Vorspiele. Markus A. Sutter

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Название Vorspiele
Автор произведения Markus A. Sutter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907468



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ist mit allen ihren Kindern erschienen und hat hinter euch Platz genommen. Du begrüsst Hanspeter, einen unserer Schulkameraden, auf den wir uns verlassen können, der zu uns steht, wenn wir gehänselt werden. Die Chemiker der Wollfärberei, die unsere Eltern nie ohne den Titel Doktor begrüssen, die Direktoren der Spinnerei und Stickerei geben sich mit Ehefrauen die Ehre. Frau Doktor Schellenbaum behält ihren Pelz an, Frau Doktor Forrer macht keine Anstalten, ihren auskragenden Hut inklusive Kunstblumenbouquet abzunehmen. Und siehe da, Frau Heilig, die Schulhauswartin, ist tatsächlich auch vor Ort. Sie sieht beinah menschlich aus, wenn sie nicht von ihrem berüchtigten Besen eskortiert wird, den sie uns Kindern über den Kopf zieht, wenn wir die Schuhe nicht ordentlich putzen. Wattingers, die Wirte des Hotels Bahnhof, sitzen mit Töchterchen Käthi in der vordersten Reihe. Forstmeister Traber, der in der Schlossgasse wohnt und seine Wohnung von meinem Vater hat austapezieren lassen, in der dritten. Die Tschumpers, der Wirt des Cambrinus und die Wirtin des Hirschen haben sich zusammengetan. Der Coiffeur und die Coiffeuse platzieren sich neben dem Kunststeinfabrikanten, der Gemüsehändler Mastai neben dem Papeteriehändler Walder. Der Küfer und Totengräber Enz gibt den Stuhl neben sich dem Sattler und Tapezierer Bösiger von der Heidengasse. Der Schmied, der Schlosser, der Schreiner und der Velomechaniker machen es sich auf der Galerie bequem. Der Drogist sitzt neben Dorfarzt Doktor Fröhlich. Die robuste Gemeindeschwester Marie Baumann nimmt sich einen Stuhl und klappt ihn energisch am Rande des Publikums auf, als ob sie Pikettdienst hätte. Vom Postbeamten über den Bahnhofsvorsteher und Gemeindeammann bis hin zu den evangelischen und katholischen Würdenträgern: Alle sind sie da. Nur eine Familie fehlt. Sie wohnt hinter dem Coiffeursalon Kubli. Der Vater ist Hausierer. Juchtenglanz, Schuhbürsten, Hemden- und Hosenknöpfe, Kernseife und Haarspangen. Die Mutter näht zu Hause bis spät in die Nacht für ein knappes Entgelt, nimmt Aufträge zum Abändern entgegen. Am Samstag dürfen die Kinder die Schule nicht besuchen, weil es ihr Feiertag ist, wie uns Fräulein Hungerbühler erklärt hat. Dann sieht man sie auf den Feldwegen zwischen Kiesgrube und Mühlewald spazieren, ganz in Schwarz. Wir begegnen ihnen mit einem Hauch von Ehrfurcht. Etwas Ernstes und Feierliches umgibt sie. Wir begrüssen sie besonders anständig, weil wir glauben, sie hätten es auf irgendeine unbegreifliche Weise verdient.

      Die Taue hängen als Stummeln von der Hallendecke. Das Klettergerüst ruht schräg an die Fussleiste gerollt. Die Halterungsrohre der Reckstangen zieren als raumhohe Säulen die Seitenwände. Die am Rande sichtbaren Stoffbahnen des rosa Vorhangs putzen die Bühnenöffnung auf. Alles, was die gewöhnlichen Funktionen der Halle hätte entlarven können, ist weggesteckt, verzurrt und vertuscht. Ausgelegt, aufgetragen und geschminkt sind hingegen die Mittel zur Vorspiegelung eines Konzertsaals. Die letzten Zuhörer schieben sich durch die Reihen. Die Scheinwerfer blenden auf, das Hallenlicht wird ausgeschaltet, der Lärm ebbt ab. Für einen kurzen Moment steht die sich feiernde Halle im Zentrum des Geschehens und zelebriert in der Stille den Advent ihres lang ersehnten Tages.

