Mist, die versteht mich ja!. Florence Brokowski-Shekete

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Название Mist, die versteht mich ja!
Автор произведения Florence Brokowski-Shekete
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944666785



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geschmückt, die Kirche pflichtbewusst besucht. Aus der Sicht eines Kindes gab es stets etwas, worauf ich mich freuen konnte. An Freitagen wurde es in Gedenken an Karfreitag vermieden, spitze Gegenstände zu verwenden. Natürlich kam auch nur Fisch auf den Tisch. Für meine Eltern stand meine Einbeziehung in die evangelische Kirche nicht im Widerzuspruch zu ihrem baptistischen Bekenntnis. Dieses basierte schließlich ebenfalls auf dem evangelischen Glauben.

      Immer wieder Freitag

      Meine früheste Erinnerung an einen dieser Freitage, an denen meine Eltern mich abholten, führen mich in mein drittes Lebensjahr zurück. Meine Eltern hatten mich bei Mama abgeholt und wir waren auf einem Schiff, das uns nach England bringen sollte. Meine Mutter und ich waren schwer seekrank. Ein weißer Arzt betreute uns. Ich erinnere mich, dass er nett war, ich fand alle Menschen nett, die weiß waren, denn sie erinnerten mich an Zuhause.

      Mein Vater hatte die einzig vorhandene Tablette gegen Seekrankheit in drei Teile geteilt. Er hatte es gut gemeint. Doch half diese geringe Dosis weder meiner Mutter noch mir. Warum meine Eltern sich im Vorfeld nicht erkundigt und ausreichend Medikamente dabeihatten, weiß ich nicht. Das widersprach wahrscheinlich ihrer Spontanität.

      Die Erinnerungen an diese Reise prägten sich tief ein, obwohl ich noch sehr klein war. In Großbritannien angekommen, machte ich die Bekanntschaft vieler Kinder, vieler Schwarzer Kinder, und ich hatte schon damals das Gefühl, mein Spiegelbild zu betrachten. Diese kleinen Schwarzen Kinder faszinierten mich. Ich starrte sie immer lange an. Ich habe es gemocht, mit ihnen zu spielen, obwohl ich ihre Sprache – und sie meine – nicht verstanden. Wir rannten draußen herum und liefen durch das große Haus, in dem wir zu Besuch waren. Spielsachen waren nur wenige vorhanden, dennoch hatten wir viel Spaß miteinander.

      Noch mehr Spaß hatten wir mit einem riesengroßen Hund. Obwohl der Hund größer war als ich – Fotos beweisen es –, hatte ich keine Angst vor ihm.

      Warum weiß ich nicht. Auch erinnere ich mich nicht an das Feuer oder daran, dass mein Vater mich plötzlich über den Balkon hielt und fallen lassen wollte, in der Hoffnung, unten würde mich jemand auffangen. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, soll ihn von dieser Rettungsaktion abgebracht haben. Und das war nicht das Einzige, wovon meine Eltern abgebracht wurden.

      Schon während der kurzen Besuchswochenenden hatte ich regelrecht Angst entwickelt, nicht wieder heil zu Mama zurückzukommen, oder mein Zuhause ganz zu verlieren. Angst, dass mir jemand Mama wegnehmen könnte. Mama auf der anderen Seite war stets besorgt, ob sie mich wohl wieder zurückbrächten. Sicher konnte sie nie sein.

      Und wie sich herausstellen sollte, war Mamas Sorge nicht unbegründet. Meine Eltern hatten in der Tat vorgehabt, mich bei ihren Verwandten in England zurückzulassen. Diesen Plan hatten sie ohne Absprache mit Mama gefasst – wie immer spontan, willkürlich. Ihr Vorhaben scheiterte wohl an Menschen, denen es gelang, ihnen ins Gewissen zu reden – und sie so zur Vernunft brachten.

      Nachdem diese konkrete Gefahr erst einmal gebannt war, verging einige Zeit. Sie war geprägt von den Besuchsattacken meiner Eltern, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zogen. Mama hatte ihre liebe Mühe, sie bei Laune zu halten, wenn es mal wieder hieß: »Gut, dann nehmen wir Flori halt mit.« Der Pfarrer wirkte in solchen Momenten ebenfalls beruhigend auf meine Eltern ein und schaffte es immer wieder, sie von ihren Plänen abzubringen. Ich wurde älter und wusste allmählich, obwohl ich noch im Vorschulalter war, mit den verschiedenen Gefühlslagen und unterschiedlichen Leben, denen ich ausgesetzt war, umzugehen. Ich lernte schnell, wann und wo welche Gefühlsregung erlaubt und angebracht war. Zu den nicht erlaubten Gefühlen gehörte es, Heimweh zu zeigen, wenn ich bei ihnen war. Bei ihnen in ihrer Wohnung ohne Spielsachen zu sein und Langeweile zu bekunden, gehörte ebenfalls nicht zu den erlaubten Gefühlen. Bei ihnen in ihrer Stadt zu sein und auf ein kindgerechtes Freizeitprogramm oder einen kindgerechten Tagesablauf zu hoffen, gehörte ebenfalls nicht zu den erlaubten Erwartungen. Sie holten mich ab, ich war bei ihnen – das war’s.

