Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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informieren – für mich heißt das vor allem viel Vortragsarbeit – und den Medien sowie der Zeitgeschichtsforschung die Materialien zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus arbeiten wir mit uns bekannten Privatarchiven zusammen und vermitteln Kontakte für Doktoranden. Carlo wollte wissen, ob Georg denn auch mit Stasi-Unterlagen zu tun habe.

      Das sei Angelegenheit der Gauck-Behörde, erklärte Georg, die die Stasi-Archive verwalte und für die gesetzlichen Zwecke aufbereite. Es komme aber vor, dass Betroffene Kopien ihrer eingesehenen Unterlagen der Landesstelle zur Verfügung stellen. Dann würden diese in einer gesonderten Abteilung aufbewahrt.

      Wozu das? Einer aus der Männerrunde, ein korpulenter, gemütvoller Typ, der das Gespräch bisher interessiert verfolgt hatte und immer vor sich hin lächelte, vermochte darin keinen Sinn zu sehen.

      Georg berichtete, die Landesstelle könne etwas, was die Gauck-Behörde nach ihrem gesetzlichen Auftrag nicht leisten könne, sie führe und protokolliere Gespräche sowohl mit Betroffenen, die unter staatlicher Repression gelitten haben, als auch mit ehemaligen Parteifunktionären und hauptamtlichen Stasimitarbeitern, soweit die dazu bereit seien. Auf diese Weise sichere sie eine Fülle von Insiderwissen und Spezialkenntnissen, die der Zeitgeschichtsforschung zugutekämen. Gelegentlich komme es sogar vor, dass sich Opfer und Täter, er sage lieber Betroffene und Verantwortliche, im Beisein seiner Mitarbeiter zu einer Gegenüberstellung bzw. zum Gespräch bereitfänden. Er hoffe, auf diese Weise könne die Landesstelle einen kleinen Beitrag zur innergesellschaftlichen Versöhnung leisten, auch wenn das nicht ihr Hauptzweck sei.

      Heidenreich nahm noch einmal das Wort und erklärte, nach seiner unmaßgeblichen Meinung würde es langsam Zeit, nach vorn zu blicken und diese DDR-Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Es gebe so viele Gegenwartsprobleme, die alle Kraft und Ressourcen erforderten, dass man sich so viel Rückwärtsgewandtheit bald nicht mehr leisten könne, zumal sie unnötig Steuergelder verschlinge.

      Damit entfachte er einen heftigen Wortwechsel, bei dem bald nicht mehr auseinanderzuhalten war, wer welche Meinung vertrat, weil einer dem anderen ins Wort fiel. Georg, der solche Auffassungen kannte, hörte von Verantwortung der SED-Funktionäre reden, von Unrecht, das benannt werden müsse und von Unrecht, dass auch heute geschehe, von Untersuchungshaftanstalten der Stasi und von der verschleppten Aufarbeitung der Nazizeit. – Bei uns gibt es auch Geheimdienste, hörte er einen sagen. – Denk mal an Guillaume und Willy Brandt, gab einer zurück. – Warst du mal in Hohenschönhausen? – Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. – Absolute Freiheit gibt es so wenig wie völlige Gerechtigkeit. – Alles muss einmal ein Ende haben.

      Stichworte prallten an Georgs Ohren: IMs … verdeckte Ermittler … Stolpe … Bautzen … KGB … Putin … Schröder … Gazprom … Mossad … Vatikan … OSA …

      Forelle, die Herren, sagte der Wirt und ließ eine Platte nach der anderen von seinem Arm auf den Tisch gleiten. Eine weitere Ladung Forelle folgte.

      Guten Appetit die Herren. Noch Getränke gewünscht?

      Und während der Wirt mit der Bestellung abzog, breitete sich genüssliches Schmatzen aus. Egon, bring mal zwei Teller für die Knochen, rief Carlo. Der Wirt brachte zwei fischförmige Grätenteller und stellte erneut je eine Flasche weißen und roten Wein auf den Tisch.

      Als das Gespräch wieder anhob, ging es um die bevorstehende Stadtvertretersitzung und den Umgang mit der Linken. Georg lehnte sich zurück, genoss den fruchtigen Wein und beobachtete die Gestik der Männer. Ab und an wandte sich Carlo zu ihm und fragte etwas. Wie geht’s deiner Frau? Was macht Bernhard? Bist du demnächst wieder mal hier? Wir sollten mal einen Abend ausmachen, wo wir Zeit füreinander haben, so wie damals.

      Es mochte zehn sein, als Carlo unvermittelt aufsprang und sagte: Meine Herren, die Sitzung ist beendet.

      Die Männer lächelten müde, kannten den Spruch wohl schon. Man verabschiedete sich freundlich.

      Carlo fragte Georg: Wo wohnst du?

      Dom-Hotel!

      Gute Wahl, sagte er und im Hinausgehen: Man sieht sich.

