Die psychoanalytische Ambulanz. Группа авторов

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Название Die psychoanalytische Ambulanz
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170366268



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Anschluss an die internationale Psychoanalyse wiedererlangen konnte. Als Wissenschaft vom Unbewussten und Behandlungsmethode für bestimmte seelische Erkrankungen sollte die Psychoanalyse wieder öffentliche Beachtung und Anerkennung finden. Dieses Anliegen fand im Nachkriegsdeutschland der späten 1950er Jahre, jener »intellektuellen Nachkriegswüste«, wie Jürgen Habermas (vgl. Plänkers et al. 1996, S. 30; S. 337) den damaligen Zustand der BRD fasste, eine selektive, aber äußerst zugkräftige Unterstützung aus politischen wie universitären Kreisen. Hierbei spielten die damalige hessische Landesregierung unter Leitung von Ministerpräsident Georg-August Zinn sowie das renommierte Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) eine wichtige Rolle, dem in den 1950er und 1960er Jahren namhafte Intellektuelle wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Ludwig von Friedeburg, der später selbst Kultusminister Hessens wurde, angehörten. Die Unterstützung Mitscherlichs als designiertem Institutsgründer war mit gemeinsamen kultur- und wissenschaftspolitischen Interessen verknüpft. Als Reflexions- und Aufklärungswissenschaft sollte die Psychoanalyse zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte und zur Erforschung irrationaler, destruktiver sozialer Kräfte beitragen.

      Auf diesem Gebiet hatte der 1908 geborene, fachübergreifend forschende Alexander Mitscherlich schon zum damaligen Zeitpunkt beachtliche wissenschaftliche Expertise erworben. Als habilitierter Neurologe setzte er sich in deutlicher Abgrenzung zur naturwissenschaftlich-positivistisch orientierten Ärzteschaft für eine an Sinnzusammenhängen, an biografischen und sozialen Prozessen ausgerichtete Medizin ein und konnte 1950 in Heidelberg die erste psychoanalytisch orientierte psychosomatische Klinik Deutschlands gründen, die er bis 1967 leitete.

      In den 1947 und 1949 gemeinsam mit Fred Mielke veröffentlichten Büchern »Diktat der Menschenverachtung« und »Wissenschaft ohne Menschlichkeit« untersuchte er die Verflechtung der deutschen Mediziner mit dem Naziregime und zeigte auf, wie eine im Geist der Aufklärung und der Humanität entstandene Wissenschaft, aus ihren inneren objektivistischen Denk-Strukturen heraus, sich ins Verdinglichende, Dehumanisierende und letztlich Menschenverachtende verkehrte.

      Genau an diesem Punkt konvergierten Mitscherlichs Arbeiten mit dem Denken von Adorno und Horkheimer, die in ihrem gemeinsamen Hauptwerk »Dialektik der Aufklärung« (1947) die Selbstzerstörungskräfte des abendländischen Rationalismus analysierten, die in den modernen, aufgeklärten Industriegesellschaften entlang ihrer instrumentellen Zielsetzungen wirksam werden. Die Autoren zeigten, wie der spezifische Rationalitätstypus der Aufklärung ins Gegenteil seiner selbst, ins Totalitäre und Irrationale umschlägt und in die Barbarei des Faschismus münden konnte.

      Mitscherlich hatte diese Dialektik am Beispiel der Medizin in Nazideutschland erfasst und herausgearbeitet und damit einen wesentlichen Beitrag zu den Entstehungs- und Aufarbeitungsbedingungen totalitärer, faschistisch-rassistischer Systeme geleistet.

      Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die führenden Mitglieder des Instituts für Sozialforschung – Horkheimer, Adorno und aus der jüngeren Generation Habermas – auf ihn aufmerksam wurden, Kooperationen mit ihm anstrebten und in ihm die geeignete Person sahen, die den Wiederaufbau der Psychoanalyse in Deutschland repräsentieren und die Verbindung von Soziologie und Psychoanalyse, die seit den 1930er Jahren ein zentrales Arbeitsfeld des IfS war, interdisziplinär weiterentwickeln sollte.

Images

      Abb.: Jürgen Habermas und Alexander Mitscherlich im Gespräch, anlässlich der Feier zu Mitscherlichs 60. Geburtstag, September 1968.