      Eine Zeitlang wohnten sie auch in Buxtehude. Wenn ich sie dann besuchte, war das besonders komisch für mich, denn Buxtehude war für mich mein Idyll mit Mama und Oma. War ich es gewohnt, morgens ein Frühstück zu bekommen, mittags ein Mittagessen und abends ein Abendbrot, musste ich mich bei ihnen umstellen. Die Nacht wurde zum Tag, der Tag zur Nacht. War ich wieder zuhause, schlief ich die darauffolgenden Tage. Schlafen, um innerlich zurückzukehren. Besondere Erlebnisse, Ausflüge, was auch immer im Gedächtnis eines Kindes hängenbleibt, Fehlanzeige. Möglicherweise habe ich diese auch verdrängt. Ich kann mich einfach an nichts erinnern, was das Herz eines Kindes hätte höherschlagen lassen. Im Gegenteil, ich verspürte stets eine Panik, dass sie mit dieser Aktion, diesem Ausflug, dieser Reise etwas planten, was mich aus meinem Zuhause herausreißen könnte.

      Mit der Zeit lernten wir, mit dem Lebensstil meiner Eltern umzugehen und bestimmte Themen geschickt zu vermeiden. Zahnarztbesuche waren aus ihrer Sicht zum Beispiel für ein Kind völlig unnötig. Eine Plombe, die mir notwendigerweise einmal eingesetzt wurde, versuchte mein Vater mit einer Schere wieder herauszuholen. Noch heute erinnere ich mich an diese Situation, als wäre sie gestern gewesen, wie ich mit meinem Vater im Hausflur stand, er die Schere in der Hand, und ich mit weit geöffnetem Mund, wie Mama versuchte, diesen Eingriff zu verhindern. In Zukunft verschwiegen wir solche Arztbesuche, was meinen Vater jedoch nicht daran hinderte, jedes Mal, wenn wir uns sahen, zuerst einen Kontrollblick in meinen Mund zu werfen.

      Ich verstand schnell. Zahnarzt? Nein, wie käme er denn darauf? Ich wusste, dass Lügen grundsätzlich verboten waren, doch ich begriff, dass es in Ordnung war, meinem Vater nicht immer die Wahrheit zu sagen. Ich wusste, was zu unnötigem Ärger führte, und konnte schnell einschätzen, wessen Entscheidung gut für mich war und wo es nur um einen Machtkampf ging. Da Mama die offizielle Pflegeerlaubnis vom Jugendamt besaß, war sie von dieser Seite abgesichert und verantwortlich, für mein gesundheitliches Wohl zu sorgen.

      Ich vermisste meine Eltern nicht, ich brauchte sie nicht, ebenso wenig hatte ich das emotionale Verlangen, sie zu sehen oder mit ihnen Zeit zu verbringen. Wenn sie uns besuchten, freute ich mich jedes Mal nur auf eines – nämlich auf den Moment, wenn sie wieder gingen.

      Mit knapp fünf Jahren bekam ich einen Bruder. Meine Eltern lebten zwischenzeitlich wechselweise in unterschiedlichen Bundesländern. Das Studium meines Vaters ging voran, meine Mutter machte eine Ausbildung zur Diätassistentin. Ob meine Mama meinen Bruder ebenfalls bei sich aufnehmen könne, wollten sie wissen. Denn das Problem, mit einem kleinen Kind ein Studium und eine Ausbildung zu absolvieren, war auch nach fünf Jahren noch dasselbe. Ob Mama also beide Kinder in Pflege nehmen könne? Nein, das konnte und wollte sie nicht. Wie auch, ohne finanzielle Unterstützung und in einer so kleinen Wohnung? Für meinen Bruder fanden sie dann eine andere Pflegestelle.

      Nigeria – wo liegt das überhaupt?

      Im Sommer 1973 sollte ich in die Schule kommen. Mama hatte mir eine wunderschöne Schultüte gefüllt und übte mit mir den Schulweg. Stolz trug ich dabei meinen Schulranzen. Noch bevor die Schule überhaupt begann, kannte ich den Weg in- und auswendig. Leider durfte ich noch nicht in die Schultüte schauen, dafür musste ich bis zur Einschulung warten.

      Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, überall das einzige Kind mit dunkler Haut zu sein. Es war okay, ich bemerkte es gar nicht mehr. Manchmal wurde ich jedoch angesprochen und gefragt, ob ich denn auch einmal Ärztin werden wolle, um »meinen Leuten« zuhause zu helfen. Zuhause? Waren Mama oder Oma etwa krank? Oder als ein Mitschüler mich in der Schulpause fragte, ob ich denn »überall« so Schwarz sei. So etwas machte mir Angst und der Lehrerin gelang es kaum, mich zu beruhigen.

      In solchen, sehr seltenen Situationen wurde mir bewusst, dass ich anders aussah. Zwar fühlte ich mich als einziges Schwarzes Kind wohl und es machte mir auch nichts aus, aber darauf angesprochen werden wollte ich nicht. Irgendwie empfand ich die Hautfarbe dann doch als Makel. Ich war das Kind meiner Mama. Natürlich wusste ich, dass ich nicht ihr leibliches Kind war. Dennoch, die Hautfarbe erinnerte mich an meine eigentliche Herkunft und die lehnte ich ab.

      Leute strichen über mein »schönes, krauses Haar«. Sie fragten mich