Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Tilman Mayer

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Название Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts
Автор произведения Tilman Mayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446935



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im System der Weimarer Republik, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann, waren nur marginal Regierungschefs gewesen. Der letzte kaiserliche Reichskanzler Prinz Max von Baden hatte, unter Bruch der Reichsverfassung, Ebert am 9. November 1918 mit dem Reichskanzleramt designiert; Ebert stand dann an der Spitze des sogenannten Rates der Volksbeauftragen, wurde aber am 11. Februar 1919 zum ersten Reichspräsidenten gewählt und starb in diesem Amt am 28. Februar 1925. Stresemann war im Herbst 1923 für einige Monate Kanzler an der Spitze der ersten Großen Koalition in Deutschland, über längere Zeit amtierte er aber erst im Anschluss daran als Reichsaußenminister (wie als Vorsitzender der Deutschen Volkspartei) bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929.9 Nach alledem scheint es angeraten, Bismarck als Kanzler sozusagen in ein Quartett von bisher vier deutschen Kanzlern einzureihen; dazu gehören Bernhard von Bülow, amtierend von 1900 bis 1909, Konrad Adenauer, amtierend von 1949 bis 1963, Helmut Kohl, amtierend von 1982 bis 1998.10 Natürlich erhebt sich zwischen den beiden kaiserzeitlichen und den beiden bundesdeutschen Kanzlern so etwas wie eine prinzipielle Schranke oder Barriere. Beide Gruppen, Bismarck und Bülow hier, Adenauer und Kohl da, agierten unter deutlich verschiedenen konstitutiven Voraussetzungen, einmal in der Monarchie mit Anbindung an den deutschen Kaiser und preußischen König in Personalunion, im anderen Falle in einer parlamentarischen Demokratie, mit konstitutiv schwachem Staatsoberhaupt, verglichen mit den Verhältnissen bis zum Ende der Weimarer Republik, und zugleich im formalen Amt des Parteiführers, das es so für die Kanzler des Kaiserreiches nicht gegeben hatte: Adenauer wurde Vorsitzender für den CDU-Bereich der alten Bundesrepublik auf dem Parteitag in Goslar von 1950 und blieb es bis weit in die Kanzlerschaft seines Nachfolgers Ludwig Erhard hinein. Helmut Kohl war schon neun Jahre CDU-Parteivorsitzender, als er 1982 Bundeskanzler wurde, und er behielt den Parteivorsitz bis zum Ende seiner Kanzlerschaft als eine zentrale Machtressource inne – am 27. Oktober 1998 wurde Gerhard Schröder zum Nachfolger Helmut Kohls als Bundeskanzler gewählt, 11 Tage später, auf dem CDU-Parteitag vom 7. November 1998, wurde Wolfgang Schäuble zum, wie man heute wohl sagen kann, mäßig geschätzten Nachfolger Kohls im Amt des CDU-Vorsitzenden.

      Geradezu klassisch hat Karlheinz Niclauß für die (west-)deutsche Kanzlerdemokratie sechs Bestimmungsfaktoren entwickelt: Dominanz des Kanzlerprinzips über das Ressort- und das Kabinettsprinzip, Kanzlerbonus im Regierungslager und beim Gros der Wähler, Personalisierung der Auseinandersetzung zwischen Amtsinhaber und oppositionellem Kanzlerkandidaten, enge Verbindung zwischen dem Amt des Kanzlers und der Führung der größten Regierungspartei, deutliche Abgrenzung zwischen regierungstragendem und regierungsbekämpfendem Lager und Profilierung durch die Außenpolitik.11 Es wird hier jeweils zumindest kursorisch zu prüfen sein, welche Elemente aus diesem Set auch auf die Spezifik der Regierungsführungen Bismarcks (und Bülows) gegebenenfalls Anwendung finden können. Um hier mit dem Thema Behauptung im Amt unter demokratischen Bedingungen abzuschließen – auch dabei wird dann die Frage der Anwendbarkeit auf wesentlich vordemokratische Zeiten von Interesse sein: Karl-Rudolf Korte, mit der beste Kenner der Kanzlerschaft Helmut Kohls, geht für bundesdeutsche Normalkanzlerschaften von einer Dauer von acht Jahren aus. Er sieht gegen Ende dieses Zeitraumes den Reiz des Neuen ebenso erschöpft wie Verschleißfaktoren allmählich überhand nehmend. Und als »Vorboten des Machtwechsels« benennt er: »1. Machterosionen: Fehlende Unterstützung; 2. Steuerungsverluste: Endloser Politikstau; 3. Kommunikationsdefizit: Anhaltendes Meinungstief; 4. Realitätseinbußen: Die Stufen der Vereinsamung.«12 Die achtjährige »Normaldauer« erscheint für die Geschichte der Bundesrepublik, vor wie nach der Wiedervereinigung von 1990, überraschend oft zu gelten, zumal dann, wenn man es mathematisch nicht gar zu akkurat nimmt: Bei Adenauer war gewissermaßen der obere Wendepunkt mit dem Triumph bei der dritten Bundestagswahl von 1957 und dem bisher erstmaligen Gewinn der absoluten Mehrheit durch eine Parteienformation erreicht. Der Niedergang setzte mit der »Präsidentschaftskrise« von 1959 ein, dem Hin und Her um die Nachfolge des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, in dem Adenauer, zeitweilig selbst Kandidat für das Amt des Staatsoberhauptes, eine denkbar unglückliche Figur abgab. Im Falle Helmut Schmidts waren es circa achteinhalb Jahre, vom Frühjahr 1974 bis zum Herbst 1982, am Ende ausgelaugt durch die Kontroversen um Haushaltskonsolidierung und NATO-Doppelbeschluss. Bei Helmut Kohl wären es – ohne die historische Zäsur der deutschen Wiedervereinigung von 1989 / 90 – aller Voraussicht nach auch acht Jahre geblieben, bis zu einer wahrscheinlichen Wahlniederlage bei einer Bundestagswahl vom Anfang 1991; stattdessen avancierte Kohl zum Kanzler der Einheit und absolvierte eine zweite Achtjahressequenz, von 1990 bis 1998. Im Falle von Gerhard Schröder waren es sieben Jahre, von 1998 bis 2005; Angela Merkel ist drauf und dran, die Achtjahresregel deutlich zu übertreffen, wenn auch in jeweils sehr verschiedenen Konstellationen: Sie amtiert derzeit, seit Ende 2013, in einer für sie zweiten großen Koalition, dazwischen hatte es, von 2009 bis 2013, das Bündnis von Unionsparteien und FDP gegeben. Hier liegt aber ein gravierender Unterschied zu den beiden Urgestalten der Unionsparteien: Adenauer hatte zwar am Ende, seit 1961, mit einer großen Koalition geliebäugelt, de facto aber durchgängig mit kleinen Koalitionen regiert, bei denen die FDP bis zum Ausein anderleben Mitte der 50er-Jahre der wesentliche bürgerliche Partner gewesen war – und 1961 wurde sie es wieder.13 Für Kohl war die FDP durchgängig der gegebene Koalitionspartner.

