Lebensreise. Alois Brandstetter

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Название Lebensreise
Автор произведения Alois Brandstetter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746477



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argumentiert wurde, zugleich eine Abkehr vom Beispiel Jesu war, der in ein Felsengrab gelegt wurde. »Der ist bei der Flamme«, war ein Satz über eine Ungeheuerlichkeit. Flamme hieß der Sterbeverein jener, die »sich verbrennen« lassen wollten. Heute ist alles anders. Die Pensionisten meiner Heimatgemeinde, und zwar sowohl diejenigen aus dem schwarzen, als auch die aus dem roten Verein, haben gemeinsam einen Ausflug nach Sankt Marienkirchen gemacht, um dort das neu errichtete Krematorium zu besichtigen, von dem es heißt, daß sich mit ihm kein anderes Krematorium in Österreich, was seine Kapazität und Leistungsfähigkeit betrifft, messen und vergleichen könne … Angeblich gibt es dort auch eine Kantine, wo die Besucher, wie in einer Brauerei im Bräustüberl, mit Freibier und Frankfurter Würsteln bewirtet werden. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil darf auch kein Pfarrer mehr Selbstmördern oder deren Hinterbliebenen ein christliches Begräbnis verweigern. In einer deutschen Satirezeitschrift erschien damals eine Karikatur, auf der ein geschwänzter und gehörnter Krampus oder Teufel vor einer langen Reihe von Verdammten stand, mit einer Sprechblase, in der es hieß: Alle Feuerbestatteten vortreten! Generalamnestie!

      Es entspricht im übrigen einer religiösen Unsicherheit, einem Minderwertigkeitsgefühl als Reaktion auf das schon zitierte »religio est pudendum«, daß sich die »Konfessionellen« gerne nach prominenten Anhängern ihrer Kirche umsehen und auf berühmte Personen, am besten auf Literaturnobelpreisträger oder Stars und Spitzensportler berufen, die sich in »Testimonials« (»Zeugnis geben«) zu ihrer Kirche und einem entsprechenden Lebenswandel bekennen. Ein solches Idol war in meiner Kindheit und Jugend in der Katholischen Jungschar und der Katholischen Jugend der Schifahrer und Olympiasieger Toni Sailer, der in seiner Heimatstadt Kitzbühel wohl mit der Kirche, der »Ortskirche«, vertraut war. Wenn sich dann viel später, vielleicht sogar nach dem Ableben der »Bekenner«, gewisse moralische Mängel und dunkle Flecken in ihrer Biographie bzw. gewisse Prominente als Heuchler oder Frömmler herausstellen, ist das Ende der Fahnenstange und der Sympathie erreicht. Viele ehemalige Sympathieträger der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit wurden im nachhinein entzaubert. Viele Stars sind erloschen oder haben sich als Sternchen oder überhaupt als Sternschnuppen erwiesen … In meiner Mundart heißt übrigens stürzen, etwa beim Schifahren, einen »Stern reißen«. Es sind freilich auch schon manche »Entzauberer« und Enthüllungsjournalisten entzaubert und »enthüllt« worden … Der Mensch ist und bleibt ein »Mängelwesen«. Auch man selbst, in diesem Sinne: Me too. Viele »Gerechte« haben sich als Selbstgerechte erwiesen und herausgestellt.

      »Bekenner« war übrigens der theologische Fachausdruck für heroische Menschen, die sich von ihrem Glauben nicht »abbringen« haben lassen. Auch nicht durch Folter. Ich glaube nicht, daß ich einer Tortur und einer »hochnotpeinlichen« Untersuchung, den »Daumenschrauben«, der »eisernen Halskrause«, der »Streckleiter«, aber auch nicht der Qual durch Schlafentzug, womit man neben anderen Brutalitäten wie der grellen Bestrahlung durch Jupiterlampen etc. den ungarischen Erzbischof und Primas von Ungarn József Mindszenty, den entschiedenen Kritiker des Kommunismus, gequält und zermürbt hat, standgehalten hätte … Auch nicht dem in der Strafanstalt auf der Insel Guantánamo praktizierten »Waterboarding«, der »modernen« Foltermethode des simulierten Scheinertränkens …

      »Bekennen« führte in vielen Fällen zum Martyrium. Im Buch »Erotik und Enthaltsamkeit« des französischen Historikers Jacques Dalarun, eines Schülers des Historiker-»Papstes« Georges Duby, erfährt man über den Abt Robert d’Arbrissel aus dem Kloster Fontevraud in der Bretagne (das Werk heißt im Original »Robert d’Arbrissel et la vie religieuse dans l’Ouest de la France«), daß es neben dem sogenannten »roten Martyrium« der »Blutzeugen« auch ein »weißes Martyrium« gegeben hat. Im Falle des Robert d’Arbrissel bestand es darin, daß Mönche und Nonnen gemeinschaftlich lebten, ja, im selben Dormitorium schliefen. Die asketische Leistung bestand darin, daß sie der »fleischlichen« Versuchung und der Libido widerstanden, sich der Versuchung widersetzten und das Sprichwort falsifizierten: Wer sich in die Versuchung und Gefahr begibt, kommt darin um …

