Mist, die versteht mich ja!. Florence Brokowski-Shekete

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Название Mist, die versteht mich ja!
Автор произведения Florence Brokowski-Shekete
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944666785



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Wohnung, zu viele für diese Wohnung. Nun waren sie da, waren bereit, wollten ihre Tochter abholen, denn es war ja Freitag.

      Meine Eltern hatten in Lagos/Nigeria geheiratet, das muss 1963 gewesen sein. Er, Jahrgang 1938, sie, Jahrgang 1942, beide dem Stamm der Yoruba angehörend. Ich kenne nur wenige Bilder aus dieser Zeit. Die jedoch, die ich kenne, zeigen zwei große, sehr schöne Menschen, mit einer besonderen Eleganz, Anmut und Grazie.

      Lagos als größte Stadt Nigerias war schon damals eine der bevölkerungsreichsten Städte des Landes. Armut und Reichtum lagen dicht nebeneinander, die soziale Schere klaffte weit auseinander. Im Mai 1964 bekamen sie ihr erstes Kind, ein Mädchen. Sie hatten Träume, träumten von einem besseren Leben in Europa. Deutschland war ihr Ziel. Obwohl sie die Sprache nicht beherrschten, trauten sie sich ein Leben in dem fremden Land zu, wollten dort studieren. Die Voraussetzungen besaßen sie, sie hatten beide einen höheren Schulabschluss. 1965 ging mein Vater voraus, wohl um zu schauen, wie das Leben in dem gelobten Land ist. Er wollte alles vorbereiten, denn eines war klar, seine Frau sollte nachkommen. Sie hatten viele Verwandte in Lagos, die Familie war groß, sehr groß. Es hieß, alle hätten zusammengelegt, um ihnen die Reise nach Europa zu ermöglichen. Denn wenn beide ein erfolgreiches Leben in Europa hätten, würde es auch den zurückgebliebenen Verwandten in der Heimat gut gehen. Man hielt zusammen, sorgte füreinander, teilte, was man hatte. Natürlich würden sie Geld von Deutschland in die Heimat senden. Sein Vater, ein nicht weniger stattlicher, stolzer und geachteter Mann, besaß in Lagos eine Baufirma, diese sollte er nach seinem erfolgreich absolvierten Studium übernehmen – daher wollte er Bauingenieurwesen studieren. Doch erst galt es, die Sprache zu lernen. Das war nicht leicht. Aber er lernte sehr schnell. Wenig später, es musste im Juni oder Juli 1966 gewesen sein, folgte ihm seine Frau nach Deutschland. Allein, ohne ihre Tochter. Diese ließ sie bei Verwandten in Lagos zurück. Gemäß dem afrikanischen Sprichwort: »Um Kinder zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf«.

      Aus welchem Grund auch immer sie ihre Tochter zurückließ, beide waren sie nun in Deutschland – um genau zu sein, in Hamburg. Er kannte sich bereits aus, hatte Leute kennengelernt, für sie war alles neu. Unterhielt er sich auf Deutsch, fühlte sie sich sicherlich ausgeschlossen, aber das währte nicht lang. Auch sie lernte die neue Sprache sehr schnell. Tatsächlich sollten beide die deutsche Sprache nie wieder verlernen. Selbst nach der Rückkehr in ihre Heimat beherrschten sie sie bis ins hohe Alter. Sie waren kluge Menschen – ihre Intelligenz half ihnen sehr, in diesem fremden Land zurechtzukommen.

      Gut neun Monate nach ihrer Ankunft in Hamburg kam die zweite Tochter zur Welt.

      In ihrem Land war es üblich, dass ein Kind erst vierzig Tage nach der Geburt seinen Namen erhielt. Bis dahin hieß es schlicht »Baby«, vielleicht ergänzt durch das Geschlecht, »Baby boy« oder »Baby girl«. Auch war es üblich, dass alle Verwandten bei der Wahl des Namens beteiligt waren. Um sich nicht auf einen Namen einigen zu müssen, erhielt das Kind mehrere. Sicherlich hatten auch bei diesem Kind viele Verwandte Namensvorschläge gemacht und sie ihnen bei den gelegentlichen Telefonaten übermittelt. Es waren nigerianische Namen, für europäische Zungen schwierig auszusprechen. Aus diesem Grund dachten sie vermutlich, es sei klug, einen europäischen Namen voranzustellen, »Florence«. Ein schöner Name, ja, aber die Aussprache und Schreibweise sollte dann doch für den einen oder anderen Deutschsprachigen ebenfalls zu einer Herausforderung werden.

      Sie gehörten dem baptistischen Glauben an. In der Nähe ihres Wohnortes hatten sie eine baptistische Gemeinde gefunden. Die Gemeinschaft gab ihnen Halt, sie knüpften Kontakte und lernten so immer mehr Menschen kennen. Das neue Baby wurde nicht getauft, das ist bei den Baptisten nicht üblich, es wurde »dargebracht«, der Gemeinde gezeigt, gesegnet und in die Gemeinschaft aufgenommen. Und genau so machten sie es. Sie stellten ihre Tochter vor und erst dann bekam sie ihren vollständigen Namen: Florence Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare.