      Blicken wir nun zurück ins Kaiserreich: Auch hier gab es, analog zu Ludwig Erhard (1963–1966) und Kurt Georg Kiesinger (1966–1969), kürzere Kanzlerschaften, bei denen die Inhaber sich schon nach wenigen Jahren verschlissen, wie im Falle Leo von Caprivis, im Amt von 1890 bis 1894, im Falle des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, in den folgenden Jahren bis zur Jahrhundertwende; neben Bülow und seiner Kanzlerschaft von 1900 bis 1909 steht die Kanzlerschaft seines Nachfolgers Theobald von Bethmann Hollweg – die ebenfalls in ein Zeitraster von acht Jahren passt, über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 hinweg, von 1909 bis 1917. Die folgenden kurzzeitigen Kriegskanzler Graf von Hertling, Georg Michaelis und Max von Baden können hier außer Betracht bleiben. Auch bei Bismarck selbst ergibt die Achtjahresformel, zugegeben extensiv interpretiert, durchaus Sinn: Gut acht Jahre waren es von seiner Bestallung als preußischer Ministerpräsident im September 1862 bis zum Aufstieg in das Amt des deutschen Reichskanzlers 1871. Und ähnlich wie man für Helmut Kohl postuliert hat, bei normalem Fortgang der Dinge wäre seine Kanzlerschaft 1990 / 91 an ihr Ende gelangt, lässt sich für den preußischen Ministerpräsidenten (und seit 1867 Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes) Otto von Bismarck feststellen, dass die letzte Phase vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges im Juli 1870 für ihn eher perspektivlos verlief: Die Wahlen zum Zollparlament, durch das der nach dem innerdeutschen Krieg von 1866 wiederhergestellte Deutsche Zollverein einen parlamentarischen Unterbau erhielt, waren in den süddeutschen Ländern 1868 durchaus antipreußisch ausgefallen. In Bayern hatte die klerikal-partikularistische »Patriotenpartei« obsiegt.14 (Für die Länder nördlich der Main-Linie waren die Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages in Personalunion zugleich Mitglieder des Zollparlaments.) Nachdem wie ein deus ex machina der deutsch-französische Krieg von 1870 / 71 für hinreichende nationale Integration gesorgt und die Möglichkeit zur Nationalstaatsgründung eröffnet hatte, amtierte Bismarck, ähnlich wie Kohl ab 1990, frisch bestärkt und neu legitimiert, über die siebziger Jahre im Zeichen einer liberalen Politik der inneren Einigung in Wirtschaft und Gesellschaft. Für Letzere stand geradezu symbolhaft der Kulturkampf mit der katholischen Kirche. Das nächste Jahrzehnt wiederum, ab etwa 1878 / 79, stand im Zeichen einer konservativ-patriarchalischen Sammlungspolitik: Das liberale Element bis einschließlich des von Eduard Lasker geführten linken Flügels der Nationalliberalen wurde zurückgedrängt. Das Sozialistengesetz vom 21. Oktober 1878 stand nicht nur für die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie, sondern insbesondere für das Leitbild von einem starken monarchischen Staat; es richtete sich mit seinen Mustern von Integration und Ausgrenzung de facto nicht zuletzt gegen die politischen Ambitionen des Liberalismus.

      Schließlich das Ende der Kanzlerschaften Bismarcks wie Bülows: Beide schienen jeweils, Bismarck seit dem Tode Kaiser Wilhelms I. 1888, Bülow seit dem Desaster um das Daily-Telegraph-Interview Kaiser Wilhelms II. 1908, ihrer realen Machtgrundlagen beraubt. Zunächst Bismarck: Bei den »Septennatswahlen« zum Reichstag 1887 hatte er seinen letzten Wahltriumph mit der Parole nationaler Sicherheit durch Aufrüstung errungen und konnte sich nunmehr auf ein festgefügtes Kartell aus Deutschkonservativen, Freikonservativen und nach rechts gewendeten Nationalliberalen stützen. Nun aber zerbrach sehr