Länge. Bender ist ruhigen Schrittes durch das Zimmer gegangen, hat hinter sich die Tür zugemacht, und noch bevor er den Hörer in die Hand genommen hat, hat er sich geräuspert, damit sein Gesprächspartner nichts von seinem geschwollenen Kiefer bemerkt. Er wartet, dass jemand am anderen Ende einige Worte sagt und erkennbar wird. Bender hört, wie das weiße Rauschen zwischen zwei stummen Punkten vibriert. Am anderen Ende spricht wieder jemand. Die Stimme klingt rau und erschöpft. Irgendwo zwischen Bruno Ganz und Johnny Cash. Ich bin es, sagt die Stimme vom anderen Ende, und noch bevor er weiterspricht, holt der Andere Luft, als hätte er vor, schneller weiterzusprechen, aber er spricht nicht schneller. Er sagt nichts. Es passiert nichts. Wer ist da?, fragt Bender. Zunächst kein Zeichen, dann wieder ein Satz. Die Tage werden immer kürzer, sagt die Stimme und hält inne. Es folgt eine Pause, nach der man entweder zur Rettung eilen oder den Hörer auflegen müsste. Bender lässt seinen Blick über die Wände schweifen und über die Farbeimer, die er in den Keller bringen sollte, um die Sache endlich abzuschließen. Knacken in der Telefonleitung. Atem vom anderen Ende. Erst als die Stimme jegliches erkennbare Timbre verliert und nur noch Einatmen und Ausatmen zu hören ist, erkennt Bender an der Kurzatmigkeit seinen Vater. Er weiß nicht, was er ihm sagen soll, außer dass er ihn erkannt hat. Ich habe dich erkannt, sagt Bender. Vater bläst in den Hörer. Die Luft im Telefonhörer kann vom Lachen oder vom Weinen kommen. Die Stimme, die er als Vaters Stimme erkennt, könnte auch einem anderen Mann gehören. Um das Gespräch fortzusetzen, müsste der Andere so tun, als wäre er sicher, dass Bender ihn erkannt hat. Zumindest jene Reste, an denen zwar der Zahn der Zeit nagt, die aber dennoch stets erkennbar bleiben. Ich habe dich erkannt, wiederholt Bender. Dann verlegt er den Hörer auf das linke Ohr, so wie er sein Körpergewicht verlagern würde. Vater schweigt weiterhin. Sie haben schon viel zu lange nichts mehr voneinander gehört. Ich habe schon viel zu lange nichts mehr von dir gehört, sagt Bender. Durch das offene Fenster dringt das Lachen der Teenager von der Straße herein. Bender denkt, sie lachen über den Satz, den er soeben gesagt hat. Bender wiederholt: Ich habe schon viel zu lange nichts mehr von dir gehört. Anschließend nähert er sich dem Fenster. Die Menschen auf der Straße können ihn sehen, wie er mit dem Telefonhörer in der Hand dasteht, aber sie können ihn nicht hören. Er sieht ihnen zu, wie sie vorübergehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind Sitzbänke, bei denen sich nachts betrunkene Teenager herumtreiben und tagsüber junge Männer auf dem Heimweg eine Pause einlegen. Sie tragen hängende Sporttaschen über den Schultern und haben Schweißflecken auf dem Rücken. Ihre Heimkehr dauert Jahre. Bender hört Vater atmen und achtet darauf, dass die Teenager ihn nicht am Fenster stehen sehen. Vater hustet und sagt etwas über die Zeit, von der er allzu viel hat, oder so etwas ähnliches. Das Kabel, das das Telefon mit dem Wandstecker verbindet, ist so lange, dass Bender das Gespräch auch am Fenster oder im Bett liegend führen könnte. Bevor Vater noch etwas sagt, setzt sich Bender aufs Bett und stellt das Telefon in seinen Schoß. Das Kabel ist quer durch das Zimmer gespannt und teilt es in zwei Hälften. Käme hier jemand vorbei, könnte er stolpern und hinfallen. Würde noch jemand in der Wohnung leben, wäre jetzt der richtige Augenblick für die Warnung: Pass auf, das Kabel! Ich habe dich mehrmals angerufen, sagt Vater, meist nachts. In den letzten Nächten hat jemand angerufen, sagt Bender. Er zieht am Telefonkabel, so lange, bis es wie eine Saite gespannt ist. Er streckt den Fuß und reißt mehrmals mit dem großen Zeh am Telefonkabel. Das Kabel vibriert kaum hörbar. Hallo, sagt Vater, schlechter Empfang, dann sagt er noch drei Mal hallo. Es ist nur die Angst vor einer als Störung getarnten technologischen Katastrophe, denkt Bender, lässt das Kabel los, das zu Boden fällt, anschließend zieht er die Füße wieder zu sich. Vater sagt, er habe Nachrichten, die nicht gut seien. Ich habe Nachrichten, die nicht gut sind, sagt Vater. Vor zehn Tagen ist sie aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen. Verschwunden. Sie wird von der Polizei gesucht. Das Protokoll liegt hier neben mir, aber die Buchstaben sind zu klein, ich kann sie nicht lesen. Der Polizist hat gesagt, jedes Jahr verschwinden eintausendfünfhundert Menschen, eintausendfünfhundert ist viel, manche werden niemals gefunden, sie sind einfach weg, sagt Vater. Bender lässt zu, dass Vater ihn in eine Situation des totalen Chaos führt. Bender fragt: Über wessen Verschwinden wurde ein Protokoll in zu kleinen Buchstaben angelegt, das er neben sich liegen habe? Vater wiederholt die Sätze in derselben Reihenfolge, aber er fügt das