      Den Gruß an seine Frau und den Dank für die Einladung schien er schon nicht mehr zu hören. Für einen Moment setzte sich Georg noch einmal nieder, goss sich den Rest aus der Rotweinflasche ein und zog erneut sein kleines Heft aus der Tasche. Irgendetwas wollte er aufschreiben, einen Gedanken aus dem Gespräch. Aber er hatte ihn vergessen. Er steckte sein Heft wieder ein, zog seine Lederjacke an, wand sich den Schal um den Hals, nahm seine Mütze in die Hand und verabschiedete sich von dem Wirt.

      Der Grater lag unter einem dünnen Nebelschleier, der von der Weihe herüberzog und die Lichter vor den Lokalen mit einem glitzernden Hof umgab. Dazwischen bewegten sich schemenhaft Gestalten, wie in einem Schattenspiel.

      Im Hotel angekommen, griff sich Georg im Vorbeigehen seinen Zimmerschlüssel, den die Nachtdame bei seinem Erscheinen in der Windfangtür umsichtig auf den Tresen gelegt hatte, und begab sich zum Fahrstuhl, der gerade offen stand. Ihm schien, er habe soeben erst den Knopf gedrückt, als die Etagenanzeige auf vier stehen blieb und die Glastür, begleitet von einem Klingelzeichen, fast geräuschlos in der verspiegelten Seitenwand verschwand. Der dicke Teppichbelag auf dem Flur schluckte jeden Schritt. Auch mit harten Sohlen und gewollt festem Auftreten würde er sein Zimmer erreichen, als ob er schliche. Er steckte seine Karte in den Schlitz des Türaufsatzes, ein leises Klicken, der Drücker senkte sich unter seiner Hand und öffnete die Tür. Im gleichen Moment sprang das Licht in Flur und Schlafraum an. Wie sympathisch, dachte er, kein Tasten nach einem Schalter, eine gute Erfindung für ängstliche Menschen wie ihn, die im Dunkeln misstrauisch werden. Er legte Jacke und Mütze ab und lümmelte sich vor den Fernseher. Aber alle Programme schienen sich verabredet zu haben, ihn mit Langeweile zu strafen. Er entschied sich für das Bett, konnte dann aber doch lange nicht einschlafen.

      Bilder tauchten auf, angeregt von seiner morgigen Begegnung.

      Er wartet neben der Diesellok an der Treppe und sieht, wie sie sich mit einem riesigen Koffer aus dem Zug quält. Er will ihr zu Hilfe eilen, aber da steht sie schon auf dem Bahnsteig, entdeckt ihn und lacht ihm mit knallroten Lippen entgegen, dabei wischt sie sich mit einer theatralischen Geste den imaginären Schweiß von der Stirn. Jahrelang haben sie nichts voneinander gehört, allenfalls übereinander. Einmal kommt ein Foto: Katharina, auf der Treppe sitzend, neben einer blühenden Rose in ihrem kleinen verwilderten Gärtchen. Alles Gute zum Neuen Jahr! Er bedankt sich artig, aber den stillen Wink übersieht er. Dann eines Tages ein Anruf.

       Hallo, Herr Weber, ich bin nächste Woche in Ihrer Stadt. Ich würde Sie gern mal wieder sehen. Mögen Sie?

      Ja, er mag.

       Wo werden Sie denn wohnen?

       Ich habe mir ein Zimmer in der Westvorstadt gemietet. Vielleicht haben Sie ja Lust, mich vom Bahnhof abzuholen und da hinzufahren. Bei der Gelegenheit machen wir ein Treffen aus.

      Nun steht er einer mehr als verlegenen Katharina Stein gegenüber, die mit einem Schwall von Nebensächlichkeiten ihre Aufregung wegzureden bemüht ist. In allem, was sie erzählt, findet er nichts, worauf er weiterführend reagieren könnte. Er nimmt sich des mächtigen Koffers an, zerrt ihn die Stufen herab und quält ihn auf der anderen Seite wieder hinauf. Sein Auto steht im Parkverbot direkt vor dem Bahnhof. Niemand nimmt Anstoß. Als er das Hauptgepäck in den Kofferraum gewuchtet und das übrige auf den Hintersitz geworfen hat und beide selber im Auto sitzen, schauen sie sich zum ersten Mal richtig in die Augen. Ihm stockt der Atem. Unter ihren dunklen Augenbrauen schauen ihn leuchtende, wasserblaue Augen wissend an. Er startet und bittet sie, sich anzuschnallen. Unterwegs macht er den Vorschlag, sie solle doch lediglich ihr Quartier inspizieren und ihren Koffer abstellen, dann wolle er sie gleich mit zu sich nehmen, wo er ein kleines Mittagessen vorbereitet habe. Sie ist einverstanden. An ihrem Quartier angekommen, besteht sie darauf, den Koffer allein ins Haus zu rollen. Er wartet im Wagen.

      Nettes Zimmer, sagt sie, als sie wenige Minuten später wieder im Auto sitzt. Hier, das ist für Sie. Dabei reicht sie ihm ein Päckchen, das sich wie eine Pralinenschachtel anfühlt, in eine Art Packpapier gewickelt und mit einem Strick verschlossen.