Название | Gulaschpuzzle |
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Автор произведения | Lutz O. Korndörfer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373468 |
Schweigend saßen wir in der U-Bahn. Als wir vor unseren Wohnungen ankamen, stammelte er noch: »Tom, du bist ein amtlicher Skelett… Skelettpflücker. Hab Dank für deine Hilfe.«
»Dr. Paul, es war mir eine Ehre«, sagte ich feierlich, und der Doktor torkelte die Treppe hinauf.
Ich wollte noch nicht schlafen gehen, stellte meinen Fernseher ans Bett, kramte in meiner Kabelkiste und suchte die Anschlussbuchse. Die Dose in der Wand war so altersschwach, dass ich mich kaum traute, das Kabel hineinzustecken. Ich legte mich aufs Bett und zappte rauf und runter. Eine »Best-of«-Sendung des Talkshow-Bodensatzes wurde ausgestrahlt. Ich hatte festgestellt, dass es für mich kein geeigneteres Schlafmittel gab als Talkshows und Teleshopsendungen. Allerdings durften keine Sexhotline-Werbespots dazwischenkommen. Die waren zu hektisch und zu blöd. Keine Ahnung, wie man davon geil werden konnte. Bei mir verfehlte die Werbebotschaft eindeutig den erwünschten Effekt. Gerichtsshows waren auch nicht geeignet, da ich mich immer sofort auf Anschlussfehler und die falsche Grammatik innerhalb der Dialoge konzentrieren musste. Am besten waren Talkshows, obwohl es leider kaum mehr welche gab. Das war früher besser gewesen, da hatte man sich fast zu jeder Tages- und Nachtzeit in den Schlaf labern lassen können. Man sollte die letzten Vertreter dieses TV-Genres dringend unter Artenschutz stellen.
Jetzt hatte ich aber noch eine überlebende Sendungs-Spezies aus den Staaten erwischt. Die Stimmung war ausgelassen. Jeder ließ seinen Frust raus und alle gingen unter dem Gejohle der Zuschauer aufeinander los. Großartige Show. Erstklassig. Alles krankes Fleisch. Kranke, ausgesucht und zur Schau gestellt von modernen Schaustellern. Vielleicht hätte auch Dr. Paul eine übersinnliche Psycho-Show im Fernsehen bekommen sollen. Mit toten und lebenden Teilnehmern. Schön ausgewogen. Paritätisch. Ohne Vorurteile und so. Man soll ja Tabus ruhig mal ansprechen.
Vielleicht war ich aber auch der Kränkste von allen und hatte eine gefährliche Vorstelleritis im Kopf, unbehandelt und jederzeit bereit, den gefürchteten groben Unfug ungefiltert hereinzulassen.
4. Die Furzferkel
Donnerstag. Heute war mein erstes Love Land-Meeting. Ich stand relativ früh auf, um den Termin bloß nicht zu verpassen. Boris saß in der Küche. Er hatte eingekauft, drei große, gefüllte Plastiktüten standen auf dem Fußboden. Auf dem Tisch lagen ein Berg Fleisch und ein seltsamer Metallrahmen. Sah aus wie ein Plätzchenausstecher, nur für hundert Plätzchen auf einmal.
»Was machst du da?«, fragte ich irritiert.
»Gulaschpuzzle.«
»Was?«
Boris setzte einen kompetenten »Erklärbar«-Gesichtsausdruck auf.
»Das – ist eine Puzzlestanze«, referierte er und hob den Metallrahmen in die Höhe. »Die hab ich im Flur gefunden. Und das hier – ist ein Gulaschpuzzle. Rinderfilet besorgen, Stanze drauf, zack, fertig.«
»Du bist ja total durcheinander.«
»Na, na«, sagte Boris und hob den rechten Zeigefinger, »die Fleischer-Innung wird ausrasten. Such mal lieber das Eckstück hier!«
Amüsiert nippte ich an meinem Kaffee und beobachtete, wie er akribisch die Fleischstücke zusammensetzte. Unser Flur schien ungeahnte Schätze zu bergen.
Vor dem Haus traf ich Giovanni und seine Frau, die mir einen guten Morgen wünschten. Freundlich winkend rannte ich zur U-Bahn. Es war ziemlich kalt, obwohl die Sonne schon den ganzen Morgen schien. Für die halb melancholischen, halb erwartungsvollen Stimmungen, die das eigentümliche Licht in der fast frostigen Atmosphäre erzeugte, war ich sehr empfänglich. Mir gefiel die Stadt in ihrer Mischung aus laut und leise, alt und neu, freundlich und abstoßend. Für einen Moment blickte ich noch aus dem Fenster ins Sonnig-Helle, dann ratterte die U-Bahn in ihren Schacht. Ich schaute mich um und versuchte die vielen Menschen zu analysieren. Wer von ihnen war wohl ebenfalls neu hier, wie ich? Und ob sie auch irgendwohin fuhren, ohne recht zu wissen, was sie dort erwartete? Die meisten verließen die Bahn fest entschlossen, andere so, als wäre es gleichgültig, ob sie hier oder erst an der nächsten oder übernächsten Station aussteigen würden. Vielleicht sollten wir einfach mal an einer anderen Lebenshaltestelle aussteigen und die Welt von dort aus betrachten, nicht immer von derselben. Vielleicht wartete nur diese eine Station weiter genau das, was wir suchten. Über solchen bahnbrechenden philosophischen Analysen verpasste ich prompt meine Station, beschimpfte mich lauthals selbst und musste wieder zurückfahren. Nun war es schon nach 10 Uhr, und ich hasste Zuspätkommen.