fehlende Substantiv hinzu. Vater sagt: Mutter, vor zwei Tagen ist sie aus dem Haus gegangen und seitdem nicht wiedergekommen. Verschwunden. Sie wird von der Polizei gesucht. Das Protokoll liegt hier neben mir, aber die Buchstaben sind zu klein. Bender sagt: Soeben hast du gesagt, sie ist vor zehn Tagen weggegangen, und jetzt sagst du, vor zwei Tagen. Vor zehn Tagen, sagt Vater nervös. Der Polizist hat gesagt, jedes Jahr verschwinden eintausendfünfhundert Menschen. Eintausendfünfhundert ist viel. Manche werden niemals gefunden. Sie sind einfach weg. Es folgt Stille. Es gibt keine Zeugen, es wäre gut, wenn du kommen könntest. Du kannst dich in ein Flugzeug setzen, fügt Vater noch hinzu und ersetzt weitere Worte durch seinen Atem. Vater hat recht. Bender hat kein einziges Argument, außer der Tatsache, dass seit ihrem letzten Treffen ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Jahre vergangen sind. Unumstößliche Tatsachen durchbrechen getroffene Entscheidungen wie ein Eisbrecher das Eis. Nach den sieben Jahren sind die Lebenden nicht mehr am Leben und die Toten sind vergessen. Bender antwortet nicht. Er hört, wie Vater am anderen Ende eine Zigarette anzündet. Zuerst hört er das Knacken des Streichholzes, dann glaubt er den Rauch riechen zu können. Du rauchst?, fragt Bender. Vater bläst den Rauch aus. Die Teenager unterm Fenster sind weg, Bender kann ihre Stimmen nicht mehr hören. Bender steht vom Bett auf. Er betrachtet die Mulde, die sein Hintern hinterlassen hat und die langsam verschwindet. Die Dinge kehren an ihren Platz zurück. Immer ist es so. In einigen Minuten wird keine Spur mehr davon zeugen, dass hier jemand gesessen und ein Telefongespräch geführt hat. Wenn es keine Zeugen gibt, dann ist auch nichts passiert. Bender unterbricht Vater beim Ausblasen des Rauchs und sagt: Wenn es keine Zeugen gibt, dann ist auch nichts passiert. Vater hält für einen Augenblick inne, unfähig zu erkennen, was vorher und was nachher kommt. Mutter ist die letzte, die weggeht. Bender sagt, er glaube ihm nicht. Ich glaube dir nicht, sagt Bender. Es handelt sich allerdings um einen nicht durchdachten Satz, denn die Verschwundene könnte ja in der Zwischenzeit auch zurückgekehrt sein. Vater antwortet nicht. Bender fragt: Wie lange ist Mutter schon weg? Vater zählt halblaut, um die Situation überzeugender aussehen zu lassen, und hört bei der Zahl neun auf. Sie ist seit neun Tagen weg, sagt Vater. Das ist weniger als zehn Tage, sagt Bender. Neun, sagt Vater. Bender wiederholt die Zahl, die Vater ihm als Antwort gegeben hat, und denkt darüber nach, was ein Tag weniger für denjenigen bedeutet, der weggegangen ist, im Bezug auf denjenigen, der geblieben ist. Vater sagt: Niemand hat sie weggehen gesehen. Sie hat keine Nachricht hinterlassen. Sie ist einfach weggegangen. Vater schließt seine Aufzählung mit einem Satz, der einen Fehler in der logischen Gedankenabfolge freilegt. Ich denke oft an dich, sagt Vater. Kein Satz, den Vater aussprechen oder Bender erwarten könnte, wäre weniger logisch. Der Satz wurde weder aufgezeichnet noch auf Tonband aufgenommen. Für diesen Augenblick braucht es eine andere Sprache, aber für die andere Sprache hat er keine Zeit mehr. Er könnte von Vater verlangen, ihm detailliert zu beschreiben, wie und woran er genau denkt, wenn er an ihn denkt. Wo beginnt er und wo endet er, und wie sehen die Bilder zwischen Ende und Anfang aus. Und wenn möglich, soll er versuchen zu beschreiben, wie er ihn sich vorstellt, welche Kleidung er trägt, wie lang sein Haar ist, ob er einen Bart hat und welche Farben seine Augen haben. Bender stellt keine dieser Fragen. Das Gespräch könnte in die falsche Richtung abgleiten und sich in Details wiederholen. Es würde dunkel werden. Der Abend würde in die Nacht übergehen. Die Nacht in den Morgen. Der Morgen wieder in den Tag. Bender spürt einen Schmerz in der Schulter. Er legt den Hörer in die andere Hand und presst ihn wieder an das schmerzende Ohr. Vaters Stimme klingt plötzlich müde und deutet ein Ende des Gesprächs an. Die Stimme wird immer tiefer und langsamer, wie ein Tonband, das verlangsamt abgespielt wird. In der Wohnung über Bender übt jemand Klavier. Die gleiche Phrase wird schon seit Stunden wiederholt, aber der Klang dringt erst jetzt zu ihm durch. Vermutlich ein Mädchen. Nur Mädchen können so hartnäckig sein. Jemand übt Klavier, sagt Bender in den Hörer, schon seit Stunden wiederholt sich das gleiche Thema. Vermutlich ein Mädchen, sagt Bender. Vater verstummt. Bender hofft, dass Vater nicht mehr so dumm ist wie früher. Unbeschreiblich und selbstzufrieden dumm. Dumm zum Quadrat. Dümmer als groß. Ich kann es hören, aber nicht erkennen, sagt Vater nach einer längeren Pause. Das war genau, was er sagen sollte. Reue und Zweifel zeigen. Er kann es nicht erkennen. Bei dem Mädchen, das Klavier übt, hat er soeben zehn Punkte gutgemacht.