Die psychoanalytische Ambulanz. Группа авторов

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Название Die psychoanalytische Ambulanz
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170366268



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oder auch aus Institutseigenen Mitteln angeboten, bspw. in der Behandlung von Geflüchteten (image Kap. 7). Die Ambulanz des SFI hat in der gesamten Region einen hohen Bekanntheitsgrad (Kerz-Rühling 2005). Ihre Vernetzung mit niedergelassenen Kollegen, aber auch mit Kliniken wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut. Die Nachfrage an die Institutsambulanzleistungen ist permanent hoch und übersteigt bei weitem die Kapazitätsgrenzen. Ohne die Mitarbeit niedergelassener Psychoanalytiker wären die Ambulanzleistungen nicht annähernd zu erbringen.

      Die Kontaktaufnahme der Patienten zur Ambulanz des SFI erfolgt über das Ambulanzsekretariat. Vor dem Erstinterview werden sie gebeten, einen Dokumentationsbogen auszufüllen. Dieser umfasst die Erhebung soziodemografischer Daten, der psychotherapeutischen und psychiatrischen Vorbehandlungen, der Medikation etc. Danach erfolgt das 50-minütige Erstinterview. Nach dem Interview erstellt jeder Therapeut einen schriftlichen Bericht über das stattgefundene Gespräch. Dieser enthält anamnestische Angaben, sowie Angaben zum psychischen Befund, zur Psychodynamik der Erkrankung, zur psychischen Struktur, zur Diagnose, zur Indikationsstellung und zu den, mit den Patienten besprochenen Therapieempfehlungen. Die Diagnose besteht abgekürzt gesagt aus zwei Teilen: einer symptomatisch orientierten ICD-10 Diagnose und einer psychodynamisch orientierten Diagnose, die in der Regel Aussagen zum vorrangigen psychischen Konflikt, zu den Abwehrmechanismen, dem Strukturniveau etc. beinhaltet. Der in freier Form abgefasste Bericht des Therapeuten wird seit November 2018 durch einen Fragebogen, den der Therapeut ausfüllt, ergänzt. Er enthält skalierte Einschätzungen zur psychischen Struktur des Patienten, zur Art des Kontakts, zu Übertragung und Gegenübertragung, zur Prognose usw. Der Hintergrund dieser Neueinführung ist der Bedarf an Forschungsdaten zur empirischen Untersuchung bestimmter Fragestellungen bspw. des Einflusses bestimmter Übertragungs- und Gegenübertragungsstrukturen auf die Indikationsstellung (image Kap. 9).

      In einer einmal wöchentlich stattfindenden Ambulanzkonferenz, an der die klinisch tätigen Ambulanzmitarbeiter teilnehmen, werden die Patienten der Woche vorgestellt. Ausgewählte Fälle werden eingehender besprochen und hinsichtlich der vorliegenden Psychodynamik, der Diagnose-, der Indikationsstellung und der Vermittlung der Patienten an geeignete Weiterbehandler diskutiert. Die vertiefenden Fallbesprechungen können der Vorbereitung auf weiterführende Gespräche dienen, falls diese erforderlich werden. In der Fallvorstellung gibt der Interviewer den Gesprächsverlauf wieder, d. h. die Spontanangaben des Patienten, die Schilderung seiner Symptomatik sowie seiner Lebens- und Krankengeschichte; zusätzlich vermittelt er der Gruppe einen Eindruck des Kontakts und der Interaktionsszenen, die sich mit dem Patienten konstelliert haben. Die Art und Weise, wie die Übertragungsangebote vom Behandler aufgenommen, innerlich verarbeitet und ggf. in verarbeiteter Form als Deutung dem Patienten (zurück-)vermittelt und bewusst gemacht werden konnten, und welche Konsequenzen daraus fürs weitere Gespräch folgten, sind die Hauptgegenstände der Fallvorstellung. Dass der Gruppe der Konferenzteilnehmer in der anschließenden Falldiskussion eine wesentliche Erkenntnisfunktion zukommt, versteht sich von selbst. Neue Einsichten und Erweiterungen des Fallverständnisses ergeben sich nicht nur durch die unterschiedlichen konzeptuellen (z. B. objektbeziehungstheoretischen, trieb-, selbst-, ichpsychologischen) Perspektiven, mit denen die Gruppenmitglieder auf das vorgestellte Material schauen. Vielmehr zeigt sich, dass sich bestimmte Strukturen des Interviewverlaufs, die ihrerseits mit den Strukturen des Falles zu tun haben, unbewusst in der Dynamik des Gruppenprozesses abbilden und im Idealfall erkannt und in den fallbezogenen Erkenntnisprozess integriert werden können (image Kap. 8). Die Kenntnisse und die langjährigen klinischen Erfahrungen der Ambulanzmitarbeiter im Umgang mit Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen verdichten sich hier zu psychodynamischen Hypothesen zur Fallstruktur, zu diagnostischen und indikatorischen Schlussfolgerungen. Durch die umfangreiche, jahrzehntelang gewachsene Vernetzung, die die Ambulanz des SFI, sowohl mit psychiatrischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Kliniken, als auch mit niedergelassenen Psychoanalytikern, Psychiatern und Psychotherapeuten unterhält, die in regelmäßigen Abständen ihre freien Plätze an die Ambulanz melden, gelingt es in den meisten Fällen, den Patienten geeignete Behandlungsempfehlungen zu geben.