      Ich stehe auf der Treppe, drücke meinen Rücken an die Wand und mache dem Orchester Platz. Zuerst kommt die Geigerin herauf. Sie hält ihr Instrument zwischen dem kleinen Schneckenkopf und dem scharlachroten Schallkörper um den Hals gefasst und schiebt es vor, als wäre es eine Opfergabe. Ihr brünettes, halblanges Haar ist seitlich gescheitelt, an den Enden aber zerzaust und am Schopf wie verschoben. Ihr Kopf zuckt vogelhaft hin und her, scheint alles erhaschen zu wollen. Sie trägt eine dunkel umrandete, runde Brille und hat schmale Lippen, die sich zuspitzen, als sie an mir vorbeigeht und mir Mut zuspricht. Etwas Schelmisches ist an ihr, das mich anzieht. Ich weiss, dass sie die anerkannte Geigenlehrerin der Region ist. Flusstal auf und ab gehen Kinder zu ihr in die Stunde. Nun zirkelt sie um die vielen Stühle und begibt sich an ihr Pult. Hinter und neben ihr verteilen sich Musikerinnen und Musiker, die sich an mir vorbeigedrängt haben. Die einen streben geradewegs zu ihren Sitzen und Noten, die anderen reichen sich über die im Halbrund gestellten Stuhlreihen hinweg die Hand. Die erste Geigerin wirft ihren Kopf in den Nacken und begrüsst mit aufmunternden Blicken die Kollegen, um sogleich wieder wegzuzucken und mit blinzelnden Augen die Zuhörerschaft zu mustern.

      Schliesslich hat sich das Orchester geordnet. Die Oboe gibt den Stimmton. Das Licht wird auf maximale Helligkeit hochgefahren. Schnallen und Broschen, Nadeln und Perlmuttknöpfe, Haaröl und Lackschuhe spiegeln und funkeln in den flutenden Lichtbahnen. Auf der ausgeleuchteten Bühne glänzt im Zentrum des Mittelgrundes die helle Scheitellinie unseres Lehrers am Cembalo. In dessen Körperdeckung sitze ich, Dorfschüler im vierten Jahr. Der Lehrer ist Musikstudent und nur zwischenzeitlich im Dorf tätig. Er hat meine Eltern angefragt, ob ich beim Notenwenden behilflich sein könnte. Mein Vater, ein Baumaler, ist einverstanden gewesen. Eine praktische und einsehbare Sache. Zu den Proben fahren wir in eine Ortschaft von beinah städtischer Grösse. Unser Lehrer vertritt dabei den später dazukommenden Solopianisten. Jetzt, beim Konzert, spielt er zuerst das Cembalo, nach der Pause, zur Begleitung des Pianos, im Orchester das Cello. Es ist dem Lehrer zu verdanken, dass eine der Aufführungen in der Turnhalle des Dorfes stattfindet.

      Obwohl in der Sicherheit des Lehrerschattens, bin ich dem Sturm der Musik ausgesetzt. Schon von den ersten Böen werde ich erfasst und weggetragen. Meine Aufgabe ist es zwar, den geheimnisvollen Mustern der Partitur zu folgen. Ich kann es aber nicht lassen, auch das wogende Geschehen im Orchester mitzuverfolgen. Die Bewegungen der ersten Geigerin fliessen aus den weichen Falten des Trägerkleids. Ihre Wangen spiegeln das Scharlachrot ihres Instrumentes wider. Der Dirigent beschwört das Orchester mit der ausgestreckten linken Hand, besänftigend und fordernd, um es mit hartem Griff sogleich wieder aufzuschrecken und aufzurütteln, während die rechte in geschwungenen Formen den Takt in den Raum zeichnet. Die Musik klingt wie ein Tanz. Wie Frühjahr. Wie Vogelgezwitscher. Der Anfang scheint geglückt zu sein.

