Название | Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts |
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Автор произведения | Tilman Mayer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446935 |
Schon zwei Jahre nach seiner Entlassung war Bismarck im Geschichtsbild großer Teile der Öffentlichkeit, auch und gerade unter Einschluss des 1866 geschlagenen Österreichs, vom reaktionären preußischen Junker zum Idol des nationalen Bürgertums geworden.1 Vom »Genie« aber spricht ein anderer, wenn auch nicht frei von zweifelndem Unterton: der Historiker, Sicherheitspolitiker und ehemalige US-amerikanische Außenminister Henry A. Kissinger. Er gebraucht, auf Bismarck bezogen, die bekannte Formel vom weißen Revolutionär, also vom Staatsmann, der die Revolution von oben durchgesetzt habe, um die von unten abzufangen, und er schreibt über die Verfasstheit, die Bismarck in Deutschland seit Ende der 1860er-Jahre durchsetzte: »Die neue Ordnung, die den Konservativen zu demokratisch, den Liberalen zu autoritär und den Legitimisten zu machtorientiert erschien, war auf ein Genie zugeschnitten, das sich vornahm, die widerstreitenden Kräfte sowohl auf der innenpolitischen als auch auf der außenpolitischen Ebene, dadurch zu bändigen, dass es sie jeweils gegeneinander ausspielte.«2
Will man sich Bismarcks Regieren nähern und will man es in eine vergleichende – deutsche – Perspektive zu rücken suchen, dann liefert uns Kissinger hier vermutlich in der Tat fast so etwas wie einen archimedischen Punkt. Es ist das Moment des Undogmatischen, die Art und Weise, sich eine große Variationsbreite in Bündnisoptionen innen- wie außenpolitisch zu erhalten und immer wieder die Zeitgenossen und insbesondere darunter die Gegenspieler durch abrupt anmutende Wendungen zu verblüffen, sie schachmatt zu setzen, im Einzelfall aber auch zu gewinnen. Beispielhaft demonstriert erscheint das durch die Einführung des gleichen Wahlrechts in Norddeutschem Bund und Deutschem Reich 1867 beziehungsweise 1871.
Freilich: Von einer Harmoniegeschichte mit schlechthin versöhnendem Abschluss kann bei Bismarck gewiss nicht die Rede sein. Ein Urpreuße, wenn auch nicht im politischen Sinn Hochkonservativer, Theodor Fontane, schrieb aus Anlass von Bismarcks 80. Geburtstag 1895 mit sehr kritischem Unterton an seine Tochter Martha: »Diese Mischung von Übermensch und Schlauberger, von Staatengründer und Pferdediebstahl-Steuerverweigerer […], von Heros und Heulhuber, der nie ein Wässerchen getrübt hat, erfüllt mich mit gemischten Gefühlen und läßt eine reine helle Bewunderung in mir nicht aufkommen, es fehlt ihm gerade das, was recht eigentlich die Größe leiht.«3 Nimmt man den deutschen Kulturraum, dann erscheint der südwestdeutsche Liberale und erste Bundespräsident Theodor Heuss als fast so etwas wie ein Antipode zu Theodor Fontane; beide sind nicht nur durch gute zwei Generationen getrennt. Aber auch bei Theodor Heuss bleiben ähnliche Vorbehalte, und die Gründe können nicht nur im zwischenzeitlichen Untergang des von Bismarck gestifteten Deutschen Reiches durch Hybris und Verbrechenspolitik des nationalsozialistischen Regimes liegen; denn auch über die Schwelle des Jahres 1945 hinweg finden wir zugleich bis in die Mitte der 1960er-Jahre eine ganze Menge Zustimmung zu Bismarck. Sie gründet wesentlich in dessen Bescheidung mit der sogenannten »kleindeutschen« Lösung und in seiner Intention wie in seinem Vermögen, von 1871 bis 1890 mit hohem Erfolg Kriegsvermeidungspolitik zu treiben und insgesamt in seinen politischen Management-Kapazitäten.4 Theodor Heuss nun hat ersichtlich Bismarck auch ungeachtet der Zäsur, die die Phase des sogenannten Dritten Reiches von 1933 bis 1945 bedeutet, durchgängig eher skeptisch gegenüber gestanden oder, um es etwas anders zu formulieren: Er fand gar kein echtes Verhältnis zu ihm. Wie Heuss’ Biograf Joachim Radkau beschreibt, war der spätere erste Bundespräsident ganze drei Jahre alt, als Bismarck bei den sogenannten Septennatswahlen zum Reichstag 1887 mit der nationalen Parole einer gebotenen Stärkung der Wehrkraft den Linksliberalen eine ihrer schwersten Niederlagen in der Geschichte des Kaiserreiches beibrachte; dieser familiär vermittelte Eindruck ist bei Heuss haften geblieben.5 Über 60 Jahre später, 1951, ließ sich Heuss dafür gewinnen, zu Bismarcks Gedanken und Erinnerungen eine Einführung beizusteuern. Es ist ein umfangreicher Text, der beachtliche historische Kenntnis