Название | Ernst Kuzorra |
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Автор произведения | Thomas Bertram |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783730705728 |
Gleich hinter dem Schalker Markt, dort, wo sich seit Jahren kleine und mittlere Gewerbebetriebe, Fitnessstudios, Discounter, Werkstätten und Autowaschanlagen angesiedelt haben, begann um 1900 das Reich der Industrie, das Theodor Krein in seinem 1948 erschienenen Buch Die blau-weißen Fußballknappen mit dem schwärmerischem Überschwang eines vom industriellen Fortschritt faszinierten Beobachters schildert:
„Langgestreckte Fabrikhallen, in den Himmel ragende Schlote, die Fördergerüste der Zechen, die wie Hügelkuppen aufgetürmten Schlackenhalden, klobige Gasometer, die Zyklopenarme der Lastkräne, all das verschmolz zu einem gigantischen Gewirr. Eingehüllt in die wallenden Dämpfe aus den Essen der Eisenhütten, den schwefelnden Gischt der Koksöfen. Darüber schwang sich das dröhnende Lied der Arbeit, hallte die Luft wider von dem Surren der Räder, dem Rattern und Stampfen der Maschinen.“
Mit der in den Jahren 1963/64 erbauten Berliner Brücke wurde dem pulsierenden Zentrum des Stadtteils Schalke buchstäblich die Luft abgedreht. Der Verkehr floss fortan über die Brücke und vorbei an den Geschäften rund um den Schalker Markt. Der war jetzt nur noch über Umwege zu erreichen und verkam zum trostlosen Parkplatz - eine unwirtliche Ödnis inmitten einer urbanen Wüste. Dass die Berliner Brücke ihren ursprünglichen Zweck - den Autoverkehr und die Fußgängerströme, die sich bis dahin regelmäßig vor der im Volksmund so genannten Glück-auf-Schranke („Wenn man Glück hatte, war sie auf“) stauten, über die Gleisanlagen des Bergwerks Consolidation hinwegzuleiten - nach der Stilllegung der Schachtanlage einbüßte, ist eine bittere Ironie der Stadtplanung, die ohne Not ein urbanes Zentrum strangulierte.
* * *
Folgt man vom Schalker Markt aus der Gewerkenstraße etwa zwei Kilometer in westlicher Richtung, vorbei an Gewerbegebieten und schmucklosen Wohnblocks, nähert man sich der Keimzelle des FC Schalke 04. Zunächst jedoch kreuzt die Gewerkenstraße die Grothusstraße, eine Ausfallstraße, die den Gel- senkirchener Norden mit dem Stadtzentrum verbindet. Folgt man der Gewerkenstraße weiter nach Westen, zweigt kurz darauf rechts die Herzogstraße ab, in die nach wenigen Metern von links die Tannenbergstraße einmündet. Beide Straßen enden abrupt in einem Wendehammer. Bevor die Grothusstraße (die früher Feldstraße hieß und eine Verlängerung der Herzogstraße nach Nordosten war) vierspurig ausgebaut und an der Herzogstraße vorbei in Richtung Stadtmitte weitergeführt wurde, vereinigten sich an dieser Stelle Halden-, Herzog- und Tannenbergstraße zur nach Norden führenden Arenbergstraße. Der geänderte Verlauf der verlängerten Grothusstraße riss Herzog- und Aren- bergstraße auseinander. Die Herzogstraße wurde zur Sackgasse und das Viertel zum toten Winkel, eingeklemmt zwischen Stichstraßen, Industrie- und Gewer- beansiedlungen. Manche Straßen, darunter die Arenbergstraße, sind völlig verschwunden und mit ihnen ein Großteil der alten Wohnbebauung. Heute beherrschen Tankstellen, Autozubehör- und Gebrauchtwagenhändler, FastFood-Ketten und Lebensmitteldiscounter das Bild.
In dieser trostlosen Stadtwüste erinnert nichts mehr daran, dass sich hier im Jahr 1904 im Schatten der Gleisanlagen der Zeche Consolidation und der Schornsteine der Herdfabrik Küppersbusch & Söhne eine Gruppe Halbwüchsiger traf, um ein ambitioniertes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Es waren Schüler, Schulentlassene, Jungbergleute und Handwerkslehrlinge, alle zwischen zwölf und 14 Jahre alt, alle entweder auf „Consol“ oder bei Küppersbusch beschäftigt, die sich im Garten eines Zechenhauses in der - heute nicht mehr existierenden - Hauergasse zwischen Herzogstraße und Goorstraße trafen. Das Haus gehörte den Eltern von Heinrich Kullmann, einem der Jugendlichen aus der Gruppe. Es war etwa 30 Jahre vorher erbaut worden, und seine Dachziegel waren längst geschwärzt vom Ruß der nahe gelegenen Kokerei. Wie die anderen anderthalbstöckigen Häuser links und rechts verfügte es über einen kleinen Gemüsegarten und Stallungen für Ziegen und Schweine, sodass jeder Bergmann eine kleine Landwirtschaft zur Selbstversorgung betreiben konnte. Die Grundstücke waren durch schmale Fußwege und Lattenzäune voneinander abgegrenzt. Hinter den Ställen lagen die Gruben für Dung und Mist, die man auf dicken Bohlen überqueren musste. Unmittelbar hinter den letzten Siedlungshäusern schlossen sich im Norden Wiesen und Felder an. Noch war der äußerste Westen der Gemeinde stark ländlich geprägt, die Ausläufer des Industriedorfes Schalke mündeten in Ackerland.