      Beim nächsten Umblättern verspüre ich einen Druck auf der Blase. Ich habe vergessen auf die Toilette zu gehen. Die Mutter zuhinterst in der Halle hat mich nicht mahnen können, der Musikstudent nicht daran gedacht. Ich selber bin vom Eintreten der Zuhörerschaft abgelenkt gewesen. Auch wenn ich mich mit aller Kraft auf die Noten konzentriere, wird das Bedürfnis, mich zu erleichtern, immer grösser. Der Lehrer ist einzig mit seinem Spiel beschäftigt. Ich hänge mich an die Basslinie, bemüht, die Gischt des Orchesters auszublenden. Der Harndrang aber wird so unerträglich, dass ich mich endlich vorbeuge, um mich im Blickfeld des Lehrers bemerkbar zu machen. Als er nicht reagiert, gebe ich flüsternd zu verstehen, dass ich unbedingt austreten müsse. Ebenso unbedingt und gnadenlos rümpft er die Nase und spielt weiter. Die Hände sind ihm gebunden. Er ist angewiesen auf das Wenden. Für das Cembalo gibt es keine Pausen. Er ist verantwortlich für den Schlag der vorrückenden Zeit in Form eines fortlaufenden Basses. Unterbrechen ist unmöglich, Austreten eine kleinere Katastrophe und eine verheerende Niederlage mit entsprechender Glosse im Dorfblatt. Auf mir liegt – das begreife ich aufgrund der Grimasse meines Lehrers – die Verantwortung für das Gelingen des Konzertes. Ich presse meine Oberschenkel zusammen, quetsche die Fingerspitzen in den verbleibenden Spalt zwischen den Beinen und erhöhe den Gegendruck. Zugleich versuche ich die einförmigen Akkordtürme nachzuverfolgen und keine Linie zu überspringen. Das gegenwärtige Orchesterstück lese ich vom Blatt. Das Klavierkonzert bei den Proben war einfacher. Dort haben sich Läufe, Melodien und Begleitfiguren auffällig abgewechselt, hier herrscht gleichförmiges Nacheinander. Kurz vor dem Seitenwenden stehe ich auf, der Lehrer nickt, schnell umschlagen und wieder zurück zum Beckenbodentraining. Meine Hände werden nervös. Ich drücke sie zu Fäusten und strecke sie wieder flach aneinander. Am schlimmsten sind die Pausen zwischen den Sätzen, auch weil ich nicht weiss, wie viele noch folgen. Immer noch ein Satz. Immer noch kein Abschluss. Oberschenkel anziehen. Knie zusammendrücken. Endlich scheint der letzte Akkord zu verklingen. Der Dirigent spreizt die Arme, als ob er die ganze Welt umfangen wolle, zeichnet mit beiden Händen zwei Kringel in die Luft und schliesst ab. Für einen kurzen Moment hängt alles in der Schwebe. Die Instrumente sinken auf die Knie. Bogenspitzen neigen sich dem Bühnenboden zu. Gesichter wenden sich zum Dirigenten. Alle halten die Sekunde der Geräuschlosigkeit wie in samtenen Händen, unsicher, ob schon der Applaus erfolgen darf. Dem ländlichen Publikum war eingetrichtert worden, dass Unterbruch nicht immer Ende bedeutet. Der Nachbar wartet mit einem Seitenblick auf die Nachbarin. Sie wird Bescheid wissen. Ich aber wittere die bevorstehende Befreiung. Schaue schräg hinauf zum Lehrer. Bittend, flehend. Der Lehrer senkt die Augenlider und nickt. Sofort stehe ich auf. Das Rücken des Stuhls löst eine mittlere Detonation aus. Die wie gelähmt dasitzende Zuhörerschaft verfolgt gebannt, wie ich