Название | Mist, die versteht mich ja! |
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Автор произведения | Florence Brokowski-Shekete |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944666785 |
Der Pfarrer hörte ihnen zu, er verstand ihre Not. Aber konnte er ihnen helfen? Wer würde Ende der Sechzigerjahre ein Schwarzes Kind bei sich aufnehmen und das in einer Stadt, in der es bis zu jenem Zeitpunkt so gut wie keine dunkelhäutigen Menschen gab? Wer wäre bereit, sich anstarren zu lassen, sich den Fragen der Mitmenschen zu stellen? Dem Kind müsste erklärt werden, warum es anders aussähe als alle anderen Kinder in der Umgebung, im Kindergarten, in der Schule. Das Kind müsste beschützt werden, wenn es aufgrund seiner Hautfarbe gehänselt, heute würde man sagen »gemobbt«, werden würde. Im Verwandten- und Bekanntenkreis gäbe es Diskussionen. Der Begriff »Neger« ist kränkend, würde das jeder verstehen? Die Person, die dieses Kind aufnähme, stünde selbst im Fokus. »Warum machst du das? Gib es nicht genug weiße Kinder, die ein Zuhause suchen?« Wer, egal und wenn auch in Gottes Namen, wollte sich freiwillig Ende der Sechzigerjahre diesen Stress antun? So viel Geld konnte eine solche Aufgabe gar nicht einbringen, dass man diese Summe als eine Art Entschädigung betrachten könnte für all das, was der Alltag mit Kind, und dazu einem Schwarzen Kind, so mit sich brächte.
Eines musste auch diesem Pfarrer sehr schnell klar gewesen sein: Wegen des Geldes wird dieses Kind niemand bei sich aufnehmen. Geld, das die Eltern des Kindes ohnehin nicht besaßen, wie sich später noch herausstellen sollte.
Zunächst war er ratlos, wollte das Ehepaar mit der Kleinen wegschicken. Doch dann hatte er eine Idee. Es gab in jener Kirchengemeinde eine Frau, die sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich engagierte. Sie führte Kindergottesdienste und Kinderstunden durch. Sie sang im Kirchenchor und nahm an Bibelstunden teil. Der Glaube spielte eine große Rolle in ihrem Leben, sie lebte förmlich in und für die Kirche. Zeitweise hatte sie die ehemaligen Pfarrersleute bei der Betreuung ihrer Kinder unterstützt. Sie liebte Kinder und fühlte sich wohl in ihrer Nähe. Außerdem hieß es, dass sie »Schwarze Kinder so niedlich fände«. Dieser Frau wollte er die Not des Schwarzen Ehepaares schildern. Er wollte nichts unversucht lassen.
Doch wer war diese Frau?
Mitte Vierzig, selbstständige Schneiderin, alleinstehend, kinderlos, eine Vertriebene aus Westpommern, eine Geflüchtete, wie es heute heißen würde. Sie galt als sehr korrekt, sprach geschliffenes Hochdeutsch. Sie wusste, wie es sich anfühlte, in der Fremde zu sein, ein neues Zuhause suchen zu müssen. Sie wusste, wie es sich anfühlte, trotz weißer Hautfarbe anders auszusehen, aufgrund eines anderen Kleidungs- oder Haarstils angestarrt zu werden, nicht dazuzugehören und trotzdem dort leben zu müssen – dort leben zu wollen. Sie war dankbar, damals, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in Buxtehude ein neues Zuhause gefunden zu haben, Menschen, die ihr wohlwollend begegneten, ihr, einer Vertriebenen aus Stettin. »Wir mussten unsere Stadt verlassen, mussten fliehen und hatten nichts weiter als einen Koffer mit ein paar persönlichen Sachen und der Kleidung am Leib«, erzählte sie später. »Meine Eltern wollten nicht weg, doch ich wusste, dass wir dort, in Stettin, in unserer Heimat, nicht mehr bleiben konnten.
Die Stadt wurde besetzt und wir, wir gehörten zum Feind.« Sie berichtete später oft, wie schwer es für sie als junge Frau von 21 Jahren gewesen sei, ihre Eltern und die ältere Schwester davon zu überzeugen, Stettin verlassen zu müssen, in einen Zug zu steigen, von dem niemand wusste, wohin er führe. Schon damals habe ihr der Glaube Halt gegeben, habe ihr, wie sie sagte, geholfen, die dramatischen Situationen durchzustehen.
Diese Hilfe, das Wohlwollen, die Freundlichkeit, ja, auch die Nächstenliebe, die sie damals erfahren habe, wollte sie zurückgeben, wo immer es ihr möglich war. Sie war hilfsbereit, kümmerte sich gerne um andere Menschen und stellte dabei ihre eigenen Bedürfnisse stets zurück. So zu leben, schien ihr zu gefallen, sie zufrieden zu machen und ihr einen Sinn im Leben zu geben.
Diese Frau wollte der Pfarrer also fragen – er war überzeugt, wenn jemand helfen könnte, dann sie.
Natürlich weiß ich dies alles nur aus Erzählungen – Erzählungen von meiner Mama und anderen Menschen, die unsere Geschichte begleitet haben. Und natürlich erzählt sie jeder aus seiner Perspektive. Meine leiblichen Eltern haben kaum über diese frühe Phase meiner Kindheit gesprochen. Emotionalität schien ihnen fremd. Andererseits: Möglicherweise waren sie emotional, möglicherweise blieb mir ihre Art der Emotionalität fremd.
