Название | Lebensreise |
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Автор произведения | Alois Brandstetter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783701746477 |
Du warst also mit deinem Bruder per Sie! Und deiner Mutter sagst und schreibst du: Erlauchteste in Christo hochzuverehrende Frau Mutter, und dem Vater: Erlauchtester Herr Vater. Ist dir das nicht schwergefallen, da du doch erleben mußtest, wie dich dein Vater, ein Spieler und Trinker, der dich unbedingt von deinem Vorsatz abbringen wollte, Jesuit zu werden, und der seiner Familie viel Sorgen bereitet hat, behandelt hat? Ja, selbst deinen Bruder Rodolfo, den »Übeltäter«, den die Menschen in der Gegend wohl begründet einen Tyrannen nannten, dessen Ermordung sie gefeiert haben und der wohl so lange in einer sogenannten wilden Ehe oder Ehe zur linken Hand oder auch Friedelehe mit der bürgerlichen Elena Aliprandi lebte, bis du ihm gedroht hast, ihn nicht mehr als Bruder zu betrachten – sogar ihn sprichst du im Brief vom 6. Februar 1591 so an: »Erlauchtester in Christo hochzuverehrender Bruder«! Hochzuverehren?
Dieser Brief, den du aus Mailand, wohin du, deine Studien in Rom unterbrechend, gefahren bist, hat es in sich! Abgesehen davon, daß er ein stilistisches Kabinettstück und große Literatur ist, zeugt er von einer großen Entschlossenheit und einem ungewöhnlichen sittlichen Ernst. Du redest deinem Bruder Rodolfo ins Gewissen, er möge um Christi willen den Skandal seiner wilden Ehe aus der Welt schaffen, andernfalls du mit ihm brechen würdest. »Sollte mir dies nicht gelingen, so erkenne ich Sie als Bruder allein ›secundum carnem‹ nicht an und will Sie nicht anerkennen.« Aus den Anmerkungen zu diesem Brief erfährt man Erstaunliches, so zum Beispiel, daß Rodolfo eigentlich nicht in wilder Ehe lebte, sondern in einer geheim geschlossenen Ehe mit der nicht standesgemäßen Tochter des Münzmeisters Antonio Aliprandi, Elena Aliprandi. Geheimgehalten hat Rodolfo seine Ehe, weil er die Reaktion der Familie fürchtete, und »aus Scheu vor dem Unwillen seiner Verwandten«, und ganz besonders seines Onkels Alfonso, des Herrn von Castel Goffredo, dessen Besitz er erben und vor allem dessen Tochter er heiraten sollte. Aloysius, du erwähnst in diesem Brief auch das Beispiel des »Herrn Herzogs von Mantua« Vincenzo Gonzaga, Herzog nach seinem Vater Guglielmo Gonzaga, dessen Mutter Eleonora von Österreich war, der die Auflösung seiner Eheangelegenheit – die Ungültigkeitserklärung seiner nur ein Jahr dauernden Ehe mit Margerita Farnese, einer Prinzessin von Parma – auch durch Unterstützung des Mailänder Bischofs Karl Borromäus erreicht hat. Vincenzo Gonzaga hat in zweiter Ehe Eleonora Medici geheiratet, von ihr steht in den Anmerkungen zum Brief, sie sei die Gespielin der Brüder Aloysius und Rodolfo gewesen, als sie am Hof in Florenz Pagen waren. Nicht in den Anmerkungen zum Brief, aber in meinem Roman »Aluigis Abbild« steht, daß Vincenzo »der Prächtige« jener kunstsinnige Herzog war, der viele Künstler nach Mantua brachte, vor allem Peter Paul Rubens …
Man spricht ja auch in den Literaturgeschichten bei Autoren, die sozusagen klein angefangen haben und später groß »herausgekommen« sind, von »Jugendsünden« – also weniger im ethisch-moralischen Sinn, sondern im ästhetischen Sinn. Von Rainer Maria Rilke heißt es etwa, daß sein Frühwerk eher bescheiden gewesen sei und nicht erwarten ließ, zu welcher Größe er sich in seinem lyrischen Spätwerk »aufschwingen« würde. Es gibt das Sprichwort: Jugend hat keine Tugend. Es bedeutet, daß sich junge Menschen oft bedenkenlos über moralische Grundsätze hinwegsetzen. Du, lieber Namenspatron, bist der überzeugendste Gegenbeweis. Oder muß man sagen: Ausnahmen bestätigen die Regel? Auch in der Literatur bist du das – denn ich halte dich auch für einen begnadeten Schriftsteller, in gleich mehreren Sprachen, Latein zuvörderst, aber auch im Italienischen, und zwar im geschliffenen toskanischen Hochitalienisch, das zu lernen man euch Brüder, dich und Rodolfo, ja zu den Medici nach Florenz geschickt hat. Darum habe ich dich in meinem Roman auch mit dem aus Andes bei Mantua stammenden bedeutendsten lateinischen Dichter des Altertums verglichen, der von Haus aus, vom Elternhaus her, einen Dialekt gesprochen hat, in Rom aber wie du das sogenannte klassische Latein gelernt hat, Publius Vergilius Maro nämlich, der mit seinen Dichtungen, den Bucolica und Georgica, vor allem aber mit dem Jahrtausendwerk der »Aeneis« das Höchste an Sprachkunst geleistet hat.
