Название | Vorspiele |
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Автор произведения | Markus A. Sutter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907468 |
Wenn wir ungestört sein wollen, ziehen wir uns in die Turnhallenumgebung zurück, wo im Sommer Feste auf dem Rasen gefeiert, drinnen Krippenspiele aufgeführt und manchmal Märchen gezeigt werden. Wir suchen in den Sprung- und Kletteranlagen nach Muschelschalen und Fischzähnen, weil unter uns Kindern die Mär geht, dass der Sand direkt aus dem Meer stamme. Manchmal treffen wir dort einen blinden Hausierer in seiner Mittagspause, wenn er gerade durch die Quartiere zieht und Bestellungen aufnimmt, und tollen mit seinem Schäferhund herum.
Die Halle ist mächtig. Ein Dach wie von einer Scheune zum Speichern von Korn. Ein Säulengang wie von einer Villa. Über den Scheiteln der Bögen stehen Gadenfenster. Der Eingangsflügel im Westen führt in die Garderoben, in die eigentliche Turnhalle und über eine Steintreppe auf die Galerien. Der Flügel im Osten geht auf die Theaterbühne. Ein weitläufiger Kiesplatz, die Reihe von Kastanien und die Zypressen des nahen Kirchhofs unterstreichen noch immer den Ehrgeiz, der das Dorf beim Erstellen des Gebäudes geleitet hat. Sobald die schweren Türen aber einmal geöffnet sind, werden wir in Korridoren, Garderoben und Gerätekammern empfangen, die über Jahre dem Schweiss der Herren- und Damenriegen ausgesetzt waren. Die Überreste von Parfüm, die mit Tannenduft getränkten Fliessblätter und die giftblauen Duftkugeln in der schwarzen Rinne des Pissoirs treiben an heissen Tagen den Gestank ins Unerträgliche. Die Halle ist heruntergekommen. Die türeknallenden und herumfläzenden Turnkinder, zu denen auch wir beide gehören, hinterlassen Spuren in Form von Schrunden und handfester Zerstörung. Holzbänke und Bodenriemen sind abgeschabt und zersplissen, die Schutzgitter vor den Fenstern eingedellt, das Magnesiumpulver und die Reckhandschuhe auf Pauschenpferde und andere Geräte verstreut und verstäubt. Wenn wir jedoch versteckt zwischen den Sprungmatten auf der Bühne die Scheinwerfer, die Schnüre, Kabel und Kurbeln bestaunen oder aus der Deckung der Galerie auf das Zittern im Faltenwurf des rosa Vorhangs starren, dann ist es uns, als ob die Halle auf ein Ereignis warte, das ihrer wahren Bestimmung für einmal gerecht werde.
Nachtzug, 20 Uhr
Aus dem rüttelnden Wagen schaute Burger auf einen tintenschwarzen See. Am anderen Ufer stand das Land auf den gespiegelten Lichtern wie auf zitternden Säulen. Er hatte eine Pause eingelegt und starrte hinaus. Der Zug durchquerte eine Ebene. Bei der Einfahrt in einen Tunnel schlug eine heftige Druckwelle ans Fenster. Danach rückten die schwarzen Berge näher. Gespenstisch leere Bahnhöfe leuchteten wie Filmkulissen auf und erloschen in der Dunkelheit sogleich wieder. Im Schein einer Weglampe stand ein alter Mann mit schräg geknüpftem Trenchcoat. Sein Winken gefror im Kegel des Lichts. Burger wollte sich wieder seinen Notizen zuwenden, als sich jemand an seinem Abteil vorbeidrückte. Er erkannte die Frau, die sich am Ausgangsbahnhof im roten Mantel verabschiedet hatte. Sie trug einen Jeansrock und einen hängenden hellen Pullover, der eine ihrer Schultern freiliess.
Schreibend versuchte Burger die Zeilen und Zeiten zu ordnen und zu erfassen. Hier die Namen, Stationen und Strassen, die ihm beim Abblättern erschienen, dort die Gegenden der Kindheit, in die er immer wieder zurücktaumelte. Beim ersten Ausformulieren blieben die Orte noch stumm. Sie verweigerten sich der Sprache. Den Sätzen ging das Erlebnishafte ab wie einem Geisterbahnhof die Menschen. Manchmal gelang es ihm, der verblichenen Zeit das beseligende Wort einzuhauchen. Dann versuchte er aufgeregt, die vor ihm gaukelnden Wörter zu erhaschen wie der Schmetterlingskundler mit seinem Fangnetz die schmetternden Vögel.
Burger verbiss sich in eine Formulierung und lenkte seinen Blick erneut nach draussen. Das Fensterglas reflektierte die Leselampe und die Beleuchtung des Korridors. Er schirmte die Lichter mit der Handfläche ab und konnte vorbeiwischende Schatten in den grauen Feldern erkennen. Er meinte, sie in den Figuren tanzen zu sehen. Ein Gefühl, ihr entgegen zu reisen und sie bald in die Arme schliessen zu können, stellte sich ein. Das Fahrwerk röchelte, quietschte, tackte und schaukelte Burger in einen Traum. Er vernahm in den Zuggeräuschen ihre Stimme. Er führte ein Gespräch mit ihr, bis es im Lärm einer grossen Ansammlung von Menschen in der Turnhalle unterging. Als er seine Augen wieder auf das Notizblatt richtete, las er: Ich werde das Dorf endgültig hinter mir lassen und die Musik aus jenen Tagen woanders suchen.