      »Florence« – so nannte mich bis zu meinem 18. Lebensjahr eigentlich niemand. Von meiner Mama wurde ich »Flori« gerufen. Meine Eltern, besonders mein Vater, wurden jedoch nicht müde, mich stets mit allen mir zugedachten nigerianischen Namen anzusprechen, etwas, das – und diese Erinnerungen reichen weit in meine frühe Kindheit zurück – mir stets missfiel. Mehr noch, ich hasste es. »Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare«. Es hatte den Anschein, als wollte er mir deutlich machen, dass das, womit ich mich zunehmend identifizierte – identifizieren musste, identifizieren wollte, denn sie hatten mich schließlich zu dieser weißen Frau gebracht – nicht das war, mit dem ich mich zu identifizieren hatte. Es hatte den Anschein, als wollte er mir mittels meiner Namen deutlich machen, mit was ich mich zu identifizieren hatte – zumindest dann, wenn sie anwesend waren. Nämlich mit Lagos, mit Nigeria, mit der nigerianischen Kultur, der Sprache, dem Essen, dem Verhalten, dem Temperament. Alles Dinge, die ich nicht kannte, alles Dinge, von denen ich nur gehört hatte, und zwar von ihnen.

      Mit der Zeit fingen sie an, mich ab und an zu sich zu holen. Ich sollte dann einige Tage mit ihnen verbringen. Tage, an denen ich traurig war, denn ich vermisste Mama. Meine Mutter kochte. Das Essen schmeckte scharf, es roch streng. Sie aßen mit den Fingern, so war es üblich. Das Essen mochte ich nicht, ich brauchte eine Gabel, einen Löffel, mein gewohntes Leben, meine Mama, die zu jeder Zeit wusste, was gut für mich war. Je mehr sie versuchten, vor allem mein Vater, mir die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft zu machen, desto mehr lehnte ich sie ab, hasste sie, wollte nichts damit zu tun haben. Weder mit den Namen noch mit der Sprache, die ich ohnehin nicht verstand, und auch nicht mit der Hautfarbe. Die Hautfarbe. Wenn ich in der weißen deutschen Gesellschaft war, vergaß ich meine Hautfarbe. Natürlich fiel ich den Menschen auf, sie fanden dieses kleine Schwarze Mädchen niedlich. Trotzdem, meine Hautfarbe war mir in diesen Momenten nicht bewusst. Wann immer meine Eltern jedoch anwesend waren, wurde aus Flori, dem Mädchen, das unter Weißen lebte, die Schwarze Olatunde Gbolajoko Oluwadamilare. Eine Transformation, gegen die ich mich von klein auf wehrte. Und meine Eltern bestimmten, wann diese stattfand, sie bestimmten es spontan, unangekündigt, willkürlich.

      Bereits als kleines Kind wuchs in mir Wut. Eine Wut auf mir vorgeschriebene Dinge, die ich nicht nachvollziehen, nicht nachfühlen konnte. Dinge, die mir übergestülpt wurden, die nichts mit meiner Mama und meiner weißen deutschen Welt zu tun hatten. Ich wollte nichts zu tun haben mit einer Identität, die ich nicht kannte, die mir fremd war, die nicht meine war. Ich wollte nichts zu tun haben mit einem Land, das in meiner Vorstellung niemals so schön sein konnte wie mein Zuhause in Buxtehude.

      Mein Alltag war behütet und liebevoll. Geprägt von Berechenbarkeit und Regelmäßigkeit, von Ruhe und Harmonie. Ich hatte, was ich brauchte: Mama, Oma, Freundinnen, die Gemeinschaft der Kirchengemeinde. Meine Spielsachen lagen immer dort, wo ich sie abgelegt hatte, meine Puppen, die Teddybären, die Eimer und Schaufeln für den Sandkasten. Ich war noch sehr klein, doch liebte ich diese Sachen. Sachen, die mir gehörten, Sachen, die mir niemand wegnahm. Ganz anders bei meinen Eltern. Sobald sie kamen, war es vorbei mit dem ruhigen Leben. Sie standen vor der Tür, unangekündigt, völlig überraschend, von einer Minute auf die andere. Sie rissen mich aus meiner Welt, aus der Harmonie, aus dem Paradies, aus meinem Zuhause, aus dem, was sie für mich als Zuhause ausgewählt hatten.

      Mama versuchte stets, mir die Situation positiv zu erklären. Aber auch ihr fiel es schwer, mit diesen Überfällen zurechtzukommen. Sie selbst war strukturiert, klar, verlässlich. Sie war auch flexibel, aber nicht spontan, sie handelte nie willkürlich. Dennoch versuchte sie sich einzulassen auf das, was ihr begegnete. Mama und Oma hatten mich in ihr Herz geschlossen, sie versuchten sich mit meinen Eltern und ihrer Lebensweise zu arrangieren, obwohl sie ihnen genauso fremd war wie mir. Dennoch drückten sie ihnen gegenüber nie Missfallen aus, machten ihnen nie deutlich, dass ihr Verhalten oftmals störend war. Schließlich war es ihr Kind, sie hatten ein Recht, es zu sehen, sie hatten ein Recht, es jederzeit mitzunehmen, es zu sich zu holen. Außerdem hing immer die Drohung eines Pflegestellenwechsels in der Luft. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Das wollte Mama verhindern. Sie wollte mir Stabilität und Verlässlichkeit bieten, ein sicheres Zuhause. Sie liebte mich und sie merkte, dass auch ich sie liebte. Aus diesem Grund versuchte Mama, sich auf meine nigerianischen Eltern einzustellen, mit ihrer Art zurechtzukommen. Sie waren auch charmante, freundliche Menschen. Mein Vater war sehr humorvoll, brachte Menschen zum Lachen, besonders die Damen. Meine Mutter war ruhiger, aber nicht weniger charmant. Beide versuchten stets ihrer Dankbarkeit