Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

Читать онлайн.
Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



Скачать книгу

fragt Georg zurück, Sie sind doch auch wiedergekommen?

      Ja gut, sagt er, bei ihm sei das etwas anderes, er habe Familie und einen tollen Beruf und Haus und Garten.

      Und Georg erwidert: Jeder hat etwas, das er nicht gern aufgeben würde. Die meisten haben Familie, Eltern oder Kinder, die sie nicht im Stich lassen wollen, oder gute Freunde, Sportkameraden oder Chorsänger, ihre Arbeitsstelle mitsamt den Kollegen und eine Wohnung, die sie sich nach ihrem Geschmack und von ihrem eigenen Vermögen eingerichtet haben. So etwas gibt man doch nicht einfach auf. Wer weiß, dass er jederzeit wieder reisen darf, kommt auch wieder zurück. Im Übrigen habe er in Belgien hinter all dem Glanz und Reichtum auch mitbekommen, wie manche Menschen um ihre Existenz kämpfen müssten. In einer grenzfreien Welt könne ja jeder selber entscheiden, ob er der Grundsicherung in der DDR den Vorzug geben wolle zu dem Preis von Mangelwirtschaft und geistiger Enge oder der westlichen Freiheit zum Preis sozialer Unsicherheit. Er glaube, die meisten kämen wieder. Der Dozent schüttelt heftig mit dem Kopf und zeiht ihn töricht und naiv. Wenn die DDR das zuließe, wäre sie bald nicht mehr die DDR.

      Na und, sagt Georg.

      Da bricht sein Gegenüber das Gespräch ab.

      Das Lästige beim Reisen sind die Reisenden selber, beschloss er für sich, als er eben erneut von einem Rucksack getroffen wurde.

      Danke, sagte Georg, Sie könnten etwas umsichtiger mit Ihrem Gepäck umgehen.

      Der junge Mann wandte sich um: Sorry, tut mir leid.

      Georg sah in zwei freundliche, unschuldige Kinderaugen in einem bärtigen Gesicht.

      Während, nach kurzem Halt irgendwo, der Zug wieder anfuhr, schlief Georg ein.

      Eine braunlederne Umhängetasche locker über die Schulter geworfen, betritt er in seinem schwarzen Cordanzug mit den Jeansknöpfen, schüchtern und neugierig zugleich, den Raum, in dem bereits die Tagungsteilnehmer und -teilnehmerinnen versammelt sind. Alle sind rot gekleidet, rote Hosen, rote Röcke, rote Sakkos, rote Blusen, rote Krawatten, rote Socken, rote Schuhe. Und alle schauen ihn an als wollten sie sagen, hier gehörst du nicht her. Einer ruft: Ist das der Heini aus der DDR! Georg geht unsicher zum Podium und erklärt der Tagungsleiterin – roter Pullover, rote Jeans, rote Socken, rote Hackenschuhe – sein Zug habe Verspätung gehabt. Sie wendet sich um und schaut ihm direkt ins Gesicht. Ach, du bist das, sagt sie und schüttelt den Kopf, wobei ihre sorgfältig gelegten Locken durcheinandergewirbelt werden. Ihre grünen Augen und ihr spöttischer roter Mund dagegen sagen etwas anderes, das er wie eine geheimnisvolle Einladung empfindet. Plötzlich verwandelt sich ihr Gesicht. Eine Frau mit chinesischen Gesichtszügen schaut ihn durchdringend an, die eben noch blonden Locken sind zu kurzen, strähnigen, pechschwarzen Fransen mutiert. Mit einem riesigen Pinsel tupft sie fremde Schriftzeichen auf ein Papier, reicht es ihm und sagt etwas, das wie Ming Xiahung klingt, es könnte aber auch Mao Zedong oder Deng Xiaoping heißen. Die Tür springt auf, und zwei chinesische Polizisten fragen ihn in unverfälschtem Sächsisch, ob er der Vogel aus der DDR sei. Als er bejaht, legen sie ihm Handschellen an und zerren ihn aus dem Raum. Im Hintergrund hört er die Tagungsteilnehmer begeistert auf die Tische trommeln. Draußen vor der Tür spricht der eine Polizist chinesisch, der andere übersetzt für ihn, und diesmal akzentfrei hochdeutsch, sie hätten den Auftrag, sein Herz der Parteiführung zu überbringen, aber es müsse noch warm sein und schlagen. Gäbe er ihnen die 100 D-Mark seiner Tante und die 100 der Oberin vom Krankenhaus dazu, würden sie ihn laufen lassen und ein Katzenherz abliefern. Er fasst in seine Innentaschen, findet aber nur Papiertaschentücher vor. Auch in seinen Hosentaschen – nichts als Papiertaschentücher. Bleiben noch die Außentaschen der Jeansjacke, und auch da nichts als Papiertaschentücher. Er will laut aufschreien: Das kann nicht sein, man hat mich bestohlen …!

      Er wachte auf, mit der rechten Hand in der Innentasche seiner Lederjacke kramend.

      Suchen Sie etwas, fragte lächelnd die Krümelfrau über den Gang hinweg.

      Ja, das heißt nein, das heißt doch, ich …

      Sie müssen geträumt haben, sagte die Frau. Und eben haben Sie wie wild alle Ihre Taschen durchsucht, als ob Ihnen etwas verloren gegangen wäre. Blöder Traum?

