Название | Vorspiele |
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Автор произведения | Markus A. Sutter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907468 |
Nachtzug, 19 Uhr
Anfänglich war im Zug ein Gehen und Kommen. Aus dem Grubenlicht der Bahnhöfe stiegen Passagiere zu. Mitreisende, mit denen gerade noch ein Gefecht über Fussball geführt worden war, verliessen die Bahn. Die Weiterfahrenden standen im Korridor wie Hinterbliebene und beobachteten durch trübe Fenster die Flüchtenden, die Ausgemusterten, die Beurlaubten, wie sie ihre Füsse vertraten und verloren auf der Plattform ihres neuen Lebens standen, wie sie auf einen der tempelhohen Ausgänge zustrebten oder sich einer wartenden Person um den Hals warfen. So nahe man sich beim Gang auf die Latrinen und in die Waschkabinen gekommen, so eng man im Couchette gesessen hatte, wo man Armlehnen geteilt, Füsse zwischen die Beine des Gegenübers platziert, fremde Gerüche eingeatmet hatte: Man wird sich nicht mehr sehen. Der Abschied ist einer für immer.
Burger hatte die Vorhänge seines Abteils offengelassen. Er mochte das Bewegen, Wechseln und Promenieren auf dem Gang, die Blicke durch das spiegelnde Glas auf die Passagiere, die Bahnhöfe, die zu einzelnen Lichtern reduzierte Nachtlandschaft draussen. Die Störungen halfen ihm beim Nachdenken und Zurechtrücken seiner Vorstellungen. Anhand eines Stichwortes am Seitenrand hatte er sich von seinen Notizen gedanklich entfernt. Weit zurück in die Kindheit war er geraten in eine Zeit, als sie beide, er und sie, noch zusammenspielten, noch zur Schule gingen und sich beinah täglich besuchten, zusammen Bildbände anschauten über ferne Länder, Asien, Afrika, Japan, und über die Museen der Welt.
Gegenden der Kindheit
Ich bin etwa zehnjährig, als ich an einem späten Nachmittag nach Hause komme und mit dem Vorderrad in die Tür des Geräteschuppens stosse, wo neben Werkzeugen, einigen Blumenzwiebeln, Gartenschuhen und Überkleidern vor allem die Fahrräder untergebracht sind. Es ist ein einfacher Anbau zum Wohnhaus. Die ausgebleichte, ehemals graue Farbe an der Holzverschalung und der Schatten eines Zwetschgenbaums verleihen ihm etwas Geheimnisvolles. Die Kinder des Dorfes spielen gerne hier. Wir klettern das Regenrohr hoch, hängen uns an die Traufe und lassen uns hinunterfallen. Die Grösseren und Mutigeren ziehen sich bis auf das Blechdach, nehmen Anlauf und springen über den Plattenweg und die Wäscheleine mit gewagtem Satz ins Gras. Heute liegt der Schuppen verlassen da. Ich beuge mich über die Lenkstange, drücke die Falle und schlage mit dem prallen Reifen die Türe auf. Ich hebe das Rad über die Steinschwelle und schiebe es in eine Lücke.
Durch ein seitliches Fenster fällt vom Zwetschgenbaum gedämpftes Licht. Im weichen Dämmer entdecke ich dich an der hinteren Wand. Wie ein Bauernmädchen im Sonntagsstaat stehst du da. Um dich herum, aufgereiht, an die Wand gelehnt oder übereinandergeworfen, Laubrechen und Besen, Harken, Pickeln und Schaufeln. Von deinen glänzenden Sandalen und deinen kleinen Füssen geht ein Leuchten aus, das auf die gehäkelten Kniestrümpfe, den blumenbesetzten Rock und die helle Bluse übergeht. Deine Eltern sind aus dem Süden Italiens ins Land gezogen, geflohen vor der Arbeitslosigkeit, vor den ewig schimpfenden Grosseltern, vor den kranken Onkeln und sich aufspielenden Tanten, vor der eintönigen Arbeit in den Olivenhainen, vor materieller Armut und seelischer Verödung. Sie glauben an die Zukunft im Norden, auch wenn sie keinen Beruf erlernen durften und jetzt Ziegelöfen bestücken und Spinnereimaschinen bedienen müssen, auch wenn sie sich nicht eingestehen wollen, dass ihnen das aufwühlende Farbenspiel des Meeres und das Hundegebell bei der Olivenernte fehlen.
Ihr mietet über der Kurzwarenhandlung des Dorfes eine Wohnung. Euer Weihnachtsbaum, der jeweils im Erker zur Hauptstrasse steht, ist immer der schönste im Dorf. Mit echten Engelshaaren, echten Engelsglocken und einem Musikdosengloria. Eure Sonntagskleider stechen alle anderen aus. Du bist im Dorf geboren und ein Kind des Dorfes geworden. Dein breites ovales Gesicht aber, die weichen Wangen, die ungezähmten, spröden, honigbraunen Haare, die Schattengruben in den Mundwinkeln, der Flaum auf der Oberlippe und die nachtdunklen Augen machen aus dir ein Bauernkind aus dem Süden. Du hattest mir einen Kuss versprochen und bist gekommen, um das Versprechen einzulösen. Ich zwänge mich durch das Räder- und Stangengewirr. Wir stehen voreinander und sind unschlüssig, welche Neigung unsere Köpfe einzunehmen haben, wissen nicht, wohin mit den Händen. Wir nippen eher, als dass wir von den Lippen kosten. Aber es ist ein Kuss, so echt wie die Engelshaare. Danach stehen wir verlegen. Ich gehe zur Tür und spähe durch einen Spalt. Als ich sehe, dass niemand auf dem Plattenweg daherkommt und die Lage unter dem Zwetschgenbaum ruhig bleibt, lasse ich dich durch die Öffnung entwischen. Einige ewige Sekunden später versuche ich Richtung Hauseingang zu schlendern, summend, als wäre nichts geschehen, als spürte ich nichts von der fiebrigen Kühle auf meinen Lippen.