      An der Durchführung der Erstgespräche sind die klinisch tätigen, festangestellten Mitarbeiter des Instituts sowie eine Gruppe niedergelassener Psychoanalytiker und einige Ausbildungskandidaten beteiligt. Alle Mitarbeiter der Institutsambulanz sind Ärzte und/oder Psychologen, die in der Regel eine Weiterbildung zum Psychoanalytiker nach den Richtlinien der Deutschen und Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung abgeschlossen haben oder gerade absolvieren.

Images

      Abb. 1.2: Die ersten Mitarbeiter v.l.n.r.: Prof. Dr. H. Vogel, Fr. Müller-Reitsch, Dr. Munder, Prof. Dr. H. Argelander, Hr. Seifert, Fr. Gentes, Prof. Dr. W. Loch. 1960 Mit freundlicher Genehmigung des Sigmund-Freud-Instituts

      1.3 Das Erstinterview

      1.3.1 Zur Anwendung der psychoanalytischen Behandlungsmethode in der diagnostischen Praxis

      Im Zentrum der Ambulanztätigkeit des SFI steht das sogenannte Erstinterview. Es dient einer ersten Verständigung zwischen Analytiker und Patient hinsichtlich einer möglicherweise vorliegenden seelischen Störung und der Möglichkeit bzw. der Notwendigkeit, diese psychotherapeutisch oder psychoanalytisch zu behandeln. Es eröffnet meist einen initialen Zugang zu den seelischen Konflikten, die hinter den Symptomen und Beschwerden stehen, und gestattet einen ersten Einblick in die vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten des Patienten, in seine Ressourcen, sich auf ein psychoanalytisches Arbeitsbündnis mit dem Ziel, unbewusste Konflikte und Strukturen aufzudecken, einlassen und davon profitieren zu können. Als unser zentrales Untersuchungsinstrument erfüllt das Erstinterview diagnostische, indikatorische und prognostische Funktionen (Eckstaedt 1995, Argelander 1970) und bildet die Grundlage für die Behandlungsempfehlung, die wir in aller Regel dem Patienten geben.

      Die Erfahrungen, die die Patienten im Erstinterview machen, haben einen entscheidenden Einfluss darauf, ob sie sich anschließend in eine psychoanalytische oder psychotherapeutische Behandlung begeben werden. Ihre Entscheidung wird maßgeblich davon beeinflusst, ob sie sich im Erstinterview in ausreichendem Maß vom Analytiker verstanden und dadurch gehalten fühlen (Kerz-Rühling 2005).

      Das 50-minütige Erstinterview stellt eine situationsangepasste Anwendung des von Sigmund Freud begründeten psychoanalytischen Untersuchungs- und Behandlungsverfahrens (Argelander 1968) dar und sollte sowohl am Gesprächsauftrag des Patienten (Hohage 1981) als auch an seinen störungs- und persönlichkeitsabhängigen Gegebenheiten und Möglichkeiten ausgerichtet sein. Die Art und Weise, wie wir am SFI dieses Erhebungs- und Erkenntnisinstrument, in Abgrenzung zu anderen diagnostischen Verfahren (tiefenpsychologische Anamnese, Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD II, Kernbergs strukturiertem Interview, vgl. Mertens 2015) einsetzen, wie wir seine methodologischen Voraussetzungen, seine Funktionen und Erkenntnisziele verstehen, geht in wesentlichen Zügen auf Hermann Argelander zurück, der als Wissenschaftler und Ambulanzleiter des SFI in den 1970er und 1980er Jahren höchst einflussreiche Studien zur Fundierung eines psychoanalytischen Interviewverfahrens vorgelegt hat.

      Am prägnantesten lassen sich die Eigenarten eines psychoanalytischen Erstgesprächs in Abhebung zu einer psychiatrischen Anamnese- und Erhebungssituation verdeutlichen. Lorenzer sprach angesichts dieser Differenz von der »radikalen Umkehrung des Arzt-Patient Verhältnisses« (Lorenzer 1984a,