Pawliczek dachte wohl ähnlich, denn er schaute demonstrativ auf seine überdimensionale Uhr am Handgelenk, sagte aber nichts. Das Frollein Hennich hatte mir weitere kostbare Minuten gestohlen. Erst wollte sie mich nicht erkennen, und als sie mich dann mit theatralischer Geste wieder aus dem hintersten Winkel ihres überschaubaren Gedankenlagers hervorgekramt hatte, glaubte sie, mir sofort eine wundersame Anekdote aus ihrem bewegten Leben auftischen zu müssen.
Pawliczek führte mich nach einer knappen, aber lautstarken Begrüßung in ein Besprechungszimmer, in dem bereits neun weitere Personen saßen.
»So, det sind denn jetzt alle!«, rief er in die Runde und baute sich am Kopfende des Besprechungstisches auf. Ich schnappte mir einen Stuhl an der gegenüberliegenden Seite, während er mich den anderen vorstellte. Es waren dies: Aus der Abteilung »Relationship & Statistics« »Love Coordinator« Severin, ein aschfahler Mittvierziger mit angegrauter Betonfrisur, Betongesicht und glupschigen Augen. Er war für die Auswertung der Daten zuständig und trug passend dazu einen Zwei-Bit-Gesichtsausdruck (an – aus) und einen riesigen aufgeklappten Laptop vor sich her. Im Laufe des Meetings hämmerte er immer wieder auf die Tastatur ein, als wolle er sie ein für allemal totschlagen. Dabei verzog er nach wie vor keine Miene. Sein Kollege, Assistent, Praktikant oder sonst was, Manuel, saß direkt neben ihm, sagte kein Wort und versuchte auch, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Er war Anfang zwanzig, untersetzt, schwarzhaarig und genauso blass wie sein Vorgesetzter.
Dann kamen die »Love Angels«: vier Frauen, zwei Männer. Drei der Mädels unterschieden sich nur durch ihre Haarfarbe. Bei Aussehen, Styling, Frisur, Klamotten und sogar bei den Stimmen von Mareil (blondiert), Svantje (brünettiert) und Sandra (schwartiert) waren so gut wie keine Unterschiede auszumachen. Sie sahen aus wie eine Versuchsreihe aus dem Genlabor. Ich dachte an Carmen. Die männlichen Kunden der Agentur schienen eine Vorliebe für schulterlanges, leicht gewelltes Haar, Pausbäckchen, Jeans und lasziv aufgeknöpfte, halbwegs gut gefüllte helle Blusen zu haben. Auf ihre einfache Art waren sie hübsch, aber nicht sonderlich spektakulär. Musste vielleicht so sein. Wegen des nachhaltigen Sich-Verliebens und so. Chantalle repräsentierte hingegen eher die Kategorie »Feger«, und vermutlich wurde sie als »Startup-Relation-Manager – schnelle Eingreiftruppe« eingesetzt. Dunkelhaarig, dunkeläugig, dunkelhäutig, dunkelstimmig, das »dunkel-« wahlweise durch »samt-« zu ersetzen, und blendend aussehend. Ihr Styling war sehr edel, ihr perfekter Körper steckte in einem einteiligen schwarzen Anzugkleid. Im Laufe der Zeit musste ich feststellen, dass sie zudem noch schlau, schlagfertig und sympathisch war. Eine Frau mit den drei S. Furchteinflößend.
Gero und Ron bildeten meine Verstärkung auf männlicher Seite. Gero war noch größer als ich, hatte zurückgekämmte, schwarze Haare, und sein entspanntes Lächeln wirkte wie eine Oase der Ruhe in der aufgeregten Menschenrunde.
Ron war ein Kleiner, Kräftiger, mit Backenbart, ein massiger Kerl, Typ »Bärchen«, mit einem großen Kopf. Trotzdem sah er angenehm proportioniert und gewinnend aus. Eine dicke Silberkette umrankte seinen massiven Hals und silberne Kreolen baumelten von seinen Ohrläppchen, die eher schon fast ausgewachsene Ohrlappen waren. Bei uns Jungs hatte sich Pawliczek etwas mehr Individualität gegönnt, wir waren wirklich drei komplett verschiedene Typen.
Komplettiert wurde die Runde durch »Disponentin« Michaela, groß und kräftig, mit kurzen strähnigen Härchen.