Es mögen insgesamt zehn Jungs gewesen sein, die im Garten der Kullmanns beieinanderhockten und verschwörerisch die Köpfe zusammensteckten. Ausnahmsweise mussten sie den Eltern nicht in der Landwirtschaft helfen oder Kohlen holen und Holz hacken. Was die Burschen an diesem Tag zusammenführte, war ihre Fußballleidenschaft , der sie seit einiger Zeit auf einer holprigen Wiese ein paar Hundert Meter weiter, beim Haus Goor, einem verfallenen Herrensitz, frönten. Ihre Eltern, die jeden Groschen zehnmal umdrehen mussten, waren alles andere als begeistert von dem neuen Freizeitvergnügen der Söhne. Spätestens wenn ein Paar Schuhe bei der wilden Balltreterei verschlissen worden war, setzte es eine ordentliche Tracht Prügel. Die allerdings keinen der Jungs wirklich abschreckte. Zu groß war der Reiz des Fußballspiels.
Gelegentlich stießen neue Spieler aus der Nachbarschaft dazu, die das grassierende Fußballfieber ebenfalls gepackt hatte. Sie bildeten eine jener Straßenmannschaften, wie sie damals in den Arbeitersiedlungen zu Hunderten entstanden. Platz zum Ballspielen gab es mehr als genug. Trotz des hohen Tempos der Industrialisierung war das Ruhrgebiet noch weitgehend agrarisch geprägt, die neuen Städte waren im Grunde wild wuchernde Dörfer, ohne gewachsene urbane Infrastruktur, mit Freiflächen zwischen Industrieanlagen und Siedlungen, die geradezu einluden zum „Pöhlen“ mit allem, was auch nur entfernt einem Ball ähnelte.
Die Jungs aus Schalke, die in Kullmanns Garten saßen, waren jedoch ehrgeiziger als andere. Sie wollten nicht eine x-beliebige Straßenmannschaft: sein. Sie wollten sich fußballerisch weiterentwickeln, wollten gegen „richtige“ Vereine antreten. Vielleicht war dem einen oder anderen sogar schon vage bewusst, dass sportlicher Erfolg gesellschaftliche Anerkennung bringen, ja sogar ein Schlüssel zum sozialen Aufstieg sein konnte, auch wenn es dafür keine Belege gibt. Wie auch immer, jedenfalls beschlossen sie, ihre Begeisterung für den neuen Sport in die „seriöse“ Form eines Vereins nach dem Vorbild der bürgerlichen Fußballvereine jener Zeit zu gießen. „Was wir jetzt machen, hat doch keinen Zweck. Immer nur untereinander spielen: Wenn wir richtig was lernen wollen, müssen wir gegen andere Gegner spielen“, brachte der Schlosserlehrling Willy Gies, der Wortführer der Gruppe, die gemeinsamen Ambitionen auf den Punkt. Sein Fazit: „Wenn wir es wirklich im Sport zu etwas bringen wollen, dann müssen wir einen eigenen Verein gründen. Alle, die dabei sein wollen, trage ich in mein Notizbuch ein.“9 Am Ende des Gründungsjahres standen die Namen der folgenden Spieler in Gies’ Notizbuch: Adolf Oetzelmann, Johann Kessel, Viktor Krogull, Josef Seimetz, Willy van den Berg, Josef Versen, Ferdinand Gebauer, Johannes Hornung und Heinrich Kullmann, der auch als Kassierer fungierte.
Der große Traum war, irgendwann in den Westdeutschen Spielverband aufgenommen zu werden, um am regulären Ligaspielbetrieb teilnehmen zu können. Wie etwa der BSV Gelsenkirchen, der auf einem Platz am Gelsenkir- chener Stadtgarten spielte, oder Spiel und Sport Schalke 1896 (kurz Schalke 96 bzw. SuS Schalke 96), der sogar schon gegen ausländische Mannschaften antrat.
Davon war man an diesem Tag im Mai 1904 allerdings noch weit entfernt. Bislang besaß der in Kullmanns Garten gegründete Verein, so die Legende, nur einen von einem anderen Verein ausrangierten und bereits zigfach geflickten Ball - und einen Namen: Westfalia Schalke. Für die bereits in Westfalen geborenen Kinder von Zuwanderern aus den deutschen Ostprovinzen kam kein anderer Name in Frage, verlieh er doch ihrer Verbundenheit mit der neuen Heimat treffend Ausdruck. Woran es den Burschen nicht mangelte, war Selbstbewusstsein. „In England sollen kürzlich 90.000 Zuschauer bei einem Pokalspiel gewesen sein“, berichtete Gies den anderen begeistert, nachdem sie noch am selben Tag auf „ihrem“ Platz beim Haus Goor ihr erstes Match als „Westfalia Schalke“ ausgetragen und ihre selbstgebastelten Torstangen, Eckfahnen und den kostbaren Ball wieder im Keller der Ruine verstaut hatten. Und wagte eine kühne Prognose: „Auch unser Verein wird mal vor 90.000 spielen!“10
Einzelheiten über die erste Westfalia-Partie einschließlich des Gegners sind leider nicht dokumentiert, und an Haus Goor erinnern heute nur noch der Name einer kleinen Straße mit schmuck renovierten