Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

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Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



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Dasein. Da gab es Sitzecken, wo man einen Espresso trinken oder ein Bio-Würstchen vertilgen konnte, pralle Obst- und Gemüsestände, eine Spielecke für die Kleinen, und die eben nicht in der Ecke.

      Er stellte sich vor, er würde die Reformdame jetzt um einen Espresso bitten. Einen Espresso, würde sie sagen, wir führen nur Zichorienkaffee, und zubereiten müssen Sie sich den schon zu Hause.

      Sie schob ihm ihr farbloses Ergebnis hinüber.

      Er zahlte und sagte Ciao. Eine Antwort unterblieb.

      Fünf nach neun öffnete Katharina, ungeschminkt, die Tür.

      Hans Georg Weber, pünktlich wie immer, sagte sie, was Bewunderung und Ironie sein konnte.

      Komm rein, leg ab. Du weißt ja, wie du in die Küche kommst. Ich geh schon vor.

      Damit verschwand sie im Halbkeller. Er kam ihr die dunkle Treppe nach. Seine Augen mussten sich auf Zwielicht einstellen, kaum dass er die Küche betrat. Er schaute sich um, es hatte sich nichts verändert: Das Sandgrau des Küchenschrankes, der bis zu der niedrigen