Название | Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts |
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Автор произведения | Tilman Mayer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446935 |
Am Ende gewinnt man, liest man die Vielzahl an Stellungnahmen und auch Parlamentsreden Bismarcks zur Struktur der Reichsleitung, den Eindruck, dass ihm, der einmal als preußischer Ministerpräsident begonnen hatte, die Reichsfunktionen schließlich näher standen. Als Reichskanzler war er eine Art administrativer Autokrat, freilich nicht im luftleeren Raum, sondern im Mit- und Gegeneinander verschiedener Größen. Als preußischer Ministerpräsident musste er sich bis zum Ende seiner aktiven Tage mit Themen wie Bildungs- und Schulwesen, Kommunalordnungen und Verkehrswegebau abplagen. Wenn derlei Themen nicht auf höherer politischer Ebene instrumentalisiert und damit zweckentfremdet werden konnten, dann war diese Prosa schwerlich eine Welt, die ihn faszinierte.
Was ergibt sich nun, wenn man die wirklich singuläre Konstruktion des Bundes- beziehungsweise Reichskanzlers in der deutschen Geschichte von 1867 bis 1918 mit der des Bundeskanzlers seit 1949 vergleicht? Und ist ein solcher Vergleich überhaupt anzustellen?
Versucht man es, dann erscheinen zwei Punkte bemerkenswert: Der Kanzler im Kaiserreich war der einzige Minister auf Nationalstaatsebene, er hatte es aber zugleich mit einem sehr viel stärkeren Staatsoberhaupt zu tun – aber diese Feststellung bedarf wiederum der Relativierung: Denn der deutsche Kaiser und preußische König konnte seinen Kanzler und Premier in Preußen in der Realität nicht einfach nach der Laune eines absolutistischen Duodezfürsten auswechseln. Ohne ein Mindestmaß an Akzeptanz in der politischen Klasse des Reiches ging es nicht. So ist auch nie, trotz mancherlei Unkenrufen, ein wirklich hochkonservativer preußischer »Reaktionär« ins Kanzleramt gelangt.
Schließlich: Bismarck war zwar bei allen Reichstagswahlen bis 1890 nie ein »Spitzenkandidat«. Er nahm aber mit seinem Apparat stets Einfluss auf das Wahlgeschäft und die Wähler wussten sehr wohl, welche Kräfte der Kanzler favorisierte. Allerdings ging es am Wahltag nicht unmittelbar um sein Leben und Überleben im Amt. Helmut Kohl wurde 1998 abgewählt, Bismarcks Ergebnis bei der Reichstagswahl 1890 war ähnlich desaströs. Aber zunächst einmal schwächte es nur seine Stellung; hätte der Monarch ihm weiter den Rücken gestärkt, dann hätte er, wie er so gern formulierte, »weiterkämpfen« können, zumindest für einige Zeit.
5. Politische Fraktionierungen, Parteien
Der Bezug zum Staatsganzen, die Bindung an den Monarchen, die viel geringere Rolle der Parteien im öffentlichen Leben und schließlich ihre konstitutive Beschränkung weitestgehend auf Funktionen außerhalb der Exekutive, all diese Momente führten dazu, dass Gestaltung in den hohen Staatsämtern sich in einem nur mittelbaren Verhältnis zu Parteien, Fraktionen und Parlamentsmehrheiten sah. Die Eigenart dieses Systems bestand somit darin, dass der Akteur an der Spitze des Staats- und Regierungsapparates sich zwar nicht als politisches Neutrum verstand, es aber bei allen Präferenzen zu verschiedenen Zeiten für bestimmte Parteien, Fraktionen und Konstellationen doch stets vermied, sich ganz mit einer Richtung oder Fraktionierung zu identifizieren. Bismarck hat darüber selbst im Reichstag reflektiert, so am 29. November 1881: »Die stärkeren Fraktionen stellen an mich den Anspruch, ich soll (sic!) ihnen nicht nur meine Person, sondern das kaiserliche Gewicht zur Verfügung stellen für ihre Fraktionszwecke, dann würden sie […] mit mir zusammen wirtschaften. Ja, wenn das meine Überzeugung wäre, wenn meine Überzeugung mit einer dieser Fraktionen vollständig übereinstimmte, so würde ich mich gern der Fraktion anschließen und würde aus meinem Herzen keine Mördergrube machen, vorausgesetzt, dass ich voraussähe, mit dieser Fraktion kann ich mein Jahrhundert in die Schranken fordern, und die ist stark genug, um das Deutsche Reich mit ihrer Hilfe zu festigen, auszubilden und zu regieren.