Cowboys & Indies. Gareth Murphy

Читать онлайн.
Название Cowboys & Indies
Автор произведения Gareth Murphy
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862871612



Скачать книгу

der Veröffentlichung der immens erfolgreichen »Red Seal«-Serie, in der praktisch alle großen Interpreten aus Oper und Klassik vorgestellt wurden.

      Um Anspruch und Selbstverständnis auch äußerlich zu dokumentieren, zog man mit der Aufnahmeapparatur von der Carnegie Hall zu einer luxuriösen Lokalität auf der Fifth Avenue. Chef-Ingenieur Raymond Sooy wurde Zeuge, wie sich das frühere »Laboratorium« – wie Aufnahmestudios damals noch genannt wurden – in einen betriebsamen Ort verwandelte. Um einen großen Trichter gruppiert, mussten die Musiker nicht nur in einem exakt abgemessenen Abstand stehen, sondern die Violinisten auch eine der bizarr ausschauenden »Stroh-Geigen« spielen, die statt eines Resonanzkörpers einen Trichter-Lautsprecher besaßen. Da die Qualität der Aufzeichnungen nicht umgehend beurteilt werden konnte, musste der Toningenieur nach jedem Take mit einem Vergrößerungsglas das Master inspizieren, um eventuelle Fehler zu entdecken. Fand er eine Unsauberkeit, musste das Instrument identifiziert werden, das für die Verzerrung im Klang verantwortlich war.

      Es konnte nicht überraschen, dass sich viele Interpreten von diesem Umfeld eher abgestoßen fühlten. Sooy erinnerte sich daran, dass ein Opernstar »nach einem ersten Anlauf so nervös wurde, dass er seinen Hut und Mantel nahm, aus dem Studio stürmte und das Orchester ratlos zurückließ«. Auch Komiker und Schauspieler waren anfällig und setzten sich unter einen derartigen Druck, dass »sie ihre Geschichte rückwärts erzählten und sogar ihren eigenen Namen nicht mehr über die Lippen brachten«.

      Sooy lockerte die Zungen mit Alkohol oder nahm besonders wacklige Kandidaten in ihrem Bühnenkostüm auf. »Wenn sie sich ihren alten Hut oder die große Brille überzogen oder ihr angestammtes Make-up trugen, waren sie sofort in der richtigen Stimmung und brachten ihren Vortrag problemlos zu Ende. Auch wenn es kein Publikum gibt, scheint das Make-up immer zu helfen.« Da jeder Künstler seine spezifischen Marotten hatte, musste das Studio-Ambiente auf die jeweiligen Eigenheiten angepasst werden. »Es gab nicht zwei Individuen, die auf ein Studio gleich reagierten. Einige waren nervös, andere selbstbewusst. Einige konnten nicht arbeiten, wenn ein Fremder im Studio war, andere konnten davon gar nicht genug bekommen.«

      Die Welt der Klassischen Musik mochte in punkto Exzentrik nicht nachstehen. Ein Star »beschuldigte einen anderen, seinen Tabakbeutel gestohlen zu haben. Alle machten sich im Studio auf die Jagd nach dem Beutel, konnten ihn aber nicht finden. Einer der Anwesenden bot dem Star seinen eigenen Tabak an, was dieser aber nur mit den Worten quittierte: ›Ich würd’s ja probieren, wenn ich nicht wüsste, dass es ein erbärmliches Surrogat ist.‹ Am Ende fand der Künstler seinen Beutel in der eigenen Tasche.«

      Bei einer anderen Gelegenheit wurde ein notorisch komplizierter Star in den Victor Lunch Club eingeladen. »Der Künstler fand einen Fusel in seinem Wasser, ging umgehend an die Decke und beschuldigte die Anwesenden, ihn vergiften zu wollen. Bei jedem Gang des Menüs pöbelte er, dass es das widerwärtigste Essen sei, das er je zu sich genommen habe. Doch nachdem man dem Künstler einige artige Komplimente gemacht hatte, vergaß er anscheinend das widerwärtige Essen, küsste zum Abschluss sogar die Hand der farbigen Bedienung und schwärmte, wie er das Lunch genossen habe.«

      Raymond Sooy zählte all diese Beispiele nur auf, um sie mit dem Mann zu kontrastieren, der an einem Nachmittag ein paar Arien einsang (und dafür die erkleckliche Summe von 5000 Dollar erhielt) und Victors Image mehr prägte als jeder andere. »Mr. Caruso war der unkomplizierteste Künstler, den man sich nur vorstellen konnte. Er ließ sich im Studio durch nichts aus der Ruhe bringen, er sang praktisch auf Anhieb perfekt und war sich deshalb seiner Sache auch immer sicher.« Sooy lernte zu verstehen, dass »ein außergewöhnlicher Aufnahmekünstler genau so begnadet sein musste wie ein Musiker: Er muss das, was er macht, wirklich im Innersten seines Herzens fühlen, weil es sonst immer nur mechanisch und minderwertig klingen wird«.

      Als die Grenzbäume fielen und die Exporte boomten, wurden Victors Mitarbeiter sogar zu exotischen Plätzen geschickt, um dort lokale Talente aufzuspüren. Die Trips nach Kuba, Mexiko, Argentinien oder Peru waren mit langen Reisen verbunden – und das Aufnahme-Equipment, in Kisten sicher verpackt, war stets mit dabei. Eldridge Johnson regte sogar an, die Ehefrauen mit auf Reisen zu nehmen, und legte auch anderweitig auf eine familiäre Atmosphäre großen Wert. Seinen leitenden Angestellten half er beispielsweise dabei, sich ein eigenes Haus zu kaufen.

