Название | Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts |
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Автор произведения | Tilman Mayer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446935 |
Auch Helmut Kohl war Zivilist, und auch ihm war die Bundeswehr, zu seiner Zeit in der NATO nach den Streitkräften der USA die zweitgrößte konventionelle Armee, vor allem ein politisch wichtiges Instrument. Gegenüber der in Rüstungsfragen stets besonders tough auftretenden britischen Premierministerin Margret Thatcher wie auch gegenüber den Amerikanern konnte er immer wieder mit dem Argument Punkte machen, die Westdeutschen unterhielten anders als ihre angelsächsischen Verbündeten eine Wehrpflichtarmee mit allen daraus resultierenden psychologischen Belastungen.54
Wie fügt sich nun Bismarck in dieses Tableau ein? Für die Sicherheitspolitik in seiner Zeit als Reichskanzler, insgesamt knapp zwei Jahrzehnte, ergibt sich jedenfalls in einem entscheidenden Punkt der merkwürdige Befund, dass sie in gewisser Weise den Kriegsverhinderungsstrategien der Nachkriegszeit nach 1945 ähnelte, obwohl von der Welt des nuklearen Zeitalters noch um Generationen getrennt. Höhepunkt waren, wenn man diese relativ moderne Begrifflichkeit auf das späte 19. Jahrhundert anwenden kann, die hier schon geschilderten Konflikte um so etwas wie eine »Nachrüstung« von 1886 / 88. Anders als bei den Auseinandersetzungen um NATO-Doppelbeschluss und Nachrüstung mit Pershing 2-Raketen und sogenannten Marschflugkörpern gegen die sowjetische Vorrüstung mit SS-20-Mittelstreckenraketen im sogenannten zweiten Kalten Krieg von 1979 bis 198355 ging es damals naturgemäß nicht darum, Waffensysteme von unerhörter Vernichtungskapazität operativ und technisch so präzise gegeneinander zu positionieren, dass die wechselseitige Wirksamkeit den konkreten Einsatz möglichst ausschloss. Aber der politische Grundgedanke, wie ihn Bismarck gegen Ende der 1880er-Jahre formulierte, war doch verblüffend ähnlich: Deutschland sollte militärisch so stark sein, dass jede Bedrohung, und sei sie der worst case eines Zweifrontenkrieges durch Frankreich und Russland, militärisch aussichtslos sei, so dass die potenziellen Kontrahenten ihn daher möglichst erst gar nicht unternähmen. Freilich: Mehr als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Kriegsführung, nicht nur bei den Militärs, sondern auch bei politischen Akteuren wie Bismarck immer noch eine zwar denkbar unerwünschte, aber doch konkret mögliche Eventualität, und gegen sie galt es sich auch zu wappnen. Schließlich bedeuteten Krieg und Niederlage nicht wechselseitige Auslöschung wie im Nuklearzeitalter, sondern »nur« erhebliche Verluste: territoriale Einbußen, hohe Reparationen, möglicherweise die Rückgängigmachung der Reichsgründung und Verlust des Großmacht-Status. Ein solcher worst case sah naturgemäß noch anders aus als ein worst case in der Zeit nach Hiroshima und Nagasaki.
Bismarck trat in Uniform auf, aber er erweckte zugleich, insbesondere bei der Glorifizierung seiner Rolle in den acht verbleibenden Lebensjahren nach der Entlassung vom März 1890, den Eindruck, er, der Zivilist, habe es in kritischen Situationen immer verstanden, die Militärs in die Schranken zu weisen und seine Letztverantwortlichkeit sicherzustellen. Vor kräftigen Manipulationen scheute er dabei nicht zurück: Eine Schlüsselszene dafür sind die Auseinandersetzungen im preußischen Hauptquartier nach der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 über die Frage, wie es nun weitergehen solle: ein schneller, für alle Beteiligten möglichst schmerzfreier Friedensschluss oder die Fortsetzung des Feldzuges durch Böhmen und Mähren, um Österreich möglichst weitgehend zu schwächen und territoriale Gewinne zu erzielen? Bismarck schreibt dazu in seinen Memoiren Erinnerung und Gedanke: »Die Lage war eine schwierige; allen Generalen war die Abneigung gemeinsam, den bisherigen Siegeslauf abzubrechen, und der König war militärischen Einflüssen im Laufe jener Tage öfter und bereitwilliger zugänglich als den meinigen […].«56 In Wirklichkeit verhielt es sich aber ganz anders, als Bismarck es Jahrzehnte nach den Ereignissen in Friedrichsruh diktierte: Für eine Fortsetzung des Feldzuges war der Monarch, König Wilhelm II.; seine militärischen Spitzen aber vertraten ganz andere Auffassungen, sie standen mit Bismarck im Friedenslager. Denn die militärische wie auch die politische Lage war schwierig und unübersichtlich: Die österreichische Armee war schwer angeschlagen, aber keineswegs vernichtet; Wien zog nun mit dem neuen Oberbefehlshaber Erzherzog Albrecht die in Oberitalien stehenden Truppen, die dort erfolgreich gegen den preußischen Verbündeten Italien gekämpft hatten, über die Alpen zum Schutze des österreichischen Kernlandes heran. Die preußische Armee drohte sich in den ungarischen Weiten gewissermaßen zu verlieren. Dazu war sie durch die Cholera zusehends geschwächt, und über allem stand die Sorge vor einer französischen Intervention am Rhein. Gerade die militärische Logik sprach also dafür, diesem Krieg so schnell es ging ein Ende zu setzen. Bismarck aber legte Wert darauf, dem König und seinen weitergehenden Ambitionen nicht im größeren Kreis, sondern als einsamer Held widerstanden zu haben.