Am nächsten Tag, auf dem Heimweg, bleiben wir an eurer Hausecke stehen. Die Daumen unter die Gurte deines Schulranzens geklemmt, zeichnest du mit dem Fuss Figuren in den Kies und sagst: »Meine Eltern küssen und umarmen sich beim Verabschieden immer.« Bevor ich etwas erwidern kann, drückst du mir einen Kuss auf die Lippen. Der Atem stockt mir. Du schaust mir mit Schalk in die Augen, drehst dich um und rennst davon. Ich sehe den wackelnden Ranzen an deinem Rücken. Die Daumen hast du noch immer untergehakt. Am nächsten Tag mache ich es dir nach. Der Abschied wird zu unserem Ritual. Es bleibt aber ein kurzes Zwischenspiel. Einige Schulkameraden verpetzen uns bei Fräulein Hungerbühler. Mitten im Unterricht ruft Felix: »Die haben schon geknutscht.« Und Hans: »Sie knutschen jeden Tag. Ich habe sie an der Hausecke gesehen.« Wir müssen nach der Stunde drinbleiben. Fräulein Hungerbühler redet uns ins Gewissen. Du schweigst. Zu stolz, um zu antworten oder einen Fehler zuzugeben. Ich hingegen fühle mich schuldig. Als sie nicht aufhören will, mich mit Fragen zu bedrängen, fange ich an zu flennen. Am nächsten Morgen steht Frau Heilig, die Hauswartin, mit ihrem Reisbesen beim Schuleingang. Kontrolliert mit flammendem Blick die Schuhe der Kinder. Als wir durchschlüpfen wollen, grummelt sie: »Ihr macht ja schöne Sachen.«
In unseren Kindheiten gibt es vorerst keine Badezimmer. Weder bei dir noch bei mir. Bei uns steht die Wanne auf vier verschnörkelten Füssen in der Kellerwaschküche. Sie steht an einer rau verputzten Zementwand zwischen dem tonnenförmigen Kupferkessel und der zierlichen Zentrifuge. Der Blick aus dem Fenster, von einer Schachtmauer beschnitten, geht auf die nahen Obstbäume von Eberhards hinaus. Die in der oberen Hälfte verglaste Aussentür legt im Morgenlicht vier helle Mosaiksteine in den Waschküchenboden. Von der Tür führt eine flache Rampe zur Hauseinfahrt und zum Garten. Dort spiele ich mit meinen Geschwistern, oft aber auch mit dir. Wir versuchen, Spinnen zu fangen, lassen Kieseln und Murmeln hinunterrollen, bauen kleine Hütten aus Laub und Holz und spielen Familie. An Samstagen, wenn der Vorplatz mit dem Reisigbesen gefegt oder mit dem Schlauch abgespritzt ist und dich die Glocken nach Hause gerufen haben, heize ich mit den Brüdern den Kessel ein. Danach sitzen wir zu zweit und zu dritt mit unserer perlweissen Haut in der überschäumenden Riesenmuschel, pflastern uns Schaumbärte an und kratzen uns die Rücken wund, während du in eurer verwinkelten Stube von deiner Mutter in einen Zuber getaucht wirst, um wie neugeboren, nach Seife riechend und frisch frottiert, daraus hervorzugehen.
Nach dem Einbau der Badezimmer bei euch und bei uns bleiben die Wannen weiter im Gebrauch. Am Vorabend werden die verschmutzten Wäschestücke darin in eine Lauge gelegt, am Wäschetag mit dem Stampfer durchgewalkt, wenn nötig im Waschtrog unter dem Fenster geschruppt und dann zum Kochen in den Kessel geworfen, bis sie mit einem Holzbleuel oder einer langen Holzkelle wie tote Fische aus dem siedenden Wasser gezogen werden. Das Spülen ist eine nasse und langwierige Arbeit. Im Winter setzt es kalte, käsige Hände und Arme ab, bis endlich die Seife ausgeschwemmt ist und die klatschnassen Wäscheballen unter Wimmern und Dröhnen in der Zentrifuge ausgeschwungen werden können.
An Wäschetagen legen unsere Mütter von innen den schwarzen Schlüssel um, öffnen die Türen und lassen die Sonne ein, um ihre Gelten und Zainen voll duftender Wäsche an die freie Luft zu tragen. Du bist Einzelkind. Wir sind eine grosse Familie. Bei uns stehen der Einfahrt und dem Schuppen entlang verzinkte Stangen mit je zwei schneckenförmigen Haken daran. Einmal im Jahr schlauft mein Vater neue Drähte ein und spannt sie. Das reicht für den Wäscheberg von sieben Kindern aber nicht aus. Meine Mutter haspelt darum vom Holzwickler eine Leine ab, befestigt sie am nächsten Telefonmast und an unserem Berner-Rosen-Baum, von dem ich dir im Herbst jeweils einen Pausenapfel mitbringe.
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