Der Pfarrer stellte den Kontakt zwischen meinen Eltern und dieser Frau her. Ja, sie fand Schwarze Kinder tatsächlich niedlich. Aber sollte sie sich das wirklich antun? »Was würden die Leute sagen?« Diese Frage sollte zu einer der Leitfragen meines Lebens werden. »Was würden die Leute sagen?« War es jedem klar, dass dieses Kind »nur« ein Pflegekind war und nicht ein uneheliches Kind, weil sie sich wohlmöglich von einem Schwarzen Mann hatte schwängern lassen und dieser sie dann schnöde hatte sitzenlassen? Was würden ihre Kundinnen sagen, auf die sie angewiesen war, für die sie schneiderte, um Geld zu verdienen? Wie käme sie mit den Eltern dieses Kindes zurecht, Menschen aus einem völlig anderen Kulturkreis? Menschen, die zwar der deutschen Sprache mächtig waren und doch nicht dieselbe Sprache sprachen wie sie. Schließlich geht es nicht nur darum, eine Sprache zu sprechen, sondern auch die Kultur zu begreifen, die es ermöglicht, die Sprache zu fühlen. Hatten sie diese begriffen? Würden sie einander verstehen? Nicht nur rational, sondern auch emotional? Und warum hatten sie derart oft die Pflegestelle gewechselt? Warum hatten sie diesem kleinen Kind derart oft einen Wechsel der Bezugspersonen zugemutet? Ist das Kind nicht erzogen und deshalb schwierig oder sind es etwa sie, die Eltern, die schwierig sind?
Meine Mama hat später oft mit mir darüber gesprochen und mir berichtet, dass ihr die Entscheidung, mich aufzunehmen, nicht leichtgefallen sei. Nicht, weil sie mich nicht »niedlich« fand, sondern, weil sie nicht wusste, was auf sie zukäme, als weiße Frau mit einem Schwarzen Kind. Ich kann sie gut verstehen.
Ein Sonntagnachmittag im Februar 1969 also – vereinbart war Sonntag bis Freitag, dann würden sie ihre Tochter wieder abholen. Ausgemacht war auch ein Pflegegeld.
Später erzählte Mama, sie hätten mich für die Jahreszeit viel zu dünn angezogen, die Kleidung in meinem Koffer sei nahezu unbrauchbar gewesen. Ich soll einen müden, zurückhaltenden, verschüchterten und kränklichen Eindruck gemacht haben, »spack« nannte Mama diesen Zustand immer.
An jenem Sonntagnachmittag, als meine Eltern mich bei ihr abgaben, stand ich laut meiner Mama im Flur, mit einer Puppe im Arm und sagte nichts. Was soll ein Kind mit knapp zwei Jahren auch sagen, in einer für es fremden Umgebung? Aber sie hatte vorgesorgt, hatte ihre Freundin gebeten, mit ihrer kleinen Pflegetochter ebenfalls zu kommen, in der Hoffnung, dass mir der Abschied von meinen Eltern dann leichter fiele. Mama erzählte mir später, dass ich nach zwei Stunden noch immer im Flur stand, nichts sagte, aber weinte. Sie konnte sehr gut mit Kindern umgehen und dennoch sei ihr diese Situation fremd gewesen. Hätte ich wenigstens etwas gesagt, wäre es für alle Beteiligten leichter gewesen, aber so. Sie war sich sicher, es müsse das Heimweh sein, das mir zu schaffen machte. Verstand ich doch nicht, warum mich meine Eltern bei diesen fremden Menschen zurückließen. Und das zum wiederholten Mal. Zurückgelassen, wie einen Gegenstand, mit dem man, zumindest vorübergehend, nichts anzufangen wusste. Sie wusste sich zunächst nicht zu helfen und tat kurzerhand das, was wohl in dem Moment das Nächstliegende war – sie wechselte mir die Windel. Nein, ich war mit knapp zwei Jahren noch nicht sauber, was jedoch nicht zu meinem größten Problem im Leben werden sollte. Ein frühkindliches Trauma habe ich jedenfalls nicht davongetragen. Danach, so berichtete Mama weiter, sei buchstäblich alles wieder in trockenen Tüchern gewesen. Es gab etwas zu essen und ich ließ es mir wohl auch schmecken, spielte mit der kleinen Nachbarin und sprach mein erstes Wort an diesem Tag: »Mama«.
Dass ein knapp zweijähriges Kind, auch ein afrikanisches, das Wort »Mama« kennt, war auch zu jener Zeit kein Zeichen von außergewöhnlicher Intelligenz oder einer drohenden Hochbegabung, sondern ganz normal. Trotzdem fing meine neue Mama an, sich Sorgen zu machen, sie glaubte, ich würde bald meine Eltern vermissen und sah die große Herausforderung vor sich, diesem Kind über seinen Kummer hinwegzuhelfen. Doch der Kummer ließ auf sich warten. Weiterhin nannte ich sie »Mama«. Und zwar immer dann, wenn ich etwas von ihr wollte oder sie nicht im Zimmer war. Dann rief ich »Mama« und irgendwann war