Lebensreise. Alois Brandstetter

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Название Lebensreise
Автор произведения Alois Brandstetter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783701746477



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Aber die Verweildauer vor dem Totenkopf war, obwohl ich nach dem Gottesdienst den ersten Andrang von Gläubigen vorübergehen ließ und als letzter zu ihm hinaufstieg, doch zu kurz, um beim Betrachten dieses Hauptes alles andächtig zu bedenken, was ich von ihm wußte, was er »Gläubiges« – und Unglaubliches – geleistet, gesprochen und auch geschrieben hat, wie er als 15Jähriger in Spanien in der Residenz Valladolid in klassischem Latein eine auch die Professoren der Universität Salamanca in Erstaunen versetzende Rede auf König Philipp II., den Sohn Kaiser Karls V., den ruhmreich als Sieger aus der Schlacht um Portugal Zurückgekehrten, gehalten hat. An die Briefe mußte ich denken, die er seiner Mutter geschrieben hat, aber auch seinem Bruder Rodolfo, den er rügt und ermahnt, von seinem liederlichen Lotterleben und dem Konkubinat mit Elena Aliprandi zu lassen. Warum, fragte ich ihn, bist du eigentlich nicht zum Begräbnis deines Vaters Ferrante, dem du durch deine Entscheidung gegen die Übernahme des Marchesats von Castiglione und für den Eintritt in den Jesuitenorden so viel Kummer bereitet hast, von Rom nach Castiglione gereist, wo du doch sonst viele Reisen und Ritte absolviert hast. Stimmen meine in »Aluigis Abbild« geäußerten Vermutungen, daß du es mit dem biblischen »Laßt die Toten die Toten begraben!« erklärt hast? Was, lieber Namenspatron, sagst du zu den beiden nackten, süßen Putti, die über dich die Himmelskrone halten? Sie scheinen doch ein wenig wie übermütige Lausbuben, wie du einer warst, als du im Heerlager, wohin dich dein Vater mitgenommen hat, eine Kanone abgefeuert hast. Später hast du das als deine größte Sünde bezeichnet. Da hast du vielleicht ein wenig übertrieben, es war doch eher eine Dummheit, ein unüberlegter Streich, aber keine Todsünde.

      Die zwei spitzbübischen Engel, die halbnackt die Krone über dein Haupt halten, eine Krone, wie du sie als Kronprinz der Grafschaft, der Markgrafschaft Castiglione zur großen Enttäuschung deines Vaters und der Menschen des Landes verschmäht hast, wohl also eine vom Künstler phantasievoll abseits der feudalen Heraldik erfundene »Himmelskrone«, gaben und geben mir zu denken. Was würdest du dazu in deiner großen Abhandlung über Engel, über Engel im allgemeinen und die drei Erzengel, Michael, Gabriel und Raffael im besonderen, sagen? Leider hast du ja jedes Wort über die Ikonographie und die Kunst, die sich in deiner Zeit so prächtig entwickelt hat, wenn man nur an Tizian, Veronese, Tintoretto oder den bei deinen Verwandten, den Gonzaga-Herzögen in Mantua, tätigen Pippi »Romano«, den Raffael-Schüler, denkt, vermieden. Habe ich dich recht verstanden und richtig interpretiert, wenn ich konjiziert und vermutet und geschrieben habe, die Kunst deiner Zeit hätte dich mehr angewidert und abgestoßen als angezogen oder überhaupt interessiert? Stimmt es, daß du als Page bei deinem Verwandten Vincenzo Gonzaga den Herzog gebeten hast, er möge dir Dienste im Palazzo del Te, dem ehemaligen Liebesnest des Herzogs Fernando Gonzaga und seiner Hetäre Boschetta, ersparen und vor allem solche im Palazzo, wo in der Sala dei Sposi und der Sala di Psiche sehr freizügige erotische Szenen dargestellt sind, deren Anblick du unbedingt vermeiden wolltest? Die beiden Putti, Engel und ein wenig Bengel, passen wohl nicht ganz zu dir, wenn es heißt, daß die Putti auch eine Erinnerung an die Eroten der Antike sind, eine Zeit, als die »Knabenliebe« durchaus üblich war und alte Männer, ältere Philosophen, Umgang mit »Lustknaben« pflegten. Die Kirchen Italiens, ja Europas, sind reich an den dürftig gekleideten, halbnackten, geflügelten kleinen Engeln, die wie in Schwärmen auf Mauervorsprüngen, auf Gesimsen und Lisenen und vor den Bildern der Heiligen, ja auf Altären neben den Tabernakeln sitzen und sich fröhlich und wohlig räkeln, indem sie im Kontrapost oder mit einem angehobenen Beinchen das Gleichgewicht und die Balance suchen. Viele halten Fackeln oder Kerzen in Händen, oder sie musizieren und blasen pausbackig in Fanfaren oder Trompeten, Schalmeien oder Flöten.

