Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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sie als Erste eintreten. Wie in einen Tempel tritt sie über die Schwelle. Vorsichtig setzt sie einen Fuß vor den anderen, als befürchte sie, auf etwas Heiliges zu treten. Ihr Blick wandert die Wand des langen Korridors mit den Bücherregalen entlang.

      Wow, sagt sie. Das hätte ich nicht gedacht.

      Dass es bei mir auch Bücher gibt, fragt er.

      Nein, diese Ordnung! So müsste es bei mir einmal aussehen. Ich engagiere Sie für ein Wochenende zum Ordnen meiner Bibliothek.

      Er willigt ein.

      In der Küche stehen Pellkartoffeln und Spargel bereit. Beides hat sich auf der Platte und unter Folie einigermaßen warmgehalten. Aus dem Kühlschrank holt er den bereits auf einen Teller drapierten Schinken.

      Oh, Spargel mit Schinken, das habe ich noch nie gegessen.

       Sie werden sehen bzw. schmecken, wie gut das zueinanderpasst. Bei uns isst man das so. Sie können auch noch ein bisschen Hollandaise dazubekommen, allerdings nicht selbst gemacht.

      Sie nimmt an seinem Küchentisch Platz und schaut sich ausgiebig um.

      Hier gefällt es mir, sagt sie. Das viele Licht, der quadratische Raumschnitt, die Einrichtung – alles ganz nach meinem Geschmack. Und dann, als hätte sie sich zu weit vorgewagt, folgt eine etwas plumpe Einschränkung: Aber die postmoderne Wanduhr fällt für meine Begriffe etwas aus dem Rahmen.

      So? Er schaut sie an. Sie weicht seinem Blick aus, greift zum Besteck und sagt, indem sie sich Kartoffeln auffüllt: Ich darf doch?

      Sie essen schweigend, nur ab und an treffen sich ihre Blicke.

      Und dann geschieht etwas Unerwartetes.

      Ich schwitze, sagt sie, erhebt sich, fragt nach der Toilette und verschwindet. Als sie wieder heraustritt, scheint ihm, ihre Lippen seien soeben neu lackiert worden. Vor allem aber bemerkt er, dass durch ihre Bluse die Knospen ihrer Brüste deutlich hervorstechen.

      Sie muss ihren Büstenhalter abgestreift haben, denkt er.

      Sie nimmt wieder Platz und fragt provozierend: Und was gibt’s als Kompott?

      Er steht auf und sagt: Ich bin auf alles vorbereitet.

      Er will an ihr vorbei in die Kammer gehen, um sein letztes Glas Quitten zu holen.

      Schlagsahne dafür steht bereits fertig im Kühlschrank. Da berührt er im Vorübergehen wie versehentlich mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckt zusammen und schaut zu ihm auf. Und dann geht alles in Sekundenschnelle. Sie erhebt sich und wölbt sich ihm entgegen, er nimmt ihren Kopf in die Hände und küsst sie auf Stirn und Wangen, dann auf den Mund. Sie öffnet ihre roten Lippen. Er dringt mit seiner Zunge in ihn ein und kämpft mit der ihren, indessen seine linke Hand ihre Brust ertastet und beginnt, ihre Bluse aufzuknöpfen. Ihre Hände wandern tiefer, fassen seinen Gürtel und zerren den Riemen aus der Schnalle. Er hört, wie sie den Reißverschluss nach unten zieht. Während er sie in Richtung seines Schlafzimmers schiebt, fallen Stück für Stück alle Sachen zu Boden, bis sich beide nackt auf sein Bett werfen und hitzig lieben. Sie stöhnt auf, lässt die Arme zur Seite sinken und schließt die Augen. Er sucht mit seinen Lippen ihre straffen Brüste und gleitet schließlich neben ihr aufs Laken. Wie lange sie so liegen bleiben, will er gar nicht wissen. Er nimmt nur wahr, dass es bereits zu dämmern beginnt, als sie erwachen und sich in ihrer Nacktheit gegenseitig betrachten. Sie juchzt auf, er lacht, und dann fällt sie über ihn her und lässt ihn so schnell nicht wieder los. Irgendwann sammeln sie ihre Garderobe wieder auf, die über den Gang verstreut liegt, und treffen sich im Bad wieder. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, machen sie sich fertig, steigen ins Auto und holen den Koffer aus dem Mietzimmer. Sie zahlt den Preis für die Woche, und er wuchtet noch einmal den riesigen Kasten in seinen Kofferraum. Diese Woche wird er ihr Gastgeber sein, was auch immer sie sonst noch im Schilde führt. Und sie scheint diese Lösung als die einzig denkbare zu betrachten. Es wird eine Flitterwoche ohne Hochzeit.

