Название | Mist, die versteht mich ja! |
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Автор произведения | Florence Brokowski-Shekete |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944666785 |
Mein Bruder, knapp fünf Jahre jünger als ich, schien sich auf Nigeria zu freuen. Kein Wunder, er wohnte die meiste Zeit mit meinen Eltern zusammen und hatte nicht viel anderes kennengelernt. Mein zweiter Bruder war noch ein Baby. Der Tag der Ausreise rückte näher und es hieß Abschied nehmen, von Freunden, von Verwandten, von meinen Spielsachen, meinem Zuhause. Viel konnte ich nicht mitnehmen. Mama versuchte es mir so leicht wie möglich zu machen. Und doch sah ich ihrem Gesicht an, dass es ein Abschied für immer sein würde – an ihren Blick erinnere ich mich noch heute.
Anrufe, Briefe schreiben oder gar Besuche – ob das alles möglich sein würde? Laut meines Vaters, kein Problem. Aber ob darauf Verlass war? Wann würde ich wieder ganz nach Hause dürfen? Warum musste ich denn überhaupt mit? Konnten meine Eltern nicht allein fliegen? Schließlich brachten sie zwei weitere Kinder mit. Das sollte doch zum Vorzeigen ausreichen, wo Jungs in ihrer Kultur ohnehin einen größeren Wert zu haben schienen als Mädchen. Meine Brüder waren der lebendige Beweis dafür. Allerdings war da eine Sache, auf die ich sehr neugierig war – freuen wäre zu viel gesagt – meine Schwester kennenzulernen. Endlich ein Mädchen, das nicht nur so aussah wie ich, sondern mir vielleicht sogar ähnlich sah.
Und dann war es soweit. An einem kalten Februartag packte Mama meine Kleider in einen Koffer. Aber viel wichtiger war die Tragetasche mit meinen Puppen, der großen und der kleinen braunen Puppe sowie einem kleinen, weißen Teddybären. All das sollte mir den Abschied erleichtern und meine Erinnerungen aufrechterhalten. Mama gab mir ein Geschenk für meine Schwester mit. Und außerdem einen Puppenjungen, den ich meinem Bruder geben sollte, damit er nicht meine Puppen nahm. Mama kannte mich, sie wollte mir Ärger ersparen, sie wusste, dass ich es nicht mochte, wenn mein Bruder meine Sachen an sich nahm.
Am Abend vor der Ausreise fuhr ich mit Mama und der Nachbarin, die den Weihnachtsmann für mich gespielt hatte, nach Hamburg, um meine Eltern und meine Brüder in einem Hotel zu treffen. Am nächsten Morgen sollte es früh mit der Lufthansa nach Lagos gehen, an einen Ort voller Ungewissheit.
Die Nacht war kurz, der nächste Morgen brach an. Wir machten uns fertig, um zum Flughafen zu fahren. Ich war gespannt, war ich doch noch nie geflogen. Dann erreichte meine Eltern eine Nachricht. Nein, wir würden nicht fliegen. Es gäbe politische Unruhen in Lagos, die Flüge seien vorerst gestrichen. Was für ein Gefühl! Freude und Enttäuschung zugleich. Da war es wieder, das Unangekündigte, Spontane, Willkürliche. Nur dieses Mal konnten meine Eltern nichts dafür, zumindest nicht direkt, indirekt schon, wie ich fand.
Ich durfte also bleiben, vorerst zumindest. Wie lange, konnte niemand sagen. Ich weiß nur, dass es sich komisch anfühlte, bleiben zu dürfen. Sich bereits verabschiedet zu haben, von den Freundinnen aus der Schule, der Umgebung und dann doch nicht weg zu sein.
In die Schule zurückgehen konnte ich nicht, schließlich war die Abmeldung bereits erfolgt. Aber einfach Zuhause sitzen? Nicht zu fliegen, war nicht schlimm, im Gegenteil. Jedoch zu wissen, dass das, worauf man sich ohnehin nicht freut, nur aufgeschoben ist, fühlte sich nicht gut an. Niemand konnte sagen, ob oder wann es nun losgehen würde. Der Entscheidung anderer ausgeliefert zu sein, war ein vertrautes, aber kein schönes Gefühl.
Es vergingen Tage voller Unsicherheit. Eine Zeit des Schwebens, ohne zu wissen, wann der harte Aufprall käme, wir wieder nach Hamburg mussten.
Und dann klingelte das Telefon. Mama ging ran, sie sprach kurz, kam wieder, ihr Gesicht aschfahl, traurig, entsetzt. Jetzt sollte alles schnell gehen. Man könne noch am selben Tag fliegen, hieß es. Man würde mich gleich abholen. Nein, Mama konnte nicht, wie ursprünglich geplant, mit zum Flughafen fahren.
