Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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sozialen Rahmenbedingungen so klein aber auch bleiben mussten. Die Region lag am äußersten Ende des Osmanischen Reiches wie des Königreichs Polen, und obschon sie dem Machtzentrum der Habsburger auf der Landkarte näher liegen mochte, trennten sie politisch von diesem doch Welten. Alle Großmächte waren auf die Kooperation der örtlichen Grundherren und ihrer Privatheere angewiesen, denn diese verfügten über die Ressourcen, über die Loyalität und den Respekt der verstreut lebenden Bevölkerung. Die Magnaten Ungarns und Siebenbürgens waren zwar reich, hatten zuletzt aber neue und kostspielige Gepflogenheiten übernommen: mit üppigen Landsitzen, Universitätsstudien im Ausland und Kavalierstouren durch ganz Europa für die Söhne und Erben. Bei all dem Aufwand konnten sie sich nicht auch noch ein großes stehendes Heer leisten, um die Grenze zum Osmanischen Reich zu schützen; außerdem wollten auch ihre ärmeren Klienten versorgt sein, die sich mit kleinen Raubzügen ihre kärglichen Einkommen aus Viehhaltung, Pferdezucht und Ackerbau aufbesserten. Im Zentrum der Macht akzeptierte man diesen Status quo als die einzige Möglichkeit, die widerspenstigen Grundherren der Grenzregion bei Laune und Loyalität zu halten. Und ganz nebenbei konnte man mit der „wilden Grenze“ seine internationalen Rivalen unter Druck setzen. Als säkulare Repräsentanten konkurrierender Weltreligionen konnten weder der Kaiser noch der Sultan einen dauerhaften Friedensschluss akzeptieren, ohne damit implizit auch das Existenzrecht der jeweils anderen Kultur anzuerkennen. Das Fehlen fester Grenzen ermöglichte eine Politik der schleichenden Expansion, die durch immer neue Übergriffe, kleine Vorstöße und Gebietsverletzungen vorangetragen wurde. Egal, welche Seite gerade die Nase vorn hatte: Der momentan Stärkere nutzte die Anfälligkeit des Schwächeren aus und sicherte sich zügig – bevor es ein anderer tun konnte – die Kontrolle über einige tributpflichtige Grenzdörfer. Der Grenzverlauf im Gelände wurde vor- und zurückgeschoben wie Sand im Spiel der Gezeiten, während die größeren, befestigten Städte wie Felsen in der Brandung standen, denen erst der offene Krieg mit seinen Mörsern und Kanonen beikommen mochte.

      Derartige Festungen wurden ab den 1530er-Jahren ausgebaut, als sowohl die Osmanen wie auch die Habsburger ihre Präsenz in Ungarn verstärkten. Den Türken kamen kürzere Defensivlinien im Inneren zugute, denn mit ihren Stellungen entlang der mittleren Donau sowie im südwestlich gelegenen Bosnien waren sie kompakt positioniert. Das Rückgrat ihrer Verteidigung bildeten 65 relativ große Burgen, deren Besatzungen zusammen rund 18 000 reguläre Soldaten zuzüglich Hilfstruppen umfassten, während in den Lücken zwischen diesen Festungen 22 000 Milizionäre patrouillierten, welche die Feldherren des Sultans unter dessen überwiegend christlichen Untertanen in der Region rekrutiert hatten. Die Habsburger hingegen sahen sich gezwungen, im Norden und Westen davon einen 850 Kilometer langen Gebietsbogen zu verteidigen, der von den Ländern Österreichs und Böhmens teils durch Gebirgszüge abgeschnitten war. Die „seitliche“ Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt, da sämtliche Flüsse der türkisch besetzten ungarischen Tiefebene im Osten zuströmten. Jedes der Länder Österreichs und Böhmens verfügte über ein militärisches Aufgebot, dessen Mobilisierung jedoch von der Zustimmung der jeweiligen Landstände abhängig war; diese wiederum wollten ihre militärischen Kräfte vorrangig zur eigenen Landesverteidigung einsetzen. Die osmanische Belagerung Wiens im Jahr 1529 war ein Schock, dem dort in den Jahren 1531–67 die Errichtung neuer, mit Bastionen versehener Festungsanlagen im italienischen Stil folgte. Pläne zur Modernisierung dieser Befestigungen mussten 1596 auf Eis gelegt werden, was einerseits Geldmangel, andererseits den Bauernaufständen in Ober- und Niederösterreich geschuldet war. In der Folge war die Hauptstadt der Habsburger nur schwach verteidigt, als 1619 die Böhmen und Siebenbürger angriffen. Die Wiener Bürgerwehr war zwar 1582 zum „kaiserlichen Fähnlein“, 1618 gar zum Regiment befördert worden, zählte aber letztlich nur 500 Mann.58