verrät.6 Gewiss wägt Heuss in ihm vieles gegeneinander ab, aber letztlich lässt er sich dann doch von einem Verdikt bestimmen, bei dem die eigene Rolle als prinzipiell liberaler Publizist und Parlamentarier die Maßstäbe festlegt. Heuss’ Abgrenzung gegenüber Bismarck erreicht da ihren Höhepunkt, wo er dem preußischen Reformer Freiherrn vom Stein attestiert, im Grunde die modernere und die legitimiertere Figur gewesen zu sein: Neben ihn trete »Bismarck fast als eine Figur des 18. Jahrhunderts, letzte große Verwirklichung der ›Kabinettspolitik‹, im Grunde Metternich näherstehend als dem nassauischen Retter und Erneuerer der zerschlagenen preußischen Staatlichkeit.«7 Mit guten Gründen kann man sagen: Eine Wertung mit Voreingenommenheit. Stein wurzelte im Alten Reich, Bismarck im Politikbetrieb des 19. Jahrhunderts. Schlagen wir den Bogen bis in unsere Gegenwart, dann begegnet uns, zumal in den 1970er-Jahren, dominierend eine Interpretationslinie, die in Bismarck wesentlich den großen Manipulator sieht, einen Akteur, der ein an sich überholtes Regime für lange Zeit stärkte und stabilisierte und dafür im Resultat fatale politische Kosten in Kauf nahm: Es geht um die preußische Militärmonarchie. Obwohl angesichts der ökonomischen und sozialen Prozesse der Zeit überlebt, habe sie dank Bismarcks Instrumentalisierung außenpolitischer Erfolge wie außenpolitischer Gefahren, dank seines manipulativen Einsatzes nationaler Parolen und dank der Spaltung des Bürgertums in Nationalliberale und Linksliberale auf fatale Weise über einen längeren Zeitraum hin stabilisiert werden können.8 Wie nun also heute vorgehen, nicht nur 200 Jahre nach Bismarcks Geburt, sondern auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiederherstellung jenes Nationalstaates, den der ursprüngliche preußische Junker aus Schönhausen an der Elbe, also ganz in der Mitte des damaligen Deutschlands, »geschmiedet« hatte, wie seine Zeitgenossen sagten, und der, gegen alle Erwartungen, 1990 wieder zusammengefügt wurde, wenn auch räumlich auf weniger als zwei Drittel seines ursprünglichen Bestandes reduziert, konstitutiv ganz anders ausgestaltet und in seiner Verankerung heute europäisiert? Denn daran kann kein Zweifel sein: Das seit dem 3. Oktober 1990 wiedervereinigte Deutschland, ob nun als sogenannter postklassischer Nationalstaat oder ganz einfach als Nationalstaat, es steht jedenfalls in einer eindeutigen Kontinuität zur Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reiches 1871. Alle Systemwechsel haben daran nichts geändert – Systemwechsel heben Nationalstaaten nicht auf, denken wir nur an den Fall Frankreich. Und je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr wird aus heutiger Perspektive die eben zeitweilige Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend wenn schon nicht zu einer Episode, so doch zu einem Kapitel unter anderen in der deutschen Nationalgeschichte.
2. Referenzrahmen Kanzlerschaften
Das kann aber auch heißen: Das Agieren des ersten Deutschen Bundes- (1867–1871) wie des ersten deutschen Reichskanzlers (1871–1890) kann, zumindest versuchsweise, auch gedeutet und gewissermaßen getestet werden im Vergleich mit anderen Kanzlerschaften in der deutschen Geschichte. Natürlich wird man dabei die Unterschiede, nicht nur in den Ordnungs- und Verfassungssystemen, stets mit bedenken müssen, also im Blick auf die Rolle des Landes als unabhängige Großmacht oder heute als integrierte Mittelmacht, im Blick auf die Parteienverhältnisse und die Rahmenbedingungen, wie sie politische Kulturen und mediale Kommunikationen vorgeben.
Aus diesen letzteren Feststellungen ergibt sich bereits zugleich indirekt, dass für »Kanzlervergleiche« mit Bismarck kein Akteur aus der Zeit der Weimarer Republik infrage kommt. Das soll hier nicht weiter verfassungsrechtlich erörtert werden – unbestreitbar ist wohl, dass seit der Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 die Regierungschefs auf nationaler Ebene konstitutiv nie in einer schwächeren Position waren als in der Zeit von 1919 bis 1933. Sie waren vom Parlament, das heißt von den Parlamentsmajoritäten, ebenso abhängig wie von der Gunst des Staatsoberhauptes, des Reichspräsidenten. Das unterscheidet sie von den Kanzlern bis 1918, die Parlamentsmajoritäten nicht stürzen konnten, ebenso wie von denen nach 1949, die nach dem Wortlaut der Verfassung im Wesentlichen nur durch das sogenannte konstruktive Misstrauensvotum zum Rücktritt