      Die treibende Kraft hinter Victors rapidem Wachstum aber war das geniale Marketing von Leon Douglass, einem pfiffigen Exzentriker, der sich unaufhaltsam nach oben gearbeitet hatte. In Nebraska geboren, hatte Douglass nie eine Schulausbildung erhalten, da er schon mit elf Jahren seinen Beitrag zum Unterhalt der Familie leisten musste. Er hatte in einer Druckerei gearbeitet, als Telegrafen-Bote oder als Manager bei der Telefonvermittlung. Da er von der neuen Technologie fasziniert war, hatte er einen Job bei Lippincotts Zwischenhändler in Nebraska angenommen. Als ihm klar wurde, dass wie wenigs­ten Leute das Geld für Edisons ersten Phonographen hatten, war er einer der Ersten, die in den 1880ern eine Jukebox mit Münzbetrieb bauten. Bei der Weltausstellung 1893 in Chicago hatte er in Eigenregie hundert Münz-Phonographen für die Öffentlichkeit aufstellen lassen und damit ein kleines Vermögen verdient.

      Mit seiner 20-jährigen Berufserfahrung hatte Douglass das Geschäft bereits verinnerlicht: Er kannte alle wichtigen Akteure, die Technologie, die Musik, aber vor allem auch die potenziellen Käufer. Eldridge Johnson, der nur auf eine relativ kurze Arbeitspraxis zurückblicken konnte, ließ Douglass bei der Vermarktung freie Hand und zahlte ihm sogar ein höheres Gehalt als sich selbst. Das Vertrauen war gegenseitig: Johnson, so Douglass, »war ein zurückhaltender Mann, hatte aber den brillantesten Kopf, den ich je kennenlernen durfte«.

      Es war auch Leon Douglass, der sofort die ikonische Kraft eines Gemäldes erkannte, das Berliner 1899 von seiner Londoner Dependance erhalten hatte. »His Master’s Voice« von Fran­cis Barraud zeigte einen Foxterrier namens Nipper, der in einen Schalltrichter lauscht, aus dem die Stimme seines toten Herrchens ertönt. Nachdem Johnson Berliners Patente übernommen hatte, ließ Douglass alle Victor-Produkte mit einem Logo ausstatten, das eine stilisierte Version dieses Bildes zeigte. Im Laufe der Jahre sollte sich herausstellen, dass »His Master’s Voice« eines der langlebigsten Trademarks des 20. Jahrhunderts war.

      Als 1905 mit »Talking Machine World« die erste Fachzeitschrift an den Start ging, arrangierte Douglass einen exklusiven Deal, durch den Nipper auf jedem Titelblatt vertreten war. Auch wenn er sich diese Art von Werbung einiges kosten ließ, so war es doch ein cleverer Schachzug, um Victors Anspruch auf die Marktführerschaft zu unterstreichen. »In Sachen von Werbung und Verkauf war Mr. Douglass einer der besten und brillantesten Männer seiner Zeit«, schrieb Johnson. »Von Beginn an bestand er darauf, monatlich mehrere tausend Dollar für Werbung zurückzulegen. Auch wenn diese Strategie für mich anfangs gewöhnungsbedürftig war, so bewies doch die schnelle und anhaltende Umsatzsteigerung die Weisheit seiner Entscheidung.«

      Im August 1906 wartete Victor mit einem neuartigen Modell auf, das den Markt auf den Kopf stellen sollte. Anders als die früheren Phonographen mit ihren Schalltrichtern hatte das »Victrola« die »revolutionären Innen-Trichter« in einem eleganten Holzkabinett integriert. Leon Douglass baute den Prototypen eigenhändig, weil er davon überzeugt war, dass »Damen keine mechanisch ausschauenden Gerätschaften in ihrem Salon sehen möchten ... Mr. Johnson befürchtete, dass wir nicht allzu viele davon verkaufen könnten, und ich war mir selbst etwas unsicher ... Sie sind nun mal in der Herstellung so teuer, dass wir 200 Dollar dafür verlangen müssen. Aber wir verkauften nicht nur die ersten Modelle, sondern setzten im Lauf der Jahre Millionen um. An einem Punkt mussten wir 7000 Menschen beschäftigen, nur um eine ausreichende Anzahl von Holzkabinetts produzieren zu können.«

      Hunderttausende Victrolas wurden verkauft und etablierten Victor als weltweiten Marktführer. Und dank des salonfreundlichen Designs gingen nun auch Hunderte Millionen von Schall­platten über den Ladentisch. Mit ihrer durchschlagenden Werbung, den zahllosen Opernstars und den eleganten Geräten hatten Douglass und Johnson die perfekte Formel gefunden, um den Zeitgeist bei den Hörnern zu packen.

      Douglass allerdings zahlte für den Erfolg einen hohen Preis. Nach der Geburt seines Sohnes – den er Johnson zu Ehren Eldridge taufte – wurde er Opfer eines kapitalen Nervenzusammenbruches. In sieben Jahren hatte er Victor eine marktbeherrschende Position erkämpft, doch die Stimmen in seinem überarbeiteten