      Blöder Traum, bestätigte er, während er in der anderen Innentasche sein Portemonnaie fand, herauszog und prüfte, ob seine EC-Karte noch vorhanden sei. Lächelnd steckte er es zurück, schüttelte den Kopf und sagte zu ihr hinüber noch einmal: Wirklich, ein blöder Traum.

      Ein elektronisches Klangzeichen, dem Gongschlag im Kino nicht unähnlich, kündigte eine Lautsprecheransage an. In wenigen Minuten erreiche der Zug den Bahnhof, den Georg als Zielbahnhof gelöst hatte. Man bedanke sich für das Vertrauen in die Deutsche Bahn, hoffe, alle seien mit dem Begleitservice zufrieden gewesen, man wünsche einen guten Aufenthalt und freue sich, wenn die Deutsche Bahn die Reisenden, die jetzt den Zug verließen, demnächst erneut an Bord begrüßen dürfe.

      Georg grinste. Dieses Eisenbahntheater gab es damals bei uns nicht. Der mangelnde Komfort der Züge hätte es auch kaum gerechtfertigt. Aber von A nach B kam man auch ohne Zugbegleitservice, ohne den Reisesegen der Deutschen Bahn und ohne Anleihe aus dem Seefahrtsvokabular. Und wenn es sich um einen D-Zug handelte, konnte es damals sogar vorkommen, man fand einen respektablen Speisewagen vor mit einer Küche, in der noch richtig gekocht wurde.

      Der Zug drosselte die Geschwindigkeit und kam wenig später zum Stehen. Die Krümelfrau steckte ihr Buch in die Tasche, erhob sich, zog sich eine lange Patchworkjacke aus verschiedenfarbigen Lederstreifen über und setzte sich eine blaurot geflammte Filzmütze so tief ins Gesicht, dass sie ihre Brille wieder richten musste. Sie fahren weiter, fragte die Krümelfrau.

      Nein, sagte Georg, ich steige nur gern als Letzter aus.

      Na denn tschüss, sagte sie und lächelte ihn an.

      Er erwiderte den Gruß, fuhr in seine schwarze Lederjacke, legte sich den Schal um den Hals und setzte seine Leninmütze auf. Dann griff er seine Tasche und ging langsam zum Ausgang. Er verließ den Wagen so, dass er gerade noch den hereinstürmenden Neureisenden zuvorkam. Die große Bahnhofshalle sah sauberer aus als der Bahnhof in seiner Stadt. Elektrokarren fuhren surrend an ihm vorbei, ein Fahrrad, von einem jungen Mann geschoben, streifte ihn.

      Sorry, wie immer. Eine Gruppe junger Leute stand heftig diskutierend beieinander, ehe sie wie ein Schwarm aufgeschreckter Tauben zu einem anderen Bahnsteig flog.

      Er ging zum Haupteingang und hielt die Nase in die Luft. Syb, sein holländischer Freund, hatte ihm einmal gesagt, immer, wenn er neu in eine Stadt komme, erkunde er zuerst mit der Nase, wonach sie rieche. Das sei mitunter ein treffenderes Alleinstellungsmerkmal als der Blick auf den Bahnhofsvorplatz oder ein hoher Kirchturm und helfe zugleich anzukommen. Er hatte diese Angewohnheit übernommen und inzwischen zu einer gewissen Perfektion gebracht.

      Es roch, wie in jeder Stadt, zuerst nach Abgasen, vor allem Diesel. Dann aber tat sich ein anderer Geruch hervor, den er aus seiner Kindheit kannte. Er konnte ihn nicht identifizieren, war sich aber sicher, Wölkchen davon in seinem Geruchsgedächtnis gespeichert zu haben, etwas säuerlich und dumpf, aber durchaus angenehm. Es würde ihm sicher noch einfallen. Niemand erwartete ihn hier, zumindest nicht auf dem Bahnhof. Das war einmal anders, vor bald zehn Jahren.

      Wenn er Katharina besucht, eine Journalistin, die er schon seit 1990 kennt, in die er sich aber sieben Jahre später verliebt, steht sie am Ende des Bahnsteigs und lächelt ihm mit kräftig geschminkten Lippen entgegen. Dann verlangsamt er seinen Schritt, dreht sich mehrfach um, schaut umher, als sähe er sie nicht. Dann stürzt er auf sie zu, lässt kurz vor ihr sein Gepäck fallen, breitet die Arme und fällt ihr um den Hals. Mehrfach dreht er sich mit ihr um die eigene Achse. So theatralisch die Geste auf Umstehende wirken muss, so sehr bringt sie doch seine wirkliche Freude über das Wiedersehen zum Ausdruck. Dann folgen lange, saftige Küsse. Diese Lippen! Auch wenn sie beide danach ganz verschmiert aussehen und sich gegenseitig mit Papiertaschentüchern bearbeiten müssen, ehe sie sich ins Stadtgewimmel wagen, jedes Mal schlägt sein Herz dabei wie bei einem verletzten Vogel. Dann greift er nach seiner Tasche, nimmt sie in die linke Hand und legt den rechten Arm um ihre Taille, bis sie vor ihrer Tür stehen bleiben.