Berühmt ist eine weitere Episode, bei der er im Nachhinein kräftig an seiner Heldenrolle feilte. Es geht um die Zugfahrt des preußischen Hauptquartiers nach Ausbruch des Krieges gegen Frankreich im Sommer 1870 von Berlin an den Rhein. Bismarck schreibt darüber in seinen Memoiren: »Schon bei der Abreise nach Köln erfuhr ich durch einen Zufall, daß beim Ausbruch des Krieges der Plan festgestellt war, mich von den militärischen Berathungen auszuschließen. Ich konnte das aus einem Gespräch des Generals von Podbielski mit dem Grafen Roon entnehmen, dessen unfreiwilliger Ohrenzeuge ich dadurch wurde, daß es in einem Nebencoupé stattfand, dessen Scheibenwand von einer breiten Oeffnung über mir durchbrochen war.«57 Im preußisch-deutschen Hauptquartier von Versailles eskalierte dann der Konflikt zwischen Bismarck und dem Generalstab im Dezember 1870. Man gewinnt fast den Eindruck eines kleinen Krieges mit Papier und Tinte vor dem Hintergrund des großen Krieges am Belagerungsring um die französische Hauptstadt. Bismarck attackierte Generalstabschef Moltke, und es kann kein Zweifel daran sein, dass er in dieser Auseinandersetzung der offensivere, der heftigere, ja der um Einschüchterung bemühte Teil war. Die Militärs fürchteten um die Einheitlichkeit des Oberbefehls und die Stringenz ihres professionellen Vorgehens. Der Kanzler, ganz dem Primat des Politischen verhaftet, wollte eine möglichst schnelle Kriegsbeendigung durch militärische Eskalation, damit nicht andere europäische Akteure, Großbritannien oder Russland, auf den Plan traten. Das hieß: Artillerieeinsatz gegen Paris, Verschärfung der Kriegsführung wie der Okkupationspolitik in den besetzten Regionen; dem Generalstab unterstellte er ein Übermaß an Rücksichtnahme gegenüber dem Gegner, es reichte bis hin zu der Annahme, daran seien die aus Großbritannien stammende Gattin des Kronprinzen, Prinzessin Victoria, wie die familiären britischen Verbindungen von Generalstabschef Moltke schuld. Für die Kriegführung selbst vertrat Bismarck die Auffassung, »unmittelbar auf die französische Armee selbst einwirken und einen heilsamen Schrecken verbreiten würde es, wenn es möglich wäre, die Truppen Eurer Majestät daran zu gewöhnen, daß weniger Gefangene gemacht und mehr die Vernichtung des Feindes auf dem Schlachtfeld ins Auge gefaßt würde.«58 Auf eine knappe Formel gebracht war die Position des Leiters der preußischen Politik: Härtere, verlustreichere Kriegführung zur schnellen Beendigung der Feindseligkeiten, um weitergehende politische Verwicklungen zu verhindern.
Die Schwebelage zwischen Politik und Militär in Preußen-Deutschland ist oft beschrieben worden. Für die spätere Bismarckzeit, das heißt die Jahre nach der Reichsgründung, kann man zunächst eindeutig davon ausgehen, dass der Kanzler die Kompetenzkompetenz fest in Händen hielt, gegenüber den Militärs vermutlich nicht weniger als gegenüber den Parlamentariern. Das hing zusammen mit seinem Prestige, wobei er die Generalstäbler weiterhin nervte, mit der eher diplomatischen Grundhaltung des Generalstabschefs von Moltke, der Konflikte nicht auf die Spitze trieb, sondern gegebenenfalls einen Schritt zurücktrat, und mit der Konfliktbereitschaft des Kanzlers gegenüber dem Monarchen. Darüber hinaus gab es eine ganze Reihe von politischen Festlegungen, die den Militärs durchaus ganz in ihren Kram passten, an erster Stelle die bündnispolitische Grundsatzentscheidung durch den Zweibund mit Österreich-Ungarn von 1879.
Um hier ein Zwischenfazit