      Mit freundlicher Genehmigung des Sigmund-Freud-Instituts

      Aber nicht nur die Frankfurter Schule sondern auch einige wichtige Vertreter der Politik, so der damalige hessische Ministerpräsident Georg August Zinn, erkannten die politisch aufklärerische Bedeutung der Psychoanalyse und sprachen ihr prophylaktischen Wert gegen zivilisations- und freiheitsgefährdende soziale Kräfte zu. In seiner Rede zur Gründung des Instituts würdigte er den Beitrag der Psychoanalyse gegen ein erneutes Abrutschen der Gesellschaft in die Diktatur: »Ein Staat, in dem die Erkenntnis und das Verfahren der Tiefenpsychologie nicht nur bis tief in die Kliniken und ärztlichen Praxisräume, sondern auch in die Strafgesetze, in den Strafvollzug, in die Schulzimmer und die sozialen Berufe eindringen können, ist wahrscheinlich irgendwie immun gegen Diktatoren« (zit. nach Bareuther, S. 23). In dieser politisch verantwortungsvollen Funktion als Aufklärungs- und Reflexionswissenschaft erlebte die Psychoanalyse in den 1960er–1970er Jahren in Deutschland einen bislang einzigartigen Zuwachs an intellektueller Popularität, der nicht zuletzt durch Alexander Mitscherlich und das von ihm gegründete und bis 1976 geleitete Sigmund-Freud-Institut ermöglicht wurde.

      Das »Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin«, so der ursprüngliche Name der 1964 in »Sigmund-Freud-Institut« umbenannten Einrichtung, war in drei wissenschaftliche Bereiche gegliedert: den sozialpsychologischen, den psychologisch-grundlagenwissenschaftlichen und den medizinisch-klinischen Bereich, zu dem eine psychotherapeutisch-psychoanalytische Institutsambulanz gehörte. Die Wahl dieser dreiteiligen Institutsform zeigt an, dass die Freudsche Psychoanalyse nicht »nur« als eigenständige Wissenschaft vom Unbewussten reetabliert und interdisziplinär weiterentwickelt werden sollte. Auch als Behandlungsmethode für seelische Erkrankungen sollte sie wieder Geltung erlangen und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

      Mit der Einrichtung der Ambulanz trug der Institutsgründer zudem der Tatsache Rechnung, dass die Erforschung des Unbewussten in der psychoanalytischen Klinik gründet und diese als originäres Forschungsfeld unabdingbar voraussetzt. Wissenschaft als Suche nach Erkenntnis und psychotherapeutische Praxis bilden in der Psychoanalyse eine unlösbare Einheit.

      Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Psychoanalyse 1967 als analytische Psychotherapie und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie in den Leistungskatalog der Krankenkassen, in die GKV-Richtlinien, aufgenommen wurde. Parallel zu diesen gesundheitspolitischen Veränderungen, denen weitere folgen sollten (z. B. die Einführung des Delegations- und Kostenerstattungsverfahren für Psychologen, das Psychotherapeutengesetz) traten die Aufgaben der Diagnostik und der Indikationsstellung in den Fokus der Ambulanztätigkeit.

      Diese Ausrichtung prägt bis heute die klinische Arbeit der Institutsambulanz. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut und auf unterschiedlichen Ebenen zum Gegenstand wissenschaftlicher Studien gemacht.

      Mit ca. 500 Erstgesprächen, die wir pro Jahr mit Patienten mit unterschiedlichsten Störungsbildern durchführen, gehört die Ambulanz des SFI zu den bundesweit größten Einrichtungen ihrer Art. Sie weist gegenüber Ambulanzen im Klinikbereich als auch gegenüber Ambulanzen im Bereich psychoanalytischer Ausbildungsinstitute Besonderheiten auf, die in den folgenden Beiträgen zur Darstellung kommen sollen.

      Es gilt hervorzuheben, dass das SFI in den 1960er–1970er Jahren mit der Begründung und Entwicklung eines spezifischen Verfahrens zur psychoanalytisch-psychotherapeutischen Erstuntersuchung von Patienten behandlungstechnisches Neuland betreten und wissenschaftliche Pionierarbeit geleistet hat. Das von Hermann Argelander, dem damaligen Leiter der klinischen Abteilung, begründete Erstinterview-Verfahren, in dessen Zentrum ein neu entwickeltes sinnverstehendes Verfahren, das »szenisch-situative Verstehen«, steht, stellt bis heute ein zentrales Untersuchungsinstrument dar und bildet die Grundlage unserer klinischen Arbeit. Es ermöglicht eine erweiterte Anwendung der von Freud entwickelten psychoanalytischen Methode und ist auf die initiale Begegnung zwischen Analytiker und Patient unter institutionellen Ambulanzbedingungen