Gulaschpuzzle. Lutz O. Korndörfer

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Название Gulaschpuzzle
Автор произведения Lutz O. Korndörfer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947373468



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und die gehen jetzt alle mit mir runter zu meinem Auto«, frohlockte Boris. Er konnte zwar kaum noch stehen, hatte aber immerhin noch den lichten Moment, alle Beteiligten zum Schleppen zu verhaften.

      »Na kommt, zusammen geht’s schnell, packen wir’s!«, rief Helen, sprang auf und klatschte in die Hände. Boris grinste zufrieden und torkelte zur Treppe. Die anderen waren nicht ganz so begeistert, wollten sich aber nicht als Spielverderber outen. Nur Giovanni kam zu mir und sagte:

      »Ich muss runter in die Laden, kriege Krach mit Maria. Kommstu später runter mit Signorina und esst was Gutes!?«

      Er dampfte ab, während sich der Rest unter Helens Anleitung als Menschenkette auf der Treppe und im Hof postierte. In der Tat war die Sache piff-paff erledigt. Die Helfer hatten zwar nicht mehr das motorisch-sensorische Feingefühl, um wirklich alles festzuhalten, aber es gab durchaus Gegenstände, die heil nach oben gelangten. Je mehr Sachen die Treppe hinunterpolterten, desto lustiger wurde die ganze Angelegenheit. Ein paar Hausbewohner blickten verwundert und genervt aus ihren Türen. Einige stießen aber sogar zu uns, um zu helfen.

      3. Honecker, Hrubesch, Hölderlin

      Giovannis Laden war gut gefüllt. Etwa die Hälfte der Leute kannte ich bereits aus meiner Wohnung oder vom letzten Abend. Der Freak war auch wieder da. Er malte exakt das gleiche Bild wie gestern. Mir wurde schwindelig. Das passierte mir immer, wenn Menschen ständig das Gleiche taten und sich nichts veränderte. Ich hoffte, dass er mich nicht bemerken würde. Giovanni führte uns in den Nebenraum, in dem bereits zwei Pärchen saßen. Insgesamt gab es dort sechs Tische, die Fenster gingen hinaus auf einen gemütlichen Innenhof. Helen und ich nahmen an einem Fenstertisch Platz. Giovanni zündete uns eine Kerze an und trug mündlich die Speisekarte vor.

      Wir wählten beide Rigatoni mit Steinpilzen, wobei ich es vorzog, heute fürs Erste auf weitere Alkoholika zu verzichten. Also bestellte ich mir eine Cola; Helen trank ein Glas Wein. Das Kerzenlicht betonte ihre hübschen Wangen, und ihre großen blauen Augen lachten bei jedem Wort. Helens Haare waren immer noch gelockt, aber nicht mehr so lang wie früher. Sie war knapp ein Jahr jünger als ich, 33. Schon im Alter von 15 Jahren war sie nach Berlin gezogen, weil ihr Vater damals einen Job als Chefarzt in einer Klinik angenommen hatte. Helen gehörte zu den Menschen, die relativ viel redeten, aber auch sehr gut zuhören konnten. Dies begründete auch ihren beruflichen Erfolg, falls man eine Karriere bei Freakshows im privaten Internetfernsehen als Erfolg werten wollte. Mir war das egal. Wenn sich die Leute so was ansahen, konnten sie nicht gleichzeitig auf der Straße andere Menschen verprügeln. So gesehen war dieser Auftrag gar nicht so unwichtig und sozusagen präventiv.

      »Hast du nicht manchmal Angst in deinem Job?«, fragte ich sie.

      Sie lachte. »Nicht mehr als vor dir jetzt. Du siehst ziemlich verwirrt aus, und kennen tu ich dich auch nicht mehr so wirklich.«

      Ich grinste zurück und fuhr mir ordnend durch die halbnassen Haare.

      »Sag, was machst du jetzt hier in Berlin, außer Privatpartys veranstalten?«

      Ich erzählte ihr die Love Land-Geschichte. Helen fand das Ganze etwas merkwürdig.

      »Was machst du denn da genau?«, fragte sie.

      Beschämt musste ich gestehen, dass ich noch gar nicht so richtig wusste, was ich zu tun hatte. Ich beschloss, mir baldmöglichst die Love Land-Unterlagen zu Gemüte zu führen.

      »Wollen wir später noch woanders hingehen?«, fragte ich.

      »Würde ich gerne, ich hab aber morgen zwei heftige Sendungen und muss ja auch noch zurück nach Potsdam. Ein andermal, ja?«

      »Ein andermal« hieß bei den meisten Frauen: Typ, schwirr ab, reicht, dass ich den einen langweiligen Abend mit dir verbringen musste. Auf der anderen Seite hieß: »Ich muss noch zurück« in Verbindung mit der Bestellung eines weiteren alkoholischen Getränkes: Ich will bei dir bleiben heute Nacht, in deinen männlichen, kräftigen Armen. Analyse Love Land-Agent Ullmann.

      »Wie kommst du denn nach Hause?«, fragte ich nach diesen Gedanken fast etwas spöttisch.

