Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Tilman Mayer

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Название Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts
Автор произведения Tilman Mayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446935



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über (ökonomisch-) liberale Prinzipien stellten. Derlei »Ordnungspolitik« wurde von Bismarck als akademisch-weltfremd abgetan. Und mit aller Offenheit hatte er drei Tage zuvor im Reichstag erklärt, wie er sein Verhältnis zu Fraktionen sah: »Eine Fraktion kann sehr wohl die Regierung unterstützen und dafür einen Einfluss auf sie gewinnen, aber wenn sie die Regierung regieren will, dann zwingt sie die Regierung, ihrerseits dagegen zu reagieren.«33

      Die sogenannte liberale Ära, die im Grunde mit dem preußischen Sieg über Österreich 1866, mit der Indemnitätsvorlage und mit der Errichtung des Norddeutschen Bundes begonnen hatte, und die nun, im Sommer 1879, endete, hatte im Zeichen einer vergleichbaren Konfrontation Bismarcks gestanden, im Zeichen seiner Abwendung von den preußischen Konservativen. Vielleicht war dies der schmerzhafteste innenpolitische Bruch, mit dem er je konfrontiert war, denn hier ging es um die zumindest weitgehende Abwendung von jenem Milieu, dem er selbst eigentlich entstammte. Aber auch in den späten 1860er- und frühen 1870er-Jahren kam für ihn eine gewissermaßen zementierte Bindung an eine Partei, an eine Richtung und an ein Dogma nicht infrage. Für die altpreußischen Konservativen hingegen begann das Verhängnis 1866: Ihre Welt gründete im Bündnis von Thron und Altar, in den patriarchalischen Lebensverhältnissen auf dem Lande, in der Einbindung der preußischen Monarchie in die Integrität der dynastischen Verhältnisse im Zentrum Europas wie auch in das Kooperationsmuster der drei konservativen europäischen Ostmächte Preußen, Österreich und Russland. In idealer Weise hatte die Heilige Allianz nach dem Ende der napoleonischen Ära diese Welt verkörpert. Nun stellte die von Bismarck repräsentierte preußische Politik mit einem Mal Fundamente dieser Ordnung infrage: Sie entthronte die Welfen in Hannover, sie sprengte die legitime Ordnung des Deutschen Bundes, sie ventilierte den Gedanken eines nach gleichem Wahlrecht bestimmten deutschen Nationalparlaments, sie ging auf die Liberalen zu und beantragte die nachträgliche Billigung der Haushaltsvorlagen und ging damit zugleich im Verfassungskonflikt einen ansehnlichen Schritt in Richtung Parlamentarisierung.

      Bismarcks alter politischer Ziehvater, von dem er sich freilich schon getrennt hatte, Ludwig von Gerlach, brandmarkte den innerdeutschen Krieg von 1866: »Das war Kains Brudermord, Judas Verrath und die Kreuzigung des Herrn auch.«34 Nun überwarf sich Bismarck mit früheren Weggefährten wie Hans von Kleist-Retzow und Moritz von Blanckenburg. Der innerdeutsche Krieg von 1866 und sein Ausgang zeitigten zweierlei parteipolitische Klärungen beziehungsweise Neuformationen: Im liberalen Lager entstand die Nationalliberale Partei. Sie sah sich vorderhand als die Partei des nationalen Kompromisses mit der preußischen Staatsführung und im Ergebnis als die Partei der schließlichen Reichsgründung, bis es 1879 zum weitgehenden Bruch kam. Im konservativen Lager, in dem die Altkonservativen nun in Opposition zum Regierungskurs gerieten, bildete sich mit den Freikonservativen eine neue Formation heraus: Pragmatischer und nationaler als die Altkonservativen, durchweg auf Regierungskurs, gouvernemental, rekrutiert vor allem aus Beamten-, Offiziers- und Industriellenmilieu, weniger aus dem Milieu der streng evangelischen, vielfach pietistischen ostelbischen Gutsbesitzer und Adeligen. Erst, als sich 1876 die »Deutschkonservativen« formierten, die sich innerlich auf den Boden der neuen Nationalstaatsgründung stellten, und sich eher als agrarische ökonomische Lobbypartei verstanden, begann der Bruch allmählich zu heilen.

      Zunächst aber eskalierte die Konfrontation zwischen Bismarck und dem herkömmlichen altpreußischen Konservativismus weiter, über den Einschnitt der Reichsgründung hinweg.

      Der preußische und deutsche Kulturkampf gegen die katholische Kirche war – jedenfalls auch – Teil eines etatistischen Modernisierungsprozesses. Zwei Reformmaßnahmen in Preußen provozierten in besonderer Weise den Protest der Altkonservativen, das Schulaufsichts- und das Kreisreformgesetz. Beide griffen in die althergebrachten Verhältnisse ein: Das Schulaufsichtsgesetz von 1872 definierte die Schulaufsicht als eine Funktion des Staates, nicht mehr der Kirche. Das Kreisreformgesetz griff in die lokalen politischen Besitzstände der Gutsbesitzer und Landadeligen ein. »Das Gesetz hob die Polizei- und Verwaltungsbefugnisse der Rittergutsbesitzer auf.«35 Es fand am 23. März 1872 eine breite Mehrheit im preußischen Landtag – gegen die Minderheit von Rittergutsbesitzern und Landräten aus dem ostelbischen Preußen. Aber es fiel ein halbes Jahr später im preußischen Herrenhaus geradezu krachend durch, mit 145 gegen 18 Stimmen. Hier hatte das alte, monarchisch-ständische Preußen seine letzte Rückzugsbastion. Bismarck, auch hier wie oft von überschießender Emotionalität, wollte daraufhin das Herrenhaus, in dem der landständische Adel den Ton angab, geradezu gleichschalten: Künftig sollten hier auf Loyalität getrimmte hohe Beamte und bürgerliche Profiteure des Wirtschaftsaufschwunges den Ton angeben. Stattdessen kam es zu geringen Modifikationen des Kreisreformgesetzes und im Herrenhaus nur zu einem »Pairs-Schub« durch die Ernennung von 24 neuen Mitgliedern, hohen Offizieren und Beamten, auf deren Loyalität die preußische Regierung baute. Damit wurde schließlich die Akzeptanz des Kreisreformgesetzes erreicht.