      Doch gibt es auch in der Gegenwart, fast 450 Jahre nach deinem Tod, ein sogenanntes »Engelwerk«, wo eine heute als »fundamentalistisch« bezeichnete Gruppe von Gläubigen – manche meinen »Abergläubischen« – sich auf all jene Stellen in den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Bundes beruft, die auch du in deinem wunderbaren Latein zitierst. Sie nehmen alles wörtlich und lassen keinen Widerspruch oder eine freiere, eine freizügigere Auslegung oder Exegese gelten. Ich habe deinem Engel-Traktat entnommen, daß auch du dich genau an die Heilige Schrift und die patristische Literatur, an Hieronymus, Augustinus und Athanasius und Gregor und wie sie alle heißen, hältst. Du tust gut daran. Es ist viel blühende Phantasie, Vision, geistreiche Mystik und erlebnisvolle Spiritualität in den Gedanken. Und es wäre ein Fehler und ein großer Schaden und Verlust, wenn wir die Literatur und die Kunst und die Geistesgeschichte und die Sprache von den Engeln »säubern« wollten, sie aus tausenden Gemälden, Reliefs oder Plastiken, beispielsweise der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel, um nur das zu nennen, wegretouchieren und streichen wollten. Der fromme Mensch ist niemals ein Bilderstürmer. Das wäre wahrlich ein Vandalenakt, wenn wir Bilder, auf denen ein Schutzengel ein Kind bei Sturm und Regen über eine Brücke führt, unter der ein reißender Fluß bedrohlich braust und tost, schwarz übermalen und unkenntlich machen würden … Und sprachlich muß natürlich auch weiterhin gelten: Angelus Domini nuntiavit Mariae …Und wenn jemand eine gefährliche Situation unversehrt übersteht, etwa einen Verkehrsunfall, werden wir weiterhin sagen dürfen: »Er hatte einen Schutzengel.«

      Einmal hatte ich Glück oder einen Schutzengel, wie man will: Am 18. September 1987 mußte ich von Klagenfurt nach Linz fahren, um bei einer Benefizveranstaltung der Kinderkrebshilfe eine Lesung zu halten. Ich versäumte aber in Salzburg den Anschluß und somit jenen Schnellzug, der bei Lambach mit einem Eilzug kollidierte, wobei vier Passagiere getötet und 77 zum Teil schwer verletzt wurden. Den Veranstaltern jener Benefizveranstaltung hatte ich freilich auch kein Glück beschert. Es gab absolut keinen Besuch, nur die Leiterin jener Institution und ihr Mann bildeten das Publikum. Eigentlich gab es kein »Publikum«, was ja ins Deutsche übersetzt »Öffentlichkeit« bedeutet. Ich schämte mich natürlich ein wenig und entschuldigte mich bei der Veranstalterin, die meine Anziehungskraft so sehr überschätzt hatte. Über einen ähnlichen Flop in Kastelruth habe ich einmal eine Geschichte geschrieben, die ich ganz gern bei erfolgreicheren Lesungen vor zahlreichem Publikum, das es auch manchmal gab, vorlas, was man durchaus als Koketterie verstehen kann. In Hall in Tirol hielt ich einmal auf Einladung einer Buchhandlung eine sogenannte Signierstunde, in der ich mir auch die Finger nicht gerade wund schreiben mußte. Der treuherzige Buchhändler sagte aber trotzdem oder gerade deshalb, wir sollten einen neuen Termin für eine solche Signierstunde festlegen und besser bewerben. Da habe ich mich freilich »empfohlen« …

      Es ist die Rede vom Schutzengel vielleicht doch etwas mehr und etwas anderes, als zu sagen: Ich hatte Glück. So wie wir im anderen, dem Unglücksfall, wenn jemand besonderes und ausgesprochenes Pech hat, sagen: Es ging mit dem Teufel zu, also mit Luzifer oder Satan, dem gefallenen Engel, den der Erzengel Michael mit seinem Flammenschwert in die Hölle gestürzt hat. Es muß jeder für sich ausmachen, wo er die Grenze zwischen Glauben und Aberglauben sieht und zieht. Und ob er den Philosophen und Kritikern zustimmen will, daß das Christentum unbarmherzig die alten »heidnischen« Mythen des Polytheismus bekämpft und »beseitigt« hat, den Olymp entrümpelt und ausgeräumt, also leergefegt, und mit den Göttern und Giganten aufgeräumt hat – und viele neue Mythen, deutsch »Märchen«, also auch Legenden »erfunden« hat. Schön ist der Gedanke einer anima naturaliter Christiana, wie es von Sokrates, aber vor allem von Vergil heißt, dessen riesiges Denkmal in Mantua ich am Tag nach der Festmesse in Castiglione wieder bestaunt habe. Ich hatte kurz vor meiner, unserer Reise nach Castiglione einen Vortrag des Wiener Fundamentaltheologen Jan-Heiner Tück über das Thema »Christus und Odysseus« gehört. Menschen, die in vorchristlicher Zeit Barmherzigkeit und Mitleid geübt haben, wird also eine »anima naturaliter Christiana« »zugestanden«. Das Christentum hat die Nächstenliebe ja nicht erfunden und patentiert. Sie haben also eine christliche Ethik des Mitleids und der Nächstenliebe vorweggenommen. Es gibt ja auch heute viele hochgemute und humane Atheisten, etwa in den sogenannten Serviceclubs oder in den Freimaurerlogen, die viel Karitatives und Gutes tun und sich auch mit altruistischen Christen verbinden, Atheisten, die sich also nicht im intellektuellen Kampf gegen den Theismus erschöpfen …

      Das ist ja auch wohl die Message, also die Botschaft, die Moral der Geschichte vom barmherzigen Samariter, der wohl bekanntesten Erzählung Jesu, wie sie Lukas (10,25–37) berichtet. Ein Gelehrter will Christus auf die Probe stellen und fragt, was er tun müsse und wie er leben solle, um gerecht zu handeln. Christus fragt ihn, was er im Gesetz lese, worauf der Gelehrte die bekannte Regel