      Den nächsten Tag fahren sie an die Ostsee und verbringen, nach seiner Erinnerung, den ganzen Tag am Strand, nahe des Gelben Moors. Früher galt der Platz als Geheimtipp für FKK-Bader, so geheim, dass sich die Reihe der hinter den Dünen lückenlos geparkten Autos über zwei Kilometer links und rechts des Schotterweges erstreckte. Nach dem Ende der DDR sorgt ein rühriger Stadtrat für konsequente Renaturierung im hinteren Strandbereich. Kein Auto kommt hier mehr hin. Stattdessen breiten sich über die Jahre hinweg wieder seltene Gräser und Sumpfpflanzen aus, sogar Orchideen sollen wieder zu finden sein. Der Anweg, der nun zu Fuß zurückgelegt werden muss, scheint den meisten Strandbesuchern zu beschwerlich. Während sich das Badevolk an anderen Stränden um zwei Quadratmeter Sand streitet, treffen sich am Gelben Moor nur vereinzelte Naturliebhaber und Tagesausflügler.

      Sie sind allein am Strand – und es gibt den ersten Streit. Sie hat am Wasser einen Stein gefunden, den sie ihm überreicht.

       Ist der nicht schön?

      Na ja, sagt er, es geht, eigentlich nichts Besonderes.

      Objektiv mag er recht haben. Diese Art Steine gibt es nahezu wie Sand am Meer, nur dass ihrer halt etwas größer ausfällt. Dass seine Besonderheit darin besteht, ihn von ihr geschenkt zu bekommen, versteht er nicht. Das kränkt sie. Ihm fällt ein, er hat ja noch nicht einmal ihr Geschenk ausgepackt, das sie ihm bei der Fahrt in seine Wohnung in die Hand drückte. Ein Gefühl von Scham meldet sich, das er nicht zulassen will und schnell wieder hinunterschluckt. Sie geht ein Stück allein hinter den Dünen entlang und bleibt lange für ihn unsichtbar. Als sie zurückkehrt, ist er eingeschlafen. Ihr Schatten weckt ihn auf.

      Bist du öfter so ein Kotzbrocken, fragt sie.

      Ja, sagt er. Und bist du öfter so schnell eingeschnappt?

      Ja, sagt sie.

      Einen Streit könnte man das eigentlich nicht nennen, wenn sich in den nächsten Wochen diese Szenen nicht wiederholten.

      Nach dieser ersten Unstimmigkeit bewegen sie sich schnell wieder aufeinander zu. Friedlich, als wäre nichts geschehen, sitzen sie wenig später beieinander, essen ihren Picknickkorb leer, trinken Rotwein unter wolkenlosem Sommerhimmel und lieben sich. Später liegt sie schlafend und der Sonne abgewandt auf der Seite. Er sitzt hinter ihr im Sand und hält ihre Umrisse mit Zeichenkohle in einem Block fest, den er, außer seinem Notizbuch, manchmal bei sich führt. Was für ein Körper! Diese Frau möchte er in allen Lagen und Stellungen zeichnen.

      Die Tage setzen sich auf ähnliche Weise fort. Theater und eine Bootsfahrt auf dem nahe gelegenen Brookensee, eine Wanderung in der Brookener Heide und ein Besuch des Klosters Melchen, ein Ausflug nach Litzenburg, das sie in Mecklenburg vermutet, obgleich es in Vorpommern liegt. Und immer wieder gibt es diese kleinen Störfeuer durch Unachtsamkeit. Die Kränkungen gehen jetzt tiefer, die Kommentare werden bissiger. Dazwischen Gespräche über Literatur und Politik, bei denen sie sich so nahe glauben, dass für Momente alles andere nebensächlich wird. Sie hat an ihr Geschenk nicht mehr gedacht. Er schnürt es am letzten Tag auf und findet in dem Papier eine Packung Sushi, die sich in den warmen Tagen zu einem stinkigen Brei verwandelt hat.

      Eine lange Woche endet mit einem nötigen Abschied.

      In den nächsten Monaten besuchen sie sich gegenseitig und telefonieren fast täglich miteinander.

      Als er das erste Mal zu ihr kommt, findet er in der Tat eine Wohnung vor, die für einen Ordnungsfanatiker wie ihn eine Lebensaufgabe böte. Nicht weniger Zeit und Einsatz würde ihr kleiner Garten beanspruchen, wollte man diesen wieder begehbar oder gar genießbar machen. Nur ihre Küche lässt eine gewisse Grundordnung erkennen. Das tröstet ihn. Aber der nächste Streit lauert schon hinter den Türen ihrer Vorratsschränke. Als er nämlich den Frühstückstisch decken will, findet er fünf verschiedene Mischungen von Müsli vor, mit Dinkel und Gerstenflocken und Amaranth, dazu Trockenobst und jede Menge Kräutertees. Der Kühlschrank ergänzt die Tafel mit Bio-Joghurt, Ziegenkäse und Sojamilch. Statt Kirsch- oder Erdbeermarmelade stößt er auf Quittenmus mit Ingwer. Eier, Wurst und Schinken – Fehlanzeige. Seine hinterhältige Nachfrage,