Vorspiele. Markus A. Sutter

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Название Vorspiele
Автор произведения Markus A. Sutter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907468



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den Umschwung bemerkte, bot der Frau an, ihr das Probelokal zu zeigen. Sie müsse gehen, vielleicht ein anderes Mal, war ihre Antwort. Aber das Kühle und Schmallippige war von ihr gewichen. Troller schaute ihr durch das Haustürfenster nach, wie sie im Treppenschacht zur Strasse verschwand.

      Wir wechselten ins Probelokal. Die Läden waren geschlossen. Eine von der Decke hängende Glühbirne verbreitete Streulicht, eine Stehlampe mit zwei Spotleuchten warf zwei gebündelte Strahlen in den Raum, die sich im gesprungenen Lack der Holztäfelung spiegelten. Meine Hammond stand in der hinteren Ecke, so dass ich die zahlreichen Kabelschnüre, die sich über den grauen Linoleumboden schlängelten und ihre Köpfe in ein Dosenbrett in der Raummitte steckten, übersteigen musste. Ich setzte mich auf die Orgelbank, startete das Instrument und eröffnete das Stimmprozedere. Stütens Gitarrentöne schwangen sich ein. Wanner begann mit einer Basslinie. Troller folgte mit einigen weichen Schlägen auf das Standtom. Endlich liess Stüten seine Gitarre aufjaulen und leitete über zu einem langsamen Blues, der uns auf eine Pilgerreise zu den damaligen Cherubim unseres Himmels führte: Jimi Hendrix und Janis Joplin, Eric Clapton und Ginger Baker, Frank Zappa und John Mayall.

      Deine Cherubim waren es nicht. Unsere Musik war dir zu sehr von Technik, von Verstärkern und Elektronik bestimmt und viel zu laut. Schon dazumal suchtest du die leiseren, subtileren Töne. Trotzdem unterstütztest du mich in meinem Unterfangen. Freutest dich auch, als ich anfing, konsequent zu üben. Für dich als angehende Tänzerin war das tägliche Training eine Selbstverständlichkeit.

      Der von Küngeln geräumte und von Stroh freigemistete Raum wurde zur Abstellkammer. Der beissende Gestank darin war unerträglich. Hier konnte weder geprobt noch gewohnt werden. Aus den Ritzen der Bodenriemen stiess noch immer zungengraues Stroh. In den Rillen und Fugen klebte der Kitt von Mist. Die Küngelställe vor dem einzigen Fenster raubten dem Raum sein letztes Licht. Ein gesundes Erwärmen und Trocknen blieb auch im Sommer aus. Hier faulte es. In dieser verschatteten Hausecke, dem Hang zugekehrt, dem Bergwasser ausgesetzt, waren Boden und Wände dem Verfall geweiht. Flecken wie von ausgelaufenem Maschinenöl, streckenweise grau wie das Genist flügelloser Insekten. Wir lagerten die Hüllen von Instrumenten ein. Koffer, unbrauchbare Regale, eine Fahrradfelge, einen Benzinkanister. Die Tür lag dem Kellerabgang gegenüber, von wo ein grottenfeuchter, modriger Geruch heraufschlug, und grenzte an das Klosett, aus dem das sture Tropfen und Gurgeln einer undichten Spüle herüberdrang.

      Das Klosett war ein Tannenholzverschlag, eng wie ein Besenschrank. Schamlos legte die darin thronende Schüssel ihr Alter in Form uringelber Jahresringe offen. Hinter der Schüssel stieg eine mit dickem Mull bandagierte und wie von trockenem Blut gefleckte Röhre hoch, die im metallblanken Schnabel des Spülhahns mündete. In der Aussenwand ein winziges quadratisches Guckfenster mit geklöppeltem Vorhang. Wanner hatte es heraus, beim Gang aufs Klosett die Türe sorgfältig anzuheben und sie ohne Lärm über die Unebenen des Bodens zu schwenken. Troller hingegen, und mit ihm auch die anderen Neueinzüger, schlugen mit ihrer Schuhkappe so in die Tür, dass diese aufsprang und an die nächste Brettkante prallte. Troller liess den Spalt, den er sich zum Durchschlüpfen erzwungen hatte, immer offen. Es konnte sein, dass er ein Gespräch in der Küche begann und auf der Schüssel weiterführte. Meist hatte er sein oranges Briefchen und den blauen Tabakbeutel dabei, um sich eine Zigarette zu drehen.

      Troller wuchs in einem der Nachbardörfer auf und stiess erst spät zu unserer Gruppe. Er war dir aber bekannt. In der Fabrikhalle, wo wir probten, seid ihr euch begegnet. »Er hat Charme und Witz«, sagtest du. »Er ist ein Verführer«.