Klangsturz
Erinnerst du dich an das Konzert? Du und deine Mutter finden sich früh in der Halle ein. Ihr setzt euch in einer der vorderen Reihen auf reservierte Plätze. Solange die Galerie noch nicht besetzt ist, winke ich dir von der Brüstung aus zu. Später schiebe ich eine Falte des offenen Bühnenvorhangs zurück, lege eine Hand gegen das Blenden der Scheinwerfer an die Stirn und bespitzle den ganzen Aufmarsch. Ob du mich entdeckst? Auf der Bühne? Hinter dem Vorhang? Einmal meine ich, dein Winken zu sehen. Ich suche immer wieder deinen Blick einzufangen, bis ich mich auf die Zugangstreppe zurückziehen muss. Du kennst die Geschichte. Lass sie mich dir noch einmal erzählen.
Es ist an einem der Spätwinterabende. Etwas Frühling liegt schon in der Luft. Die Lichter der unteren Turnhallenfenster legen weisse Flächen in den Säulengang und die Gadenfenster erhellen als schimmernde Lichtspiegel den Vorplatz. Über der Friedhofsmauer glimmt das violette Band des Himmels. Die Lederabsätze und Stöckelspitzen von spät ankommenden Besucherinnen und Besuchern bohren sich knirschend in den Kies. Ein Türflügel der Halle steht noch offen. Ein Pulk von Menschen staut sich vor der Garderobe und dem Halleneingang. Jacken, Mäntel, Kittel, Capes und Pelerinen häufen sich auf den Garderobebänken und lagern über den Barrenholmen im Geräteraum. Die ausgerollten Inlaid-Bahnen weichen das Klacken der hart besohlten Schuhe auf, zugleich schlägt den Eintretenden ein betäubender Lärm entgegen. Über dem Klappen und Schaben von Stühlen, über dem Beben des zitternden Bodens und dem silbernen Klingeln des Kleingeldes beim Eingang schallt ein Stimmengewirr, hallen Zurufe und Zuschreie quer über die Sitzreihen hinweg und brechen Gelächter los.
Alles ist da, was Rang und Namen hat. Der Bäckermeister Boksberger mit Frau. Deren Tochter Rosmarie, drall und gross, für uns wie eine Erwachsene, auch wenn sie nur drei Jahre älter ist. Der Ochsenmetzger Gantenbein, in seiner immensen Leibesfülle, alleine, seine Frau sei erkrankt, nein, keine Klauenseuche, nur eine Spätwintergrippe. Frau Notar Roth mit ihrem herzkranken Mann, zu dem sie schaut, als wäre er ihr Kind. »Geht’s, Vater?«, fragt sie, er nickt weise mit seiner Nickelbrille und der sanften Stirne. Josef Schweiss tritt mit pompöser Selbstverständlichkeit auf. Der Besuch des Dorfereignisses ist für ihn, den Unterwäschehausierer, ein Muss und gleichzeitig eine Gelegenheit, seinen Sohn in Leutnantsuniform zu präsentieren. Schulvorsteher Etter wendet sich ab, um der Peinlichkeit einer Begrüssung zu entgehen. Fräulein Hungerbühler, unsere ehemalige Lehrerin, winkt ihrem Kollegen Kaltenbrunner zu, dessen randlose, münzenkleine Brillengläser über einem Nasenrücken glänzen, der gerade wie ein Lineal ist. Lehrer Plüer, obwohl schwerhörig und mit zwei sichelförmigen Apparaturen hinter den Ohren ausgestattet, kommt selbstverständlich zur Aufführung. Der gebuckelte, verschmitzte Ausderau, der uns immer freundlich begrüsst, der als wandelndes Lexikon gilt, in der Lokalzeitung schreibt und in seinem Büro Urkunden erstellt, hat es mit seinen kleinen Schritten auch vom Unterdorf bis zur Turnhalle geschafft. Der Dorfschneider, in einem hellen Massanzug, taucht mit nervöser Eleganz und ganz plötzlich in der Hallentür auf, trägt seinen Borsalino mit spitzen Fingern wie ein Schmuckstück vor sich her und das taillierte Mäntelchen über dem Unterarm wie eine Serviette.
Unter all diesen eintretenden, zuschauenden, sich setzenden, sich unterhaltenden Dorfgrössen fällt eine Frau – würdig wie Sophia Loren – durch ihre unantastbare Ruhe auf. Sie trägt ein schlichtes dunkles Kleid und ist schön wie keine im Saal. Es ist deine Mutter. Du sitzt neben ihr, schaukelst mit den Beinen und schüttelst dein honigbraunes Haar. Ihr seid alleine. Der Vater hat