Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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Tasche einen Spiralblock mit Kästchenpapier und einen dicken Kugelschreiber. Sie schaute zu ihm hinüber, lächelte zufrieden und begann mit ruhiger Hand, Seite um Seite vollzuschreiben.

      Damals, inmitten dieses gackernden Harems, war an Schreiben nicht zu denken.

      Aber dann, noch bevor der Zug in den Brüsseler Central-Bahnhof einfährt, stehen die Damen aus Köln in ihren Mänteln, die Frisuren gerichtet und das Handgepäck geschultert, im Gang. Nur die Seegrasmatratze schaut noch einmal ins Abteil zurück und hebt die Hand, ehe alle aus dem Zug stürzen und sich, auf dem Bahnsteig angekommen, in die Arme fallen, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen.

      Georg weiß, der Zug fährt nicht weiter. Er nimmt sich Zeit, seine Sachen zusammenzusuchen. Die Apfelsinenschalen von Tante Veros Obstbeutel verschwinden im Behälter neben dem kleinen Klapptisch, der Collin in der Seitentasche seines Reiseköfferchens. Er schlingt seinen Schal um den Hals, fährt in seinen Mantel, setzt seine Mütze auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und schnappt sein Gepäck. Als er auf dem Bahnsteig steht, ist weit und breit kein Mensch zu sehen.

      Reisen. Georg begann zu grübeln. Warum verlässt jemand den Ort, wo er alles zum Leben Nötige hat: ein Bett, in dem er gut schlafen kann, eine Küche, in der er sich zurechtfindet, ein Fenster, wo irgendwann am Tag die Sonne verweilt, den Ort, wo ihm Musik und Bücher griffbereit zur Verfügung stehen? Warum begibt sich jemand woandershin, wo es vielleicht viel zu heiß ist oder dauernd regnet, wo es viel zu laut zugeht, auch noch in fremder Sprache, wo man ein zu kurzes Bett vorfindet, seltsame Speisen verzehren muss und wo die Sehnsucht nach dem Vertrauten stündlich steigt?

      Reise ich eigentlich aus Neugier? Oder ist es eher eine Sucht, die mich von Zeit zu Zeit die Koffer packen lässt?

      Ariane spottete manchmal schon, es sei wohl wieder so weit, dass er Abstand suchen müsse. Vielleicht auch ein Reflex, nach vierzig Jahren Reiseeinschränkung, wobei ich ja schon zu denen gehöre, die bereits vor dem Mauerfall eine Ahnung von der Welt hinter der Grenze bekamen.

      Mauerfall? Inzwischen zum irreführenden Terminus technicus wie Wende geworden. Als ob es sich um eine alte, brüchige Mauer gehandelt habe und nicht um eine tödlich-gefährliche Betonwand, mit Stacheldraht und Panzersperren und Hundelauf und Wachtürmen und Scheinwerfern und schießbereiten Patrouillen … So etwas fällt nicht einfach ein. Wenn es da nicht innerhalb des ummauerten Gebietes einen Aufstand gegeben hätte! Wollen Begriffe wie Mauerfall und Wende vergessen machen, dass wir eingesperrt waren und dass wir selber etwas für unsere Befreiung getan haben?

      Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Da waren sich die propagandistisch geschulten SED-Funktionäre und der Verfasser des 37. Psalms einmal einig. Der Harz sei doch auch sehr schön, und man wandere dort auf den Spuren bedeutender Vordenker der sozialistischen Gesellschaft. Dass Goethe, Heine und viele andere den ganzen Harz bereisen, auf den Brocken wandern, Goslar und Bad Harzburg, was später zum Westen gehörte, besuchen konnten, blieb unerwähnt. Nein, wir hätten doch genug Abwechslung und Naturschönheiten im eigenen Lande: das Vogtland mit seiner hügeligen Weite, die Lausitz mit Bieleboh und Czorneboh, den Spreewald, der über Wasserstraßen verfüge wie Venedig, die Mecklenburger Seenplatte mit ihren Zeltplätzen, die Ostsee von Boltenhagen bis Usedom und den Fernsehturm in Berlin. Solle man das doch alles erst einmal richtig kennenlernen, ehe man in die Ferne strebe. Wer seine Heimat nicht kennt, ist überall ein Fremder.

      Er erinnerte sich, manche getroffen zu haben, die das plausibel fanden.

      Die alte Frau von Neuendorf auf Hiddensee fiel ihm ein, die der Pfarrer einmal gefragt hatte, ob sie denn in ihren 85 Jahren auch einmal verreist sei. Ja, hatte sie geantwortet, einmal. Und wo waren Sie da, wollte er wissen. In Kloster, sagte sie, dem keine acht Kilometer entfernten Dorf im Norden der Insel.