      Troller galt als der Lebenserfahrenste. Was er sagte, hatte Gewicht. Wenn er sprach, hörten die anderen zu. Beim Umzug soll er im Fond von Stütens Opel Kadett geweint haben. Sein Vater, ein schon älterer Milchmann und Bauer, soll ihm nur das eine gesagt haben: »Trag Sorge zu dir.« Das rührte Troller so, dass er sich erst nach mehrstündiger Autofahrt erholte. Die Achtung, die man ihm zollte, stieg dadurch. Troller durfte sich Tränen leisten. Als Schlagzeuger besass er Autorität. Der nachschollernde Klang seiner Toms, erzeugt durch Unterspannung der Felle, war unverwechselbar. Einen Teil seines Zubehörs hatte er von der Müllkippe, gesprungene, klirrende, nachwimmernde Dinger. Der Rest kam aus dem Bestand einer kleinen Handwerksfirma, glockenhaft singende, fein ziselierte Beckenschalen mit unvermutet untergründigem Anschwellen. Aber erst mit dem Bummern seiner Doppelpauke und den Peitschenhieben auf das hart gespannte Snare verwandelte Troller seine Batterie in eine rollende Brandung. Er schrie und balzte. Er schlug den Kopf herum und liess die Haare vor seinem Gesicht tanzen. Mit den von Schlägern verlängerten, vom Wirbeln vervielfachten Armen sah er aus wie ein tanzender Shiva, ein Medizinmann, ein Abgesandter des Rhythm and Blues. Das war Troller.

      Jeden Tag kam der Vermieter und fütterte die Küngel. Wir sahen seinen Kopf vor dem Küchenfenster vorbeiruckeln. Er schleppte sich schwer. Trug an einem aufgeschwemmten Leib. Wir hörten, wie er atmete, wie er über den Gartenweg tappte, zu den Küngeln redete wie zu Seinesgleichen. Er besänftigte sie, wenn sie zu toll herumschlugen, mit einem begütigenden »Neinnein.« Papiersäcke raschelten. Futter rieselte in die Näpfe. Eine Schaufel schliff und kratzte, bis die Riegel wieder klickten. Dann schlurfte er zurück und versank wie ein Schatten in der Treppe zur Strasse.

      An einem Abend schwenkte er ums Eck und stellte sich an die Sandsteinstufe des Eingangs. Er suchte das Gespräch. Ihn schien etwas zu belasten, das er loswerden wollte. Wanner, der die Gemütslage des Vermieters am besten kannte, ging nach draussen und fragte, ob er helfen könne. Ich folgte zögerlich, blieb im Hintergrund. Der Vermieter rückte mit nichts heraus. Stand da, als ob er von Wanner etwas erwartete. Seine Hose hatte er oberhalb der grossen Bauchwölbung gegürtet. Die Hosenstösse reichten nicht über die Schuhschäfte. Zwischen Schaft und Hosenschlag quollen die Wollsocken hervor. Im Schritt spannte die Hose. Das Gemächt zeichnete sich ab.

      »Waren etwas wild heute?«, fragte Wanner.

      »Ja, ja«, kam die Antwort zögerlich.

      »Haben ordentlich an Gewicht zugelegt.«

      »Es braucht schon noch einiges. Ich gebe sie nicht gerne zu früh. Wenn das Fell so schön glänzt, möchte ich sie am liebsten behalten.«

      Ein Wort gab das andere. Von den Küngeln kam er zur Geschichte des Hauses, zum Feuerschauer, der ihm den Kamin nicht mehr abnehmen wollte, zum Verkehr auf der neu geteerten Strasse, der seine Frau nicht schlafen lasse. Sie habe es nicht mehr gut, sagte er und begann, von ihr zu erzählen. Als ob er sich für sie entschuldigen wollte. Nachts geistere sie in der Wohnung herum. Suche nach längst fortgeschafften, nicht mehr gebrauchten Dingen. Rufe nach der Tochter, die vor Jahrzehnten gestorben sei. Lange könne sie nicht mehr bei ihm sein. Schwermütig sei sie. Das laste auch auf ihm. Die einzige Abwechslung seien für ihn die Küngel. Obwohl die Knöpfe offen waren, schob er alle paar Sätze den Unterkiefer vor, als müsste er seinen Hals von einem engen Hemdkragen befreien. Beim Vorschieben des Kinns stülpte er die Unterlippe um, und beim Zurücknehmen schwoll das Doppelkinn an. Die grau durchsträhnten Haare waren mit einem öligen Gel an den grossen Schädel geklebt. Die vorgewölbte Stirn blieb beim Reden glatt wie bei einem Kind. Die kleinen Augen schauten nach innen. Während der Vermieter dastand und beide Beine belastete, die Arme steif an den Leib drückte, die Schultern angezogen hielt, als ob er nie ganz ausatmen könne, stand Wanner ihm gegenüber in der Türlaibung, eine Schulter angelehnt, Hände in den Taschen, und spielte mit dem einen unbelasteten Fuss auf dem Scharrgitter.

      »So ist es halt«, sagte der Vermieter unvermittelt. »Ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagte er und ging.

      Der Vermieter fühlte sich von Wanner verstanden. Das hatte seine Gründe. Wiewohl langhaarig, trug er meist das blaue kragenlose Bauernhemd mit der vielfach eingewobenen Edelweissblüte. Dazu hängte er sich eine Taschenuhr mit Kette an. Lederriemen, wie er sagte, schnalle er sich keine um das Handgelenk. Über die Qualität einer Cordhose entschied das Vorhandensein eines Uhrtäschchens am Hosenbund. Dünn besohlte oder gar spitze Lederschuhe verabscheute er, weil sie ihm ein Tänzeln beim Gehen aufnötigten. Seine Rebellion bestand darin, dass er nicht allem Neuen zustürzte, sondern in der vorhandenen Umgebung nach Ursprünglichkeit suchte und sie in der Elterngeneration noch zu finden glaubte.

      Ich hatte Wanner einmal in seinem Elternhaus besucht und war betroffen gewesen, in welch ungebrochener