      »Och du, nach 22 Uhr krieg ich ’n Taxi bezahlt. Ich geb’ dich als potentiellen Gast an. Hihi.«

      »Ah so …«, sagte ich gedehnt und musste über mich selbst lachen. Helen war eine wirklich nette Person. Ein guter Freund. Wie konnte ich da ein harmloses Gespräch auf sexuelle Botschaften abklopfen? Wir plauderten noch einige Getränkelängen und hatten viel Spaß. Dabei kramten wir alte Geschichten aus der Schule hervor, und sie erzählte mir von ihren Jahren in Berlin, den Problemen mit ihrem Ex-Mann, den eine Kollegin – ohne zu wissen, wer er war – in die Sendung geschleppt hatte. Thema: »Warum hast du mich verlassen?« Er hatte ihr vor der Sendung schon eine riesige Szene gemacht und dann eine peinliche Ansprache vor Publikum gehalten. Helen war zwei Wochen krank, konnte die Blicke der Kollegen nicht ertragen. Ihr Privatleben in der eigenen Sendung: Das war zu viel. Da hatte sie eigentlich alles hinschmeißen wollen. Aber sie machte weiter. Reichte die Scheidung ein und zog von Zehlendorf nach Potsdam. Sie begann, ehrenamtlich für eine Hilfsorganisation zu arbeiten, die sich um rumänische Straßenkinder kümmerte. Sozusagen als Ausgleich für das geringe karitative Potential des Privatfernsehens. Ein neuer Mann fehlte seitdem in ihrem Leben. Allein sei sie stärker, sagte sie. Keiner, den sie mitziehen oder aus dem Dreck holen müsse. Typen nervten sie nur. Weil sie alles wüssten und könnten. Und das auch noch selbst glaubten.

      »Du bist anders«, sagte sie plötzlich. »Bei dir hab ich nicht das Gefühl, dass du mir Pudding mit Blaubeersoße vom Himmel runterredest und nur darauf wartest, dass wir vögeln gehen.« Und fügte hinzu: »Könnt’ ich mir mit uns auch gar nicht vorstellen.«

      »Äh, was … nein? N…ein«, stammelte ich, etwas überfordert durch meine Klassifizierung zum asexuellen Hanswurst.

      Als Mann sei es eine Ehre, der Freund einer Frau zu sein, hatte mir mal ein Bekannter gesagt. Ich hatte dann zwischenzeitlich so viele Frau-Freunde gehabt, dass ich vor lauter Reden gar nicht mehr zum Onanieren gekommen war. Ich hatte genug davon. Danach suchte ich mir meine Freundinnen nur noch nach stringent sexuellen Gesichtspunkten aus. Das Reden überließ ich anderen. Der kluge Bekannte outete sich schließlich nach zwei Jahren, und ich vermied es jahrelang kategorisch, mir nochmal einen Rat in Beziehungsfragen von einem Schwulen oder potentiell Schwulen erteilen zu lassen. Helen als Frau-Freund fand ich jetzt aber gar nicht so schlecht.

      »Da hast du Recht. Ich könnt ’s mir auch nicht vorstellen«, sagte ich entschlossen. Bestimmt arbeitete diese Aussage jetzt auch in ihr. Ein Big-Love-Land-Startup-Relation-Management-Chef weiß Bescheid.

      Ich redete mit Giovanni über einen Wertausgleich bezüglich der Speisen. Schließlich hatte ich noch nichts bezahlt, weder das Essen gestern, noch den Wein und das Essen heute. Ich fragte, ob eine Stundung für eine Woche möglich sei, da ich bis dahin vielleicht einen kleinen Vorschuss von Love-Norbert bekommen hätte. Giovanni lachte und klopfte mir auf die Schulter.

      »Du siehst aus wie ehrlicher Kerl. Komm, wenn du kannst bezahle, dann machen wir Preis unter Freunde.«

      Ich bedankte mich und verließ mit Helen das Lokal. Draußen spürte ich die Blicke des Freaks in meinem Rücken und erwartete, dass mich eine hässlich bemalte Glasscheibe von hinten treffen würde. Als ich durch das Fenster hineinblickte, sah ich ihn jedoch mit Rafaele ins Gespräch vertieft. Rafaele gestikulierte, der Freak redete laut. Ich dachte nur an die italienischen Kirchen mit ihren herrlichen Fresken und Fenstermalereien und litt mit Rafaele für das, was seine Augen zu ertragen hatten. Helen lachte zum Abschied noch einmal herzlich und sagte:

      »Wirklich schön, dass du jetzt in Berlin bist.«

      Sie dankte mir für das Essen, und ich fand es schön, dass ich nun einen Frau-Freund in Berlin hatte.

      Boris schnarchte wie ein Elefant mit Samenstau, und nach der dort herrschenden Verwüstung zu schließen, musste er das Bad mehrmals aufgesucht haben. Es roch nach Wein und verdauten Speisen. Ich riss das Fenster auf und versprühte eine halbe Flasche Jil Sander Man. Auch in der