Das Musterbeispiel eines zu äußerster Meisterschaft gelangten, jung verstorbenen Dichters ist Georg Büchner. Er starb wie du, Aloysius, mit 23 Jahren! Und hat mit »Dantons Tod«, »Woyzeck«, »Leonce und Lena«, der Novelle »Lenz« und dem »Hessischen Landboten« ein großartiges, revolutionäres Werk hinterlassen. Ich habe mich in meinem Germanistikstudium einmal an einer Arbeit über die Novelle »Lenz« versucht, aber buchstäblich aus Angst, panischer Angst vor dem bedrohlich dargestellten Leiden des Sturm und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, vor seiner »Dementia praecox«, seinen schizophrenen »Schüben«, meine Arbeit aufgegeben und »unterlassen« … Eine ähnliche Betroffenheit hat mich auch bei der Lektüre von Werken E.T.A. Hoffmanns und Franz Kafkas erfaßt. Es erging mir wohl ähnlich wie den vielen, von Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« »verunsicherten«, zu Tode verängstigten jungen Menschen, die sozusagen dem »einladenden« Beispiel des Helden Werther in den Tod gefolgt sind … Die Todessehnsucht wird später ein großes Thema in der Romantik, die Goethe im Gegensatz zur »gesunden« Klassik als »krank« bezeichnet hat. Eigentlich spricht Goethe nicht von der Klassik und der Romantik, er sagt vielmehr: »Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke.« (Gespräch mit Eckermann am 2. April 1829)
Als hättest du, lieber Aloysius, Hartmann von Aue gelesen, was nicht anzunehmen ist, lautet einer der vom Castiglioner Dominikanerpater Claudio Fini, deinem Gesprächspartner, mitgeteilten Aussprüche, die in deinem Seligsprechungsprozess eine Rolle gespielt haben und an die ich mich vor deiner Kopfreliquie in der Kirche nach der Festmesse mit höchstem Respekt erinnerte: »Die freiwilligen Bußübungen des Leibes dürfen nicht bis auf das Alter verschoben werden, wenn die Kräfte dem nicht mehr gewachsen sind.« Und manches, was du gesagt und geschrieben hast, ist durchaus nicht ohne Humor gesagt. Ich denke etwa nur an deinen Ausspruch, daß man den Leib durch Hiebe wie einen störrischen Esel antreiben müsse …
Nichts war der alten Theologie schrecklicher als die mors repentina, der unvorhergesehene und »unversehene, plötzliche Tod«. Unvorbereitet hinüberzugehen galt als Gräuel. Sine viatico, »ohne Wegzehrung«! In einem solchen Fall wurde damals ins Sterbebuch der Pfarre »Non provideri potuit«, also: Er oder sie konnte nicht versehen werden, eingetragen. Versehen – welch merkwürdiges, vieldeutiges Wort! Eine der priesterlichen Obliegenheiten war in meiner Kindheit und Jugend auf dem Land der Versehgang, der Besuch der Kranken mit dem »Ciborium«, einem Behälter für die konsekrierten Hostien. Der Pfarrer wurde dabei meist von einem Ministranten begleitet, der von Zeit zu Zeit, wenn Leute vorbeigingen, mit einer kleinen Handglocke läutete. Fromme knieten sich manchmal nieder, wenn sie den Priester mit der Stola über dem Talar bekleidet kommen sahen. So wie sich viele Passanten, die die Brücke über den Innbach bei der Mühle und meinem Elternhaus in Pichl bei Wels überquerten, vor dem in der Mitte des Geländers angebrachten metallenen Kruzifix bekreuzigten. Ernst Jandl bringt mich zum Schmunzeln, ja Lachen, wenn er in einem »Gedicht« schreibt: »Immer, wenn ich an einer Kirche vorbeigehe, bekreuzige ich mich, bei einem Zwetschgenbaum aber bezwetschgige ich mich. Wie ich ersteres tue, weiß jeder Katholik, wie ich letzteres tue, ich allein.« Mein Freund Josef Winkler beschreibt, wie er den Pfarrer von Kamering im Drautal, den aus dem oberösterreichischen Offenhausen stammenden Franz Reintaler, auf ähnlichen »Versehfahrten« im Auto, das von den Smart Export, die der Pfarrer rauchte, »imprägniert« war, begleitete. Denn wenn ein Geweihter, ein Geistlicher, Zigaretten, Zigarre oder Pfeife raucht, erzeugt das ja auch nicht gerade Weihrauch …
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