      Die Militärgrenze Um die Türken in Schach zu halten, reaktivierten beziehungsweise stärkten die Habsburger vormalige und bestehende ungarische Verteidigungsmaßnahmen entlang der Grenze zum Osmanischen Reich und schufen damit die später so genannte Militärgrenze.59 Diese rund 50 Kilometer tiefe, umfassend militarisierte Zone erstreckte sich entlang der gesamten Grenze zwischen den beiden Machtbereichen und beruhte im Wesentlichen auf zwölf großen Festungen und etwa 130 kleineren befestigten Posten mit insgesamt mehr als 22 000 Mann Besatzung in den 1570er-Jahren. Ausbau und Unterhalt der Militärgrenze wurden maßgeblich vom Reichstag finanziert, der zwischen 1530 und 1582 acht Beihilfen mit einem nominellen Gesamtvolumen von rund zwölf Millionen Gulden bewilligte, dazu noch eine gute weitere Million an Mitteln zum Festungsbau. Mindestens vier Fünftel der Gesamtsumme wurden auch ausgezahlt, den konfessionellen Spannungen innerhalb des Reiches zum Trotz, weil die Osmanen als Bedrohung für die gesamte Christenheit galten.60 Tatsächlich wurden die beiden größten Summen ausgerechnet in den Jahren 1576 und 1582 bewilligt, zu einer Zeit also, in der nach Auffassung vieler Historiker der konfessionelle Gegensatz sich verschärfte. Allerdings sorgten Meinungsverschiedenheiten dafür, dass es bei Auslaufen der letzten Zahlungsvereinbarung im Jahr 1587 nicht sofort zu einer Neuauflage kam. Die Abhängigkeit der Habsburger von der Bereitschaft der Landstände, Steuern zur Verteidigung „ihrer“ Grenzabschnitte zu bewilligen, nahm dadurch zu. Nur etwa die Hälfte der Grenztruppen konnte zugleich aus ihren Garnisonen abgezogen werden, was den Spielraum für Offensivoperationen stark einschränkte. Bei einem großen Heer von etwa 55 000 Mann rechnete man mit Kosten von mindestens 7,4 Millionen Gulden pro Kampagne – eine Summe, die die tatsächlichen Einnahmen der Habsburgermonarchie weit überstieg.

      Derartige finanzielle Erwägungen brachten die Habsburger dazu, die Verteidigung weiter Grenzabschnitte in die Hände lokaler Autoritäten zu legen. Die südliche oder Meergrenze um das an der Adriaküste gelegene Senj wurde von einem Zusammenschluss von Freischärlern gehalten, die als Uskoken bekannt waren (von einem slawischen Wort für „Flüchtling“). Allerdings konnte die karge Berggegend an der Küste die wachsende Zahl von tatsächlichen Flüchtlingen nicht ernähren, die eigentlich von der Regierung im fernen Wien bezahlt werden sollten, damit sie die Grenze zum osmanischen Bosnien verteidigten. Wegen ihrer chronischen Überschuldung sahen sich die Habsburger gezwungen, ein Auge zuzudrücken, wenn die Uskoken sich stattdessen als Wegelagerer und Piraten ein Zubrot verdienten. Den nächsten Grenzabschnitt in Richtung Norden bildete die kroatische Grenze um die Festung Karlstadt (das heutige Karlovac), die 1579 erbaut und nach dem innerösterreichischen Erzherzog Karl II. benannt wurde. Die dafür benötigten Mittel hatten die Landstände Innerösterreichs im Austausch für die im Brucker Libell gewährten Freiheiten bewilligt. Die Festung Karlstadt sicherte den Zugang zum Oberlauf der Save und verhinderte so einen osmanischen Einfall nach Krain. Die slawonische Grenze um Warasdin (Varaždin) an der oberen Drau wurde ebenfalls von den innerösterreichischen Ständen subventioniert, da sie das Herzogtum Steiermark schützte. Etwa die Hälfte der kleineren Posten an der Militärgrenze war in diesen beiden Sektoren konzentriert und mit Kolonisten besetzt, die auf Kronland siedeln durften und als Gegenleistung Milizdienst leisteten. Aus der habsburgischen Staatskasse erhielten sie nur wenig Unterstützung; vielmehr erwartete man von ihnen, dass auch sie die mageren Erträge ihrer Landwirtschaft durch gelegentliche Raubzüge jenseits der Grenze aufbesserten.

      Die ungarische Grenze war in drei Abschnitte geteilt. Der südlichste erstreckte sich von der Drau bis zur Südspitze des Plattensees (Balaton) und umfasste unter anderem die bedeutende Festung Kanischa (Nagykanizsa). Der mittlere Abschnitt verlief vom Plattensee nach Norden bis zur Donau und schwang sich dann in östlicher Richtung um den osmanischen Vorposten Gran herum, wo der Flussverlauf im beinah rechten Winkel nach Süden, und damit in Richtung Buda und Pest, abknickt. Dieser Teil der Grenze war der am schwersten umkämpfte, weil das Donaubecken beiden Parteien besten Zugriff auf das feindliche Territorium bot. Den Osmanen war daran gelegen, Buda als den Sitz ihrer Regierung und Verwaltung für Ungarn zu schützen – und als ein weit vorgeschobenes Hauptquartier für den Vorstoß nach Wien. Um solches zu vereiteln, ließen die Habsburger am östlichen Ende der Großen Schütt, einer riesigen, von zwei Flussarmen umschlossenen und daher nicht selten überfluteten Donauinsel, die Festung Komorn erbauen. Deren Schwesterfestung errichtete man bei Raab, etwa 40 Kilometer südwestlich von Komorn; so konnte der einzig praktikable Zugang nach Niederösterreich südlich der Großen Schütt bewacht werden. Die kleinere Festung Neuhäusel sicherte die Nordflanke Komorns, indem sie die Passage über den Fluss Neutra (Nitra) versperrte. Der letzte Abschnitt der ungarischen Grenze schließlich erstreckte sich ostwärts bis zur Theiß und der Grenze nach Siebenbürgen.