      Wollten sie uns nicht so haben, so bedürfnislos? War es nicht gerade das, was ihn immer gestört und empört hatte? Dieser sogenannte Arbeiter- und Bauernstaat war zu einer Insel in der Brandung feindlicher Mächte geschrumpft, zu denen spätestens seit 1980 auch Polen zu gehören schien, ab 1985 sogar die Sowjetunion. Bewegte man sich innerhalb dieses abgegrenzten Gebietes, und das möglichst vorschriftsmäßig, konnte man seinen kleinen Freiraum zur Welt erklären. Die Inselmentalität steckte an und entwickelte eine Art Schicksalsgemeinschaft: wir gegen die böse Welt. (Es gab Leute, die, obwohl sie nicht in der Partei waren, allen Ernstes behaupteten, Wojtyla sei einzig und allein zum Papst gewählt worden, damit er den Kommunismus besiege und Gorbatschow sei ein Lakai des amerikanischen Imperialismus und römischen Klerikalismus. Das klang nach Propagandafloskeln wie Volk ohne Raum oder jüdisch-bolschewistische Verschwörung, mit denen die Nazis gesunden Menschenverstand infizierten.)

      Warum bin ich auf diese Art Propaganda nie hereingefallen, fragte sich Georg. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit bemächtigte sich seiner, nicht in einer Funktionärsfamilie aufgewachsen zu sein, sondern in einem Elternhaus, das eine weltbürgerliche Prägung besaß, wo außer den Grenzen des Anstands und der – allerdings nicht sehr weitherzig verstandenen – Zehn Gebote keine Grenzen Gültigkeit zu haben schienen, geistige schon gar nicht. Vielleicht, sagte er sich, bin ich auch durch die Chorreisen auf den Geschmack grenzüberschreitender Bedürfnisse gekommen.

      Da hieß es irgendwann einmal, zurzeit werde eine Konzertreise nach Spanien vorbereitet. Madrid, Sevilla, Cordoba, Granada, Zaragoza, Barcelona waren Städte, mit denen er Bilder aus dem vielbändigen Lexikon seines Vaters verband. Nächtelang träumte er sich durch die großen Städte am Mittelmeer und im Landesinneren, durchstreifte endlose Apfelsinenhaine, besuchte den Prado und die Alhambra und erweckte zum Leben, was er gelesen hatte – bis zu dem grausamen Erwachen, als das ganze Vorhaben am Veto der ausschlaggebenden Genehmigungs- bzw. Verhinderungsbehörde der DDR scheiterte. Die Furcht, ein Teil der älteren Chormitglieder könnte sich unmittelbar vor der Rückreise heimlich absetzen, hatte wohl den Ausschlag gegeben. Etwas aber blieb zurück in ihm, ein sanft gewecktes Sehnen nach Süden und Sonne und Exotik, was alles zusammen Freiheit hieß, und nach grenzenloser Kunst, ein Sehnen, das nie mehr verschwinden sollte, das in seinem Unbewussten ankerte und sein Traumleben immer wieder kaleidoskopartig beflügelte – bis er 1980 zum ersten Mal das Mittelmeer sah, und das gleich sechs Stunden lang.

      Georg seufzte in sich hinein. Wie viele mögen in diesen 40 Jahren der Selbstisolation von der Welt da draußen geträumt haben? Oder wäre es leichter zu fragen: wer nicht? Träumten nicht auch die, die von der bösen Welt jenseits der Grenzen sprachen und dieses manchmal lächerliche Ländchen bis aufs Blut verteidigen zu wollen vorgaben, träumten nicht auch sie manchmal von eben dieser verbotenen Welt und bissen im Traum, der ja der Kontrolle des Bewusstseins entzogen war, in die Frucht vom Baum der Erkenntnis, die ihnen von einer nackten Frau gereicht wurde, um dann schweißgebadet zu erwachen und einen Tag mit eingezogenem Schwanz herumzulaufen in der stillen Hoffnung, diese Untat würde den Göttern ihres kleinen Paradieses und seinen Racheengeln entgangen sein?

      Er wollte nicht nur von Reisen träumen können, er wollte reisen können. Zum Beispiel mit dem Zug durch Europa, was heute ein Genuss wäre. Damals konnte Zug fahren eine Strafe sein. Aber nicht das Reisen um jeden Preis – heute würde man sagen für jeden Preis – glaubte er einfordern zu müssen, sondern die Freiheit dazu. Allein das Reisenkönnen würde vielen den Alltag in der DDR, über den die herrschende Partei ihre Ideologie wie das Netz eines Vogelstellers gebreitet hatte, das sie mehr und mehr zusammenzog, erträglicher machen. So blieb dem Gros der Sehnsüchtigen, die das letzte Risiko nicht eingehen wollten, nur die tägliche virtuelle Flucht in den Westen, seitdem der Empfang der gegnerischen Fernsehsender toleriert wurde.

      Georg schaute auf und lächelte. Der Zug raste erneut durch ein Regengebiet. Das Wasser klatschte an die Scheiben und verwischte jede noch so dürftige Aussicht.

      Wer sollte da nicht vom Mittelmeer träumen, seufzte er in sich hinein.

      Aber da war noch etwas anderes, das ihn seit seiner ersten Westreise nach dem Mauerbau nicht mehr losgelassen hatte. Es war die Erfahrung der Außenansicht.

      1981 kommt er ins Gespräch mit einem Dozenten der Technischen Universität in Dresden, der gerade von einem Kongress in Kopenhagen zurückgekehrt ist und sagt, jetzt könne er verstehen, warum die DDR-Führung