Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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wahr – hat er hier oft dienstlich zu tun. Mitarbeiter der hiesigen Stadtverwaltung unterstützen den Aufbau der Selbstverwaltung in seiner Stadt. Auf diese Weise lernt er hier nach und nach alle namhaften Hotels kennen und weiß deren Annehmlichkeiten zu schätzen. An die fünfzehn Mal mag er schon hier gewesen sein, ohne Katharina zu begegnen. Er hätte auch nicht gewusst, wo er sie fände noch einen Anlass gehabt, sich bei ihr zu melden. Das heißt, einmal sieht er sie doch. Untergebracht im Hotel Drei Linden, schlendert er am Abend noch einmal zum Bahnhof, um sich die neue ZEIT zu kaufen. Da steht sie, mitten im Weg, mit dem Rücken zu ihm und in inniger Umarmung mit einem Typen, den er der autonomen Szene zurechnen würde. Wenn ihm nicht eine ihrer typischen Kopfbewegungen verriete, dass sie es wirklich ist, würde er seiner Wahrnehmung misstrauen. Er schleicht sich seitwärts an den beiden vorbei. Als er aus dem Zeitungsladen wieder heraustritt, sind beide verschwunden. Später erzählt er ihr davon und erfährt, dass ihr damaliger Freund, ein grüner Stadtvertreter, sich damals endgültig verabschiedet hat. Sie habe nie wieder etwas von ihm gehört.

      Er stand vor dem Tresen im Dom-Hotel.

      Ich habe ein Zimmer bestellt auf den Namen Weber.

      Ein Blick in den Computer.

      Vier Nächte?

      Vier Nächte.

      Sie waren ja schon lange nicht mehr bei uns. Es hat sich nicht viel geändert. Die Frühstückszeit wie immer von sieben bis zehn. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt. Zimmer 42 haben wir für Sie reserviert.

      Damit reichte die Dame, dezenter geschminkt als Katharina, die Zimmerkarte herüber.

      In seinem Zimmer blickte er einmal rundherum, registrierte das edle Mobiliar und die beiden Stiche aus dem 19. Jahrhundert, die Minibar und die digitale Begrüßung auf dem Bildschirm, den weichen, moosgrünen Teppichboden und die indirekte Beleuchtung über der Bettkante, warf einen Blick ins Bad und ließ sich, so wie er war, aufs Bett fallen. Angekommen!

      Angekommen? Georg fiel wieder ins Grübeln. Bin ich schon einmal irgendwo angekommen? Bin ich nicht vielmehr eine Art Dauerreisender, immer unterwegs? Auf der Suche nach irgendetwas? Oder auf der Flucht vor etwas? Auf der Flucht vor jeder Art festen Gefüges, auf der Flucht vor fester Bindung, vor einer festen Ordnung, vor zu viel Alltag, vor verfestigten Ansichten? Muss man überhaupt irgendwo ankommen? Ist Ankommen nicht auch Stillstand und damit Ende, aus?

      Er kannte so viele, die scheinbar angekommen sind und mit denen nichts mehr anzufangen war. Endstation Familie. Eingerichtet, abgeschottet. Suchte man jemanden unter den alten Weggefährten für eine Aufgabe, für eine zeitlich begrenzte Aktion, eine Arbeitsgruppe, einen Ausschuss – tut mir leid, mein Job, meine Kinder, mein Garten, mein Haus, meine Hüfte, mein Hund …

      Ich will doch gar nicht ankommen, noch nicht. Und doch, im tiefsten Inneren, sehne ich mich schon danach, endlich einmal irgendwo anzukommen, einmal tiefe Geborgenheit zu erleben, zu irgendetwas mein zu sagen, eine Struktur zu haben, auf die ich mich verlassen kann. Ich komme mir vor wie ein Fisch, der, ständig auf Jagd nach Futter und selber als Futter gejagt, kurz auftaucht, um Luft zu schnappen und weiterzuschwimmen. Heute ist es diese, übermorgen eine andere, dann wieder meine Stadt oder mein Dorf. Und statt zu Hause einmal anzukommen, in meinem Dorf, wo ich seit Jahren wohne und wo mich kaum einer kennt, betrachte ich auch dieses immer nur als Zwischenstation. Aber zwischen was? Er legte sich auf die Seite und schlief ein.

      Ein unbekanntes, nervendes Schnarren riss ihn aus einem flüchtigen Traum.

      Hallo, hier ist Katharina, hörte er die geheimnisvoll rauchige Stimme. Ich wollte nur wissen, wann du morgen zu mir kommst. Ich würde dich zum Frühstück einladen, sagen wir halb zehn.

      So spät?

      Meinetwegen auch um neun. Aber früher bitte nicht.

      Okay. Ich werde um neun bei dir klingeln. Bis dann.