      Viele Religionen und Konfessionen kennen das Märtyrertum, weil sich die Gläubigen sozusagen gegenseitig massakrieren und umbringen, wie Kritiker meinen. Im Gegensatz zum Islam, wo den »Märtyrern« (oft Terroristen und Selbstmordattentätern) im Jenseits 100 Jungfrauen versprochen werden, gilt im Christentum nach Markus 12,18–27: »Im Himmel wird nicht gefreit.« In der Vulgata heißt es, daß Jesus den Sadduzäern auf ihre spitzfindige Frage antwortet: Im Jenseits »neque nubent neque nubentur« … Luther übersetzt: »Sie werden nicht freien, noch sich freien lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel.«

      Als »Engel im Himmel« wurdest bekanntlich auch du, Prinz Aloysius von Gonzaga, bezeichnet, als du 1591 im Ruf der Heiligkeit als 23jähriger Jüngling beim Samariterdienst, der Pflege von Pestkranken in Rom, starbst, wie du auch auf vielen Bildern mit einem Pestkranken, den du auf Händen trägst, dargestellt wirst. Als du, Aloysius, starbst, war der französische Priester Vinzenz von Paul, der sich durch Großtaten der Nächstenliebe, der Armenfürsorge und der Krankenpflege ausgezeichnet hat und als Gründer und Patron der Caritas gilt, gerade zehn Jahre alt. Es waren Mönche und Nonnen, »Barmherzige Brüder« und »Barmherzige Schwestern«, die Spitäler und Sanatorien gründeten und betrieben, die heute zunehmend von der öffentlichen Hand übernommen und als allgemeine Kliniken und Krankenanstalten geführt werden. Nur die alten Bezeichnungen wie etwa »Elisabethinen-Krankenhaus« oder »Privatklinik Maria Hilf« in Klagenfurt erinnern noch daran, daß es sich einmal um kirchliche Institute gehandelt hat. Der gute Geist der Nächstenliebe wirkt auch noch in unserer, von vielen mit Recht als herzlos empfundenen Gegenwart, wenn man nur an die Friedensnobelpreisträgerin, die aus Skopje stammende Mutter Teresa in Kalkutta denkt. In Saarbrücken steht das »Evangelische Krankenhaus« in hohem Ansehen, wo ich meinen verehrten Lehrer Hans Eggers einmal kurz vor seinem Tod im Jahr 1988 besuchte. Nach seiner Einäscherung wurde seine Urne auf dem Friedhof Sankt Johann »beerdigt«. Mit dem Spital »Maria Hilf«, einst von Schwestern geführt, die sich nun, wenige und alt und in Pension, in eine an den Garten des Sanatoriums angrenzende Villa zurückgezogen und das Krankenhaus den Ärzten und Schwestern der Vereinigung »Humanomed« übergeben haben, habe ich nun leider – oder eigentlich Gott sei Dank – als Apnoe-Patient Bekanntschaft machen müssen – oder dürfen. Hier wurde mir durch den Neurologen und Psychiater Dr. Gustav Raimann, nach einer richtigen, sozusagen punktgenauen Diagnose und Therapie und nach der Untersuchung im Schlaflabor wunderbar geholfen, so daß ich wieder Lust bekam zu leben und zu schreiben …

      Es gibt natürlich hier wie in vielen Krankenanstalten auch eine Kapelle, nicht nur einen allgemeinen interkonfessionellen »Andachtsraum« wie in neuen Spitälern. Die Kapelle in »Maria Hilf« stammt vom berühmten Architekten Clemens Holzmeister. Vor der »Rezeption«, der »Aufnahme«, beim Eingang erinnert noch eine traditionelle Marienstatue an die Geschichte des Hauses. Aber auch ein modernes Bild des großen slowenischen Kärntner Malers Valentin Oman kann man hier bewundern, das ähnlich wie Omans Fresken in der Kapelle auf dem Friedhof in Annabichl oder in der Kirche im Bischöflichen Internat und Gymnasium Tanzenberg – das Oman wie auch Peter Handke oder Engelbert Obernosterer besucht haben – »verblassende« Menschen und Gestalten zeigt, die schemenhaft und geheimnisvoll in die Gegenwart hervor- oder eigentlich in die Ewigkeit des Jenseits zurücktreten … In Tanzenberg zitiert Oman über seinen Bildern das Turiner Grabtuch, das auch stilistisch viel über seine Malweise aussagt. Es war mir eine Ehre, daß ich an der Universität Klagenfurt bei Omans Verleihung der Ehrendoktorwürde die »Festansprache« halten durfte. Schließlich kennen wir uns seit unserer Studienzeit, als wir beide im Studentenheim in der Wiener Ebendorferstraße wohnten, ich als Student der Germanistik, er als Student an der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz. Fast wären wir dort Kollegen geworden. Aber er hat im Gegensatz zu mir die Aufnahmeprüfung bestanden …

      Viele Jahre später, nach meinen dreizehn Jahren in Saarbrücken und meiner Rückkehr nach Österreich, wollte mich der Maler Josef Mikl, der an der Akademie der bildenden Künste eine Meisterklasse leitete, als Nachfolger des verunglückten, zwanzig Jahre verschollenen und schließlich tot in einer Höhle in den Osttiroler Bergen aufgefundenen Kunstwissenschaftlers, des Jesuitenpaters Alfred Focke, als Kollegen und Freund an die Akademie berufen lassen. Daraus ist nichts geworden. Es hätte wohl auch nicht ganz meiner damaligen Lebensplanung entsprochen … Mit Focke hatte ich,