      Bismarcks weiterer und gegenläufig erscheinender Kurswechsel von 1879, zurück in ein nun nationaler gewordenes und stärker auf ihn zugeschnittenes konservatives Lager, erfolgte freilich weder abrupt noch kurzfristig, und vollständig war er schon gar nicht. Einer der engsten Verbündeten Bismarcks im nationalliberalen Lager war der aus dem Hannoverschen stammende Rudolf von Bennigsen, insofern ähnlich Windthorst eine preußische Kriegsbeute von 1866. Gerade weil Bennigsen mit seiner Biografie nicht die gewissermaßen innerpreußischen Belastungen des Verfassungskonfliktes von 1862 mit sich herumtrug, war er für Bismarck und dessen Avancen in besonderer Weise zugänglich – und umgekehrt bemühte sich Bismarck in der Endphase seiner verdichteten Kooperation mit den Nationalliberalen, Bennigsen für ein Ministeramt in Preußen zu gewinnen. Bezeichnend auch für seine ganz persönliche Kultur als patriarchalischer Gutsherr und gewissermaßen guter Hausvater ist, wie er Bennigsen am 9. Juli 1877 kurzfristig für einige Tage nach Varzin in Hinterpommern bat. Da es »ohne gesellschaftliche Ansprüche« zugehe, könne der Gast auch gerne den Frack zuhause lassen, solle aber feste Stiefel mitbringen. Die Ministerkandidatur Bennigsens scheiterte am Ende. Ebenso wie Bismarck sich von ihr eine Rechtswendung der Nationalliberalen versprochen hatte, ging es Bennigsen umgekehrt und ganz plausibel darum, durch zusätzliche nationalliberale Minister in Preußen eben das zu erreichen, was der Kanzler und Ministerpräsident unbedingt vermeiden wollte, eine mehr oder weniger förmliche liberale Regierungskonstellation. Bismarck, das zeigte die innenpolitische Konstellation in der zweiten Hälfte der 1870er-Jahre, wog ab, er ging nicht radikal von A nach B, er akzeptierte das Neue, hier die Einbeziehung von reformierten Konservativen und Zentrum, nur eingeschränkt, und er brach, auch wenn es verbal noch so heftig zuging, die Brücken hinter sich keineswegs vollständig ab.

      Diese Kultur der innenpolitischen Politikgestaltung sollte von ihm ein letztes Mal mit großem Erfolg bei der Auseinandersetzung um zwei große Militärvorlagen in den Jahren 1886 bis 1888 praktiziert werden. Wieder ging es im Zeichen eines nationalen Integrationsprozesses um die Position der Mittelparteien, der Nationalliberalen und des Zentrums. Die Sozialdemokratie stand ohnehin außerhalb jeglichen Kalküls. Und die Linksliberalen, die Freisinnigen, wurden von Bismarck vielfach wegen ihres prinzipiellen Rechtsstaatskurses trotz aller ideologischen Gräben als de facto Helfershelfer der Sozialdemokraten denunziert. So blieben für eine nationale Integration beziehungsweise Sammlung im Wesentlichen die beiden konservativen Parteien, die Nationalliberalen und das Zentrum, Letzteres weiterhin am wenigsten geschätzt wegen seiner Orientierung hin zum Heiligen Stuhl und zur katholischen Welt, seiner Rolle als eine Art politisch-parlamentarischer Schutzherr der Polen in den preußischen Ostprovinzen, kurzum wegen seiner inneren Unabhängigkeit gegenüber dem kleindeutschen Hohenzollernreich.

      1887 kam zweierlei zusammen: Einmal bedurfte es prinzipiell einer neuen Militärvorlage im Reichstag; seit 1874 galt als Kompromiss zwischen Kanzler und Militärapparat auf der einen Seite, Parlament auf der anderen Seite die gesetzliche Festlegung der Präsenzstärke der Armee auf jeweils sieben Jahre, das berühmte Septennat. Nach 1881 stand damit eine solche Neufestlegung, ein letztes Mal in der Bismarck-Zeit, für 1887 / 88 an. Hier berührten sich nun zwei Problemkreise:

      Zum einen ging es um die parlamentarische Mitsprache im Militär- und Rüstungsbereich und damit, nach den Erfahrungen des preußischen Verfassungskonfliktes, um einen hochsensiblen Konfliktgegenstand im System des preußisch-deutschen Konstitutionalismus. Die zweite Dimension war die außenpolitische, mit ihren