Vorspiele. Markus A. Sutter

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Название Vorspiele
Автор произведения Markus A. Sutter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907468



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bricht das Publikum in einen mächtigen, rauschenden und von Lachen durchgrölten Applaus aus. Ich öffne den Ostflügelausgang, renne unter den Arkaden zum Westeingang, reisse die schwere Türe auf und hetze zur schwarzen Pissoirrinne, deren Duft von Ammoniak und giftblauen Duftkugeln für mich die Erlösung und Erleichterung bedeutet. Während mein Wasser endlos lange in die Rinne plätschert, höre ich den Applaus. Das Konzert ist gerettet. Nach der Erleichterung schleiche ich zurück in die Halle und darf mich nun ins Publikum setzen. Die Mutter hat mir einen Platz reserviert. Jetzt soll der berühmte Pianist zum Einsatz kommen. Einige zusätzliche Musiker fügen sich ins Orchester ein. Ein Flügel wird hereingerollt. Mit wilder Wucht verneigt sich der Solist. Die mächtige Mähne berührt beinah den Bühnenboden. Noch wilder, noch ausfahrender und doch wieder einnehmend und verführerisch zart sind seine Bewegungen während des Spiels. Das ist die Reprise, flüstere ich an einer Stelle. Meine Mutter staunt über ihren Sohn. Das Wort habe ich von meinem Lehrer während der Proben gelernt.

      Du hattest meine Misere während der Aufführung erkannt. Gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Selbst deine Mutter habe dir zugeflüstert, was mit mir los sei, ich sitze so gequetscht. Nachher lachen wir darüber und kreieren ein geflügeltes Wort: »Ich muss dringend von der Bühne«, sagen wir seitdem, wenn wir auf die Toilette verschwinden. Das Ereignis begleitet uns durch die Kindheit auch darum, weil uns der Musikstudent ein Schubert-Lied beigebracht hat, das zu unserem Erkennungszeichen wird. Wir singen oder pfeifen den Anfang, wenn wir uns überraschen oder bemerkbar machen wollen. Tausendmal mögen wir uns so gegrüsst haben, als das längst verklungene Konzert noch einmal ins Zentrum rückt und eine Entscheidung herbeiführt. Du kennst auch diesen Teil der Geschichte. Lass mich weitererzählen.

      Als Jugendliche bist du beim Comestibles Matteo Mastai tätig. Ich gehe im Hauptort der Region zur Mittelschule. Obwohl es dir angeboten wurde, hast du eine Verkäuferinnenlehre ausgeschlagen. Du willst jede freie Minute dem Tanzen widmen und genug Geld für die geplante Reise auf die Seite legen. Womöglich auch Teilzeit arbeiten, wenn Kurse anstehen oder Tanztruppen durchs Land ziehen. Wir sehen uns meistens am Morgen, wenn du die Früchte- und Gemüsekisten auf die Bretter tischst und die Sonnenstore auskurbelst, während ich zum Bahnhof renne. Du trägst eine grüne Schürze und hast die Haare mit einem breiten, gemusterten Tuch hochgebunden. Die enge Hose und deine dünnen Fesseln in den schweren Schuhen bilden einen Kontrast zur weiten weissen Bluse. Die Lippen zündeln wie Paprikaschoten. Wie meistens machst du aus einer uniformierten Kluft ein modisches Ereignis. Wir treffen uns nun seltener. Dein Arbeitstag beginnt früh. Ich komme spät von der Schule zurück. Trotzdem sitze ich an den Wochenenden in deiner verwinkelten Stube. Während deine Mutter Sophia in der Küche Verdi-Arien hört, dazu selber singt, etwas näht oder zubereitet, tauschen wir Ereignisse aus, Neuigkeiten von ehemaligen Schulkameraden. Oder liegen auf der Couch. Bei einer dieser Gelegenheiten komme ich auf deine bevorstehende Reise zu sprechen. Ich deute an, dass ich dich um deine Pläne beneide. Dass ich gerne deine Entschiedenheit hätte. Dabei spiele ich den Geheimniskrämer. Meine Bemerkung ist ein Köder, um dich neugierig zu machen. Du ahnst etwas und fragst, was ich verheimliche. Endlich rücke ich damit heraus: Ich werde das Dorf verlassen. Seit Kurzem bin ich sicher, dass für mich hier kein Platz ist. So wie du seit Langem weisst, dass du auf Reisen gehen willst.

      »Warum das?«, fragst du.