Wenig später waren sie da, schnell wurden meine Sachen ins Auto verstaut, ein schneller Abschied zwischen den Garagen hinterm Haus, eine letzte Umarmung. Von Oma hatte ich mich noch kurz vorher verabschieden können. Ja, Mama würde mir schreiben, sagte sie und konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Ich winkte ihr, als das Auto losfuhr, ich winkte ihr, so lange ich sie sehen konnte. Dann war sie weg.
Das überlebe ich hier nicht!
Wir flogen zunächst von Hamburg nach Frankfurt am Main. Von dort aus ging es weiter nach Lagos, Nigeria. Während des siebenstündigen Fluges wirbelten mir die Gedanken nur so durch den Kopf. Von dem neuen Leben, das mich erwartete, hatte ich keinerlei Vorstellung. Meine gewohnte Umgebung für immer zu verlassen, schien mir unvorstellbar.
Das Flugzeug landete, die schwere Tür wurde geöffnet. Ich sehe mich neben meiner Mutter zum Ausgang gehen. Es war eher ein Schieben, denn jeder wollte der Erste sein. Die Flugbegleiterinnen verabschiedeten sich freundlich von jedem Passagier – auf Deutsch. Das sollte vorerst mein letzter Kontakt mit Deutschen gewesen sein.
Wir standen an der Gangway, ich prallte gegen eine Wand aus Hitze, Feuchtigkeit, undefinierbaren Gerüchen und undurchdringlichem Lärm. Es war Ende Februar, es war kalt, es war Winter – zuhause. Nicht jedoch hier. Ich hatte eine Strumpfhose und einen Mantel an, schließlich sollte ich nicht frieren. Mama hatte gesagt, ich solle den Mantel ausziehen, wenn wir ankämen, es würde heiß sein. Ich tat, was Mama mir gesagt hatte. Ihre Anleitungen gaben mir ein kleines Stück Sicherheit in einer für mich vollkommen neuen Welt, einer Welt, die ich nicht kannte, in der ich nicht sein wollte.
Da stand ich nun neben meiner Mutter, einer Frau, die mir gefühlsmäßig fremd war. Ich stand da mit meinen beiden Puppen, meinem Teddy, meiner Tragetasche und meinem Geschenk für meine Schwester. Ich holte tief Luft, aber ich bekam keine Luft, konnte nicht durchatmen. Diese Wand – dieses Gefühl. »Das überlebe ich hier nicht«, höre ich mich noch heute sagen, als wäre es gestern gewesen.
Und da standen sie, uns gegenüber, eine riesige Menschenmenge, schreiend, weinend, brüllend. Damals wunderte ich mich, warum sich alle anschrien. Es erinnerte mich ein wenig daran, wenn sie mich zuhause abholen kamen. Freuten sie sich nicht über das Wiedersehen? Warum gab der alte Mann meinem Vater eine Ohrfeige? Ich konnte es mir nicht erklären, und es gab auch niemanden, der es mir erklärte. Warum legte sich mein Vater vor diesen alten Mann flach auf den Boden? Und meine Mutter, warum kniete sie vor diesem alten Mann nieder? Wir Kinder wurden gedrückt, von einer Person zur nächsten gereicht, man redete auf uns ein, gestikulierte heftig. Ich verstand nichts.
Ich fragte meinen Vater, welches der Mädchen meine Schwester sei. Er deutete auf ein Mädchen, das etwas größer war als ich. Ob wir uns ähnlich sahen, konnte ich nicht erkennen. Mein Vater sagte etwas zu ihr. Ich schaute sie an und begrüßte sie mit der Feststellung, dass sie meine Schwester sei. Natürlich verstand sie kein Wort, schließlich sprach ich Deutsch und sie Yoruba und Englisch. Wir konnten uns nicht verständigen, aber nun hatte ich meine Schwester. Das war aufregend. Trotzdem wollte ich jetzt am liebsten nach Hause. Nach Deutschland.
Man hatte uns mit dem Auto abgeholt. Bis dahin wusste ich nicht, dass so viele Menschen und so viel Gepäck in nur ein einziges Auto passten. Wir Kinder wurden von Erwachsenen auf den Schoß genommen. Die Fahrt war lang und holprig, vorbei an unglaublich viel Neuem, Unbekanntem, an dem, was nun meine Heimat werden sollte. Das alles aufzunehmen und zu begreifen war nicht einfach. Und inmitten dieser vielen Menschen, diesem ganzen Fremden, fühlte ich mich furchtbar allein, einsam und so schrecklich weit weg von meinem Zuhause und meiner Mama. Ich fragte mich, was sie jetzt wohl machte. Ich hätte gerne angerufen, ihr alles erzählt, was ich bisher gesehen hatte. Im Flugzeug hatte ich ihr bereits einen Brief geschrieben, den ich einer Flugbegleiterin gab, mit der Bitte, ihn für mich in Deutschland in den Briefkasten zu werfen. Ich vermisste meine Mama, ich vermisste mein Zuhause, meine gewohnte Umgebung. Und doch musste ich so tun, als ob nichts wäre, Tränen waren nicht erlaubt, nicht hier.
Zuhause in Deutschland lebten