Gulaschpuzzle. Lutz O. Korndörfer

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Название Gulaschpuzzle
Автор произведения Lutz O. Korndörfer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947373468



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herum und stieß unappetitliche Flüche aus.

      »Vier Kilometer zur nächsten Tanke! Kommste mit?«

      »Und wenn jemand die Sachen klaut?«, versuchte ich mich billig zu drücken.

      »Klaut keiner!«

      »Ja richtig. Genauso, wie der Sprit reicht.«

      Boris warf mir einen vernichtenden Blick zu.

      »Is’ ja gut, brauch das meiste davon sowieso nicht mehr«, seufzte ich.

      Mit zwei Kanistern und diversen Säften bestückt machten wir uns auf den Weg. Es war halb elf Ende Oktober, dunkel und kalt. Die vorbeifahrenden Autos hatten offensichtlich ihren Spaß daran, uns mit Wasser vollzuspritzen. Ich hasste Laufen. Schon immer. Und heute besonders. Je länger wir marschierten, umso idiotischer kam mir dieser ganze Umzug mal wieder vor.

      »Mitarbeiter bis 35 Jahre für außergewöhnliche Partnerschaftsagentur in Berlin gesucht. Voraussetzung: Gepflegtes und ansprechendes Äußeres, gute Umgangsformen und Führerschein Klasse drei«, hatte auf dem gescannten Ausschnitt aus dem Tipp gestanden, den mir Boris gemailt hatte. Ich hatte mich lange gefragt, ob sich dahinter wohl ein geheimes Programm verbarg, Menschenware in eine Stadt zu treiben, die sich in der letzten Zeit doch mächtig übernommen zu haben schien. Eine obskure Maklervereinigung, die, kaum dass ich meine Bewerbung geschickt hätte, schon mehrere tausend Euro Kopfgeld für mich einstreichen würde. Unnötig, zu erwähnen, dass ich Makler mochte wie Erkältungen. Allen Verschwörungstheorien zum Trotz siegte schließlich meine Neugier, und ich schickte meine Unterlagen in Sachen »Brüllerjob« in die Hauptstadt.

      Die Altersanforderungen konnte ich mit 34,8 Lebensjahren ebenso knapp erfüllen wie die verlangten Umgangsformen. Mein Äußeres war überwiegend gepflegt, wenn ich es denn so weit kommen ließ, und mein Bewerbungsfoto ließ mich durchaus ansehnlich erscheinen. Schulterlange dunkelblonde Haare, deren Fransen ich mit Klebeband hinten an den Hals geklebt hatte, um ein seriöseres Bild abzugeben. Mit der Mode hatte ich es nicht so, das war mir zu anstrengend. Getreu dem Motto »Natürliche Schönheit kann durch nichts zerstört werden«, zehrte ich von meinen braunen Augen, den sportlichen ein Meter 90 mit Schuhgröße 45 und diesen Grübchen. Weiß der Henker, warum Frauen so was gut finden. Das waren doch nur Falten am Mund. Ich hatte schon überlegt, Schönheitschirurg zu werden und mich auf Grübchenimplantate zu spezialisieren. Zu guter Letzt: Den Führerschein hatte ich auch gerade wiederbekommen.

      Dieses Leistungspaket, so hoffte ich, würde mir die gewünschte Aufmerksamkeit verschaffen. Und in der Tat: In einem knappen Telefonat schrie mir ein gewisser Norbert Pawliczek meine neue Bestimmung in die Gehörgänge.

      »Komm’ Se her! Ick find Se sympathisch, junger Mann! Den Rest besprechen wa späta, wenn Se hier sin.«

      Er erzählte noch einiges wirre Zeug und fragte, ob »er denn Montag in eener Woche« anfangen könne. Berliner nutzen gerne die dritte Person Singular, wenn sie zum Siezen zu cool und zum Duzen zu spießig sind. Klar könne »er«. Und als zwei Tage später der Vertragsentwurf im Briefkasten lag, ertappte ich mich dabei, ob der doch relativ fürstlichen Entlohnung für einen, sagen wir Branchenfremden, wieder die wildesten Schleppertheorien zu entwickeln.

      So zog ich also mit Sack und Pack ins geweihte Land meines Gurus Norbert Pawliczek, um stinkreich zu werden – oder mir zumindest zu beweisen, dass all dies einen Haken haben musste.

      Nach fast einer Stunde und kurz bevor sich meine Schuhe aufgelöst hatten, erreichten wir die Tankstelle. Den Ballast der Säfte hatten wir derweil absorbiert und abgeworfen, mit sechs Euro Diesel und zwei Euro neuem Saft traten wir den Rückweg an.

      »Wat ist dat denn? Wat zum Henker is hier los?«

      Boris echauffierte sich fürchterlich. Ich zog zwei Säcke mit Wäsche hinter mir her und setzte sie auf dem letzten Treppenabsatz vor dem dritten Stock ab.

