fest. Sie führen ihn ins Unbekannte. Er ist überzeugt, dass er nicht viel tun kann, um sich zu retten, aber der Traum ist auf seiner Seite, und so muss einer von den beiden Typen, der rechte, seine Blase entleeren. Das Fahrzeug hält an. Das ist die Gelegenheit, die er ausnützen muss. Er schlägt dem linken, tollpatschigeren Wächter auf den Kopf, mit einer Kraft, die nur in Träumen existiert. Der Wächter fällt tot um. Er selbst läuft in ein weiches Gestrüpp, das am Straßenrand wächst, und fällt hin, dann rollt er über die Blätter wie über Wasser. Er lacht, weil genug Licht da ist, dass er seine Hände sehen kann, und wenn es Licht gibt, dann ist auch die Rettung nah. Er springt auf, läuft auf die leere Straße hinaus, schnurstracks den beiden Männern, vor denen er davongelaufen ist, in die Arme. Der rechte, der seine Blase entleert hat, fasst ihn am rechten Unterarm, der linke, lebendig und unverletzt, am linken. Sie zwingen ihn, wieder in den Jeep einzusteigen, und fahren weiter. Er wendet sich an sie und sagt, er glaube, vor ihnen sei schon jemand auf diesem Weg gegangen. Die beiden schweigen zunächst, dann unterhalten sie sich miteinander in einer Sprache, die er erkennt, jedoch nicht versteht. Die stumpfen Sätze, die er aufschnappt, während der Wind in seinen Ohren rauscht, lassen ihn schlussfolgern, dass die Männer ihn an den Ort seines Anfangs führen. Ganz leise, wie ein Kind, das sich mit Unterwürfigkeit Schokolade erschleichen möchte, beginnt er zu bitten, sie mögen ihn freilassen. Und sie lassen ihn frei. Er steht auf der Straße, schaut zu, wie der Jeep weiterfährt, und sieht sich selbst, wie er zwischen den beiden Typen sitzt. Ein anderes Ich. Er dreht sich um, um dorthin zu gehen, wo er herkommt. Er sieht riesige Buchstaben auf einer Werbefläche, durch die die Sonne scheint. Im Kopf reiht er einen Buchstaben an den anderen. AIVALSOGUY. Er steht auf der falschen Seite. Man hat ihn zurückgebracht. Dann wacht er auf. Es ist schon wieder passiert. Es beginnt in den Fingerspitzen und steigt allmählich hinauf in die Schultern. Eine Lähmung, wie wenn man die eigenen Glieder vernachlässigt und die halbe Nacht mit den Armen unter dem Oberkörper geschlafen hat. Er hat es schon vergessen und gedacht, es würde nicht wieder vorkommen. Seiner eigenen Erfahrung nach wiederholt sich jeder Zustand und dauert eine bestimmte Zeit lang. Jetzt ist es wieder soweit. Beim ersten Mal hat er Angst verspürt. Jetzt ist es ihm egal. Er ist wütend auf die Fähigkeit seines Körpers, Signale zu wiederholen, die unzweideutig darauf hinweisen, dass das, was war, jetzt nicht mehr ist. Wenn etwas verschwindet, dann sollte es nicht mehr sein. Sein Körper signalisiert, dass die Häufigkeit eines Symptoms nichts mit seinem geistigen Willen zu tun hat. Er versucht, seinen Körper zu drehen, als gäbe es keine Kraft, die ihn festhält, an das Bett drückt. Er liegt auf dem Bauch, die Beine gespreizt, den Kopf zur Seite gedreht. Das Bett übernimmt seine Körperwärme. Er würde sich gerne von der Bettoberfläche abstoßen und auf den Füßen landen, so geschickt, als lenkte der Wille eines unsichtbaren Puppenspielers seinen Körper, als wären seine Hand- und Fußgelenke mit dünnen, unsichtbaren Fäden irgendwo befestigt. Das würde bestätigen, dass der Verzicht auf den eigenen Willen endlich Früchte getragen hat. In der Tat gibt es weniger Willensstärke in seinem Geist, und auch sein Körper ist träger als noch vor fünf oder zehn Jahren. Daraus folgert er, dass das gesamte philosophische Denken des Westens zwar gute Gründe hat, das eine mit dem anderen verbinden zu wollen, aber er selbst weiß davon nicht mehr als das, was er bislang aus seinem eigenen gespaltenen Wesen erfahren hat. Mit der linken Hand versucht er, die Finger der rechten Hand aufzuwärmen. Die Angst hat ihn dazu getrieben, sich zu berühren. Sonst würde er das nicht tun. Er vermeidet es tunlichst, seine eigenen Hände zufällig zu berühren. Er meidet Momente, in denen der Körper sich mit sich selbst beschäftigt und sich in seiner Selbstgenügsamkeit zeigt. Immer schon erschauerte er davor, wie einfach es ist, mit der Hand sein eigenes Knie zu umfassen und zu massieren, oder davor, wie schnell seine Hände in der Lage sind, die Finger miteinander zu verflechten, ein perfektes Fischgrätenmuster zu bilden und damit Wärme zu speichern. Es fällt ihm schwer, die Symmetrie des menschlichen Körpers zu ertragen. Des eigenen langweiligen Körpers. Eines langweiligen Körpers, der seinen eigenen Willen durchsetzen will. Er bewegt seine Finger, als würde er einen unsichtbaren Gummiball kneten, und streckt seine Hand wie zum Protest in die Luft. Die Nervosität lässt seinen Hinterkopf brennen. Er hat den Nachmittag verschlafen. Er hebt seinen Oberkörper an und setzt die Füße auf dem Boden ab. Es ist am sichersten, die Stunden, die unmittelbar auf den Schlaf folgen, am Bettrand zu beginnen. Durch das Doppelfenster mit Betonrahmen dringt das Nachmittagslicht, dermaßen verdünnt, dass man sich am Geiz dieses Lichts gar nicht sattsehen kann. Das äußere Glas, überzogen von der Gravur, die das inzwischen getrocknete Regenwasser hinterlassen hat, sieht aus wie ein kleines Kirchenfenster für den Hausgebrauch, für einen einzigen Gläubigen. Wenn er lange genug das Glas betrachtet, dann sieht jeder zufällige Fleck irgendwann wie eine Erscheinung Gottes aus. Vielleicht fehlt Gott ein Auge. Vielleicht fehlt ihm ein Finger, aber wenn Gott den Menschen nach seinem eigenen Bild geschaffen hat, dann kann der Mensch das Antlitz Gottes auch seinem eigenen Ebenbild anpassen. Bender hebt seinen Hintern vom Bett, um einen Furz zu befreien. Die