      So kurz wollte er gar nicht sein. Aber ihre Stimme rief in ihm ein Gefühl wach, dem er nicht nachgeben wollte. Der distanziertere Ton verlieh ihm mehr Sicherheit. Morgen müsste er auf der Hut sein.

      Draußen war es dunkel geworden. Er zog sich eine andere Hose an, schlüpfte wieder in seine Lederjacke und rief ein Taxi. Er ließ sich zum Grater fahren, wo er ein freundliches Restaurant kannte.

      Als er eine Viertelstunde später durch die Tür trat, stellte er beruhigt fest, nichts hatte sich geändert. Alles war so wie beim letzten Mal. Der Wirt begrüßte ihn freundlich, ohne dass abzulesen war, ob er ihn wiedererkannte. Erst als Georg in der hinteren Fensterecke, nahe dem Tresen, Platz nahm und der Wirt die Speisekarte brachte, sah er ein leises Flackern in seinen Augen, das ihn noch einmal besonders willkommen hieß.

      Wieder einen doppelten Espresso als Erstes, fragte der Wirt. Damit war es klar.

      Wie immer, antwortete Georg und musste lachen, als ihm der Wirt den Rücken wandte. Sechs oder sieben Jahre hatte er sich bestimmt nicht mehr hier blicken lassen.

      Er schaute sich genauer im Raum um. Die dunkle Täfelung der Wände schien ihm noch dunkler, die Lautrecs darüber zahlreicher geworden und näher zusammengerückt. Das warme Licht aus den gläsernen, mattgelben Kelchen reichte gerade so aus, um noch lesen und schreiben zu können. Er zog aus seiner Jacke, die er über den Stuhl geworfen hatte, ein kleines Heftchen und einen winzigen, aber umso dickeren Kugelschreiber und notierte Ankommen. Das Stichwort wollte er in den nächsten Tagen noch einmal gedanklich durchkauen.

      Zwei Tische weiter, aus einer Männerrunde, erscholl lautes Gelächter. Georg schaute hinüber. Sechs Männer, die meisten in dunklen Anzügen und weißen Hemden mit Krawatte, hoben ihre Weingläser und prosteten sich zu. Der Einzige, der kein weißes Hemd trug, drehte ihm den Rücken zu. Das Jackett hing über der Stuhllehne. Seine schwarzen Locken ließen in ihrer Mitte einen kleinen weißen Mond hervortreten. Er wandte sich um, sah in Georgs Ecke und drehte sich zurück. Im selben Moment wandte er sich blitzschnell noch einmal um und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Georg hin.

      Georg? Bist du es?

      Er sprang auf und kam an seinen Tisch. Georg stand auf und sagte: Carlo?

      Na klar, was denkst du denn? Was machst du hier in unserer Stadt? Und dann auch noch in unserer Plaka?

      Beide umarmten sich kurz, dann wurde Georg an den Nachbartisch entführt. Die anderen Herren erhoben sich der Reihe nach, indes Carlo ihnen Georg vorstellte: Das ist Georg Weber, einer der ganz wichtigen Leute aus der Stadt, in der wir Aufbauhilfe geleistet haben. Seinen Namen werden ja alle schon mal gehört haben. Er war sozusagen mein amtliches Gegenüber im Osten. Nimm bei uns Platz. Du bist natürlich mein Gast.

      Dann schaute er in die Runde und erzählte, wie Georg das erste Mal hierher kam. Damals war er eben Stadtrat für Schule und Kultur geworden, durch den Runden Tisch.

      Stellt euch vor, den alten SED-Stadtrat hatten die Revolutionäre fortgejagt. Das war – wann war das genau?

      Anfang neunzig, sagte Georg.

      Das war eine große Sache, fuhr Carlo fort. Der Georg musste ja die ganzen alten Mitarbeiter in seinem Ratsbereich übernehmen, die meisten SED.

      Alle, warf Georg ein.

      Und dann die Schuldirektoren und Kulturfunktionäre, kaum einer, der nicht der führenden Partei angehörte. Ihr könnt euch vorstellen, was für eine aussichtslose und doch irgendwie auch hoffnungsvolle Situation. Oder?

      Na ja, du darfst nicht unterschlagen, dass mir zwei ausgesprochen kompetente Frauen zur Seite gestellt wurden. Die eine, eine erfahrene Pädagogin, wäre unter anderen Umständen selber Schuldirektorin oder Stadträtin geworden. Die andere eine ehemalige Dramaturgin vom Stadttheater, die aus politischen Gründen rausgeflogen war.

      Aber trotzdem, sagte Carlo, wo hat es das schon gegeben! Das waren doch revolutionäre Vorgänge. So etwas kennen wir nur aus Büchern. Und du hattest doch keine Ahnung von Verwaltung, oder?

      Keinen Schimmer, sagte Georg. Das bisschen, was