      »Was ist los?«

      »Jetzt guck dir die Veranstaltung an!«

      Ich sprang die Stufen nach oben und sah Boris, der sich abmühte, die Eingangstür zu unserer Wohnung zu öffnen. Leider war dies nicht ohne weiteres möglich. Ein Berg von Pappschachteln und anderen undefinierbaren Gegenständen war im Flur gestapelt und verhinderte das vollständige Zurückschwingen des Türblattes. Wir quetschten uns durch den schmalen Spalt in unseren Wohnstall.

      »Tolle Bude«, bemerkte ich anerkennend.

      »Hätt’ sie mir mal ansehn soll’n«, grummelte Boris.

      »Du hast sie dir nicht angesehn?«

      »Nee, hatte keene Zeit. Stress, weeßte?«

      »Na toll. Du geiler Makler, du!«

      »Streber! Wohnungen vorher anschaun is doch für Bausparer.«

      Wir grinsten uns an.

      »Was ist hier eigentlich los, wohnt hier ein Aktionskünstler?«

      »Messiwohnung vom Feinsten. Wie aus’m Fernseher.«

      Wir hatten uns durch den Türspalt hindurchgezwängt und versuchten, das aufgetürmte Gerümpel einer konkreten Anwendung zuzuordnen. Alte Aktenschränke, Kaffeekannen, Lampen in diversen Farben und Formen, ein Rasenmäher (Benziner), Stahlhelme, leere Korbflaschen, alte Klamotten und mindestens dreißig Plastikgiraffen verstopften zusammen mit unzähligen weiteren Gegenständen den langgestreckten Flur, der in einem unsäglichen Gelbton gehalten war. Es roch nach einer Mischung aus Sprit, Moder und Mottenkugeln. Wir wateten langsam vorwärts und passierten die Türen zur Küche (mäßig vermüllt), zum Bad (komplett vermüllt) und standen schließlich vor zwei Türen, die das Ende des Flures spitz zulaufen ließen. Jetzt stand uns das komplizierte Ritual der Zimmeraufteilung bevor. Wir blickten einander herausfordernd wie zwei Gladiatoren an. Dann stürmte Boris unvermittelt auf die rechte Tür zu.

      »Mach sitz!«, rief ich hastig, riss blitzschnell die Türen beider Zimmer auf, blickte kurz in jedes hinein und baute mich triumphierend vor dem linken auf. »Nö, nö, nöö, das gilt nicht«, lamentierte Boris.

      »Doch, das gilt.«

      »Das machen wir doch gar nicht mehr.«

      »Doch, und ob wir das noch machen!«

      Mach sitz! war ein uralter Brauch unserer Jugendclique. Nach Ausruf der Formel war der Empfänger des Befehls zum augenblicklichen Verharren verdammt, während der Befehlende fünf Sekunden lang alles ringsherum nach Belieben verändern durfte, einschließlich des Zwangsgelähmten selber. Der Ausruf eignete sich bestens, um ein letztes Bier zu erhaschen, Schläge zu vermeiden oder einfach nur derbe Streiche zu spielen. Der Klassiker: Beim Hinsetzen den Stuhl wegziehen. Und da der Geschädigte genau da weitermachen musste, wo er aufgehört hatte, musste auch jede Bewegung fortgeführt werden. Ein großer Spaß. Es war streng verboten, sich dem Spruch zu widersetzen oder ihn innerhalb der nächsten fünf Stunden gegen den Ausrufer seinerseits zu benutzen – durch diese Regelung sollten direkte Racheakte ausgeschlossen und Pattsituationen verhindert werden. Wer dagegen verstieß, musste für den Rest des Tages für alle Getränkekosten aufkommen.

      Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass die Welt ein ganzes Stück besser wäre, wenn sich alle Menschen am Mach sitz!-Ritual beteiligen würden.

      Ich hatte das kleinere der beiden Übel gewählt. Mein Zimmer ging zum Hof hinaus, es standen lediglich Flaschen darin und es roch nach Suff; in Boris’ Zimmer standen Pflanzen und alte Matratzen, es roch nach abgelaufenen Lebensmitteln und es war laut – sogar noch jetzt um ein Uhr nachts. Allerdings war der Fußboden in meinem Zimmer wirklich voll. Durch einen schmalen Trampelpfad von der Tür zum Fenster lugten die Dielen Hilfe suchend hervor, ansonsten deckten die Flaschen die Bodenfläche komplett ab, an den Rändern sogar in zwei bis drei Ebenen übereinander. Ich vermutete, dass ich von der Pfandrückgabe bequem ein halbes Jahr den Mietzins bestreiten konnte. Die Wände meines Zimmers verhöhnten mich mit einem unfassbaren Aggro-Türkis.

      Boris hatte sich seinem Schicksal gefügt und suchte das Bad auf.

      »Tom, das geht gar nich, inner