      »Eine Erkenntnis.«

      »Welche denn?«

      Erst vor Kurzem habe ich einige Botengänge für das Geschäft meines Vaters gemacht. An einem regnerischen Märzabend komme ich über die Käserei und an der Bäckerei Boksberger vorbei zur Hauptstrasse. In der Ferne sehe ich die Kreuzung mit dem hohen Lampenmast. Aus den linsenförmigen Enden fällt Licht wie Seidengarn in den Verkehrsfluss. Ich gehe im Schatten der Villa Schellenbaum auf die Kreuzung zu. Es mag der flimmernde Glanz auf dem nassen Belag sein, die Strahlen des Kandelabers, die nadeldünnen Blitze aus den Katzenaugen an den Strassenpfählen: Mit einem Schlag rückt der beleuchtete Stab des Dirigenten in meinen Sichtkreis und tanzt vor meinen Augen. Ich sitze im Flutlicht des Konzertsaals und sehe die helle Hand des Knaben, wie sie die Seiten umschlägt, die zu Krallen gebogenen Lehrerfinger, wie sie mit der Regelmässigkeit eines Schöpfrades in die schwarzen Cembalotasten greifen. Ich versuche, mir die Töne von damals in Erinnerung zu rufen. Versuche, den Klang zu hören, eine Reprise zu erzwingen. Das Bild des Dirigenten sehe ich vor mir. Die Geigerin und ihr scharlachrotes Instrument. Den Lehrer mit seinem hellen Scheitel. Ich weiss, wo du mit deiner Mutter gesessen hast und dass Hanspeter Götsch hinter euch Platz genommen hatte. Der Solopianist ist mir gegenwärtig, wie er mit generöser Geste und kleinen Schritten auf die Bühne stürzt und sich an das glänzende Instrument setzt. Ich verfolge, wie seine Hände über die Tasten hüpfen und springen, wie der Leib sich vor- und zurückstemmt, der Kopf in den Nacken fällt und wieder beinah auf die Tastatur klatscht. Und ich erinnere mich, wie mir bewusst ist, noch nie etwas Vergleichbares gehört zu haben. Nichts ist davon übrig geblieben. Die Erinnerung ist stumm. Ich sehe Bilder, höre aber keine Töne. Das Dorf, so sehr ich mich bemühe, hallt nicht wider. Kein Echo aus den Kindertagen. Kein Schallraum, der die Schwingungen behalten und als Reprise zurückwerfen könnte. Nur die Todesschreie der Säue drängen sich mir auf, so oft ich am ehemaligen Schlachthaus vorbeikomme. Für Musik gibt das Dorf keinen Resonanzkörper ab. Das muss ich akzeptieren.

      »Und wie machst du das?«, fragst du.

      Was ich beruflich erreichen will, wird auf dieser lückenhaften Erinnerung nicht bestehen können. Es ist, als hätte ich einen Koffer auf einem fernen Bahnsteig stehen lassen. Ich muss ihn zurückholen, um die Reise fortsetzen zu können. Muss ihn auspacken und den Tönen auf den Grund gehen, wenn ich ihr Echo hören will. Meine Entscheidung ist gefallen. Ich werde Musik studieren. Auch wenn die Voraussetzungen dafür schlecht sind. Bis jetzt habe ich nur nach Lust und Laune musiziert. Technik und Können interessierten mich kaum. Das Aufspüren jenes vergessenen und verhallten Konzertes fordert ein geplantes und diszipliniertes Üben. Das Dorf ist dabei ein Hindernis. Ich werde wegziehen.

      Du hörst dir meinen Bericht an, fragst nach, wie ich es denn anstellen wolle. Ich erwähne zum ersten Mal die Stadt, in der kürzlich eine Berufsschule für Jazz eingerichtet worden ist. Du freust dich. Offensichtlich entlastet es dich, dass auch ich eine unabhängige Zukunft ins Auge fasse. Ich bin etwas enttäuscht, dass du in keinem Moment des Gesprächs erwägst, deine Pläne den meinen anzupassen und eine Tanzschule in derselben Stadt zu suchen. Umso verzweifelter liebten wir uns an diesem Abend.

       Nachtzug, 21 Uhr

      Der Zug hielt vor dem grossen Tunnel. Niemand durfte aussteigen. Besteht auch kein Anlass dafür, dachte Burger, als er einen Blick in die Öde des Bahnhofs warf. Ein heftiger Wind trieb Laub über den Perron. Schleier von trockenem Staub wischten über den grauen Spiegel des Belags. Im Hintergrund erhob sich ein riesiges Gebäude, das bessere Tage gesehen hatte. Die Fenster des ehemals herrschaftlichen Buffets waren mit Brettern zugeschlagen. Die Lautsprecher schepperten in eine Höhle hinein, die von niemand bewohnt war.

      Burger war ins Sinnieren gekommen, als er sich mit dem Turnhallenkonzert beschäftigte. Die vielen Menschen, die er beobachtet und nie mehr gesehen hatte, überwältigten und verwirrten ihn. Er war erstaunt, dass ihm die Namen wieder eingefallen waren. Offenbar hatten sie sich in seinem Gedächtnis eingenistet und waren Teil seines Inneren geworden. Das Erscheinen der Konzertbesucher erinnerte ihn an eine Szene in einem mittelalterlichen Epos. Die Ritter werden mit Trompetenstössen angekündigt und die Namen vom Herold ausgeschrien. Schild und Lanze, Federschmuck und Wappentier blitzen kurz auf, um schon im nächsten Bild wieder abzutreten, weil die Hauptkämpfe auf der Bühne ausgetragen werden und nicht auf der Blumenwiese.

      Wieder röhrte der Lautsprecher. Wieder sah Burger den flach über den Boden wehenden Staub. Erst jetzt schaute er genau hin und registrierte, dass es sich um feinen Schnee handelte, der sich ausserhalb der Überdachung verwirbelte und ins Dunkle verzog.

      Burger blätterte eine Seite um, wollte die Kindheit verlassen und wieder in die Gegenwart ihrer damaligen Trennung zurückkehren. Die Zeit, in der er sie so sehr vermisste, dass er – wie die Notizen belegten – sie ausgeblendet hatte. Brunnenhaus stand auf der neuen Seite. Nächste Station.