«30 Im Weiteren reflektierte der Kanzler dann darüber, er könne sich so etwas unter britischen Bedingungen vorstellen, also bei nur zwei relevanten Parteien im Parlament, deren Majoritäten sich jeweils in Regierungsbildung und politischer Führung ablösten. Es spricht nun sehr viel dafür, dass er hier mit Nebelkerzen warf. Denn genau dieses britische System der parlamentarischen Verantwortlichkeit hat er im Prinzip ja stets abgelehnt und an seiner Stelle eben jene Konstellation befürwortet – und mit den Verfassungsregelungen von 1867 und 1871 selbst wesentlich mit herbeigeführt –, bei der er die zentrale Funktion in einem System von Zuordnungen und Verantwortlichkeiten besaß. Parlament und Fraktionen waren dabei kein unwichtiger Faktor, aber nicht der einzige und unter keinen Umständen sollten sie dominant werden. Vielleicht am klarsten hat Bismarck die Nichtakzeptanz einer Parteidominanz in seiner ganz entscheidenden Reichstagsrede vom 9. Juli 1879 zum Ausdruck gebracht. Es war möglicherweise die Schlüsselszene bei jener zentralen innenpolitischen Kurskorrektur, die das liberale Jahrzehnt in Preußen-Deutschland beendete. Materiell hieß dies: ein Finanzpaket aus Zöllen (Eisen und Getreide) wie Verbrauchssteuern (Tabak) und damit zugleich ein ganz neues Einnahmeniveau für die Reichsfinanzen, sowie partieller Ausgleich mit dem katholischen Zentrum, das diesen Kurs mittrug, ja mit gestaltete. Hinter diesem Politikwechsel stand eine Lobby aus Schwerindustrie und Landwirtschaft, die die Kräfte im Reichstag neu justieren half. Dieser neue Kurs entsprach nicht nur den Interessen der agrarischen und in Teilen der bürgerlichen Wählerschaft. Das Zentrum mochte so hoffen, seinerseits Bismarck in Abhängigkeit zu bringen und den Kulturkampf mildern, vielleicht ganz aus der Welt schaffen zu können. Es ging aber, und das ist ganz typisch für Bismarcks Agieren, nicht einfach darum, nunmehr das Zentrum an der Stelle der Nationalliberalen zu einer Art Koalitionspartei zu machen. Einmal ließ der Stand des Kulturkampfes das grundsätzlich noch nicht zu, es sollte fast noch ein Jahrzehnt ins Land gehen bis zu seiner Abschwächung. Vor allem war es Bismarck darum zu tun, eine relative Präferenz durch eine andere relative Präferenz zu ersetzen, mehr nicht. Und damit verband sich die Taktik, auch innerhalb der betroffenen Parteien beziehungsweise Fraktionen Gunst und Hader zu verteilen.
Es war eine Sensation, als der Reichskanzler am 3. Mai 1879 den führenden, aber eben nicht den alleinführenden Repräsentanten des Zentrums, Ludwig Windthorst, in seinem Haus zur parlamentarischen Soiree empfing und ostentativ in ein langes Gespräch zog.31 Freilich war und blieb Windthorst trotz aller Signale eine Figur, die Bismarck denkbar fern stand: Nicht nur als führende Kapazität im Zentrum, sondern auch als Anwalt des alten Königreiches Hannover und der 1866 entthronten Welfen-Dynastie. So hat Bismarck den eigentlichen Schlussstein der damaligen Neuregelung der Reichsfinanzen mit dem zentralen Rivalen Windthorsts an der Spitze des Zentrums, dem bayerisch-fränkischen Freiherrn von Franckenstein, ausverhandelt. Es ging um die berühmte Franckensteinsche Klausel, die der Reichskanzler schließlich akzeptierte: Reichseinnahmen aus den neuen Finanzquellen, die 130 Millionen Mark jährlich überstiegen, sollten proportional an die Länder überwiesen werden; der bayerisch-fränkische Aristokrat von Franckenstein, obwohl ursprünglich gegenüber der kleindeutschen Reichsgründung strikt ablehnend, war für Bismarck eine deutlich akzeptablere Figur als der konfliktorientierte Windthorst – und Letzterer »tobte«32, weil der Kanzler nicht mit ihm die entscheidenden Verhandlungen geführt hatte. Bismarck gelang es bei dieser Operation nicht nur, das bis dahin so vehement bekämpfte Zentrum taktisch geschickt auf seine Seite zu ziehen. Bei der Verbannung der Nationalliberalen 1879 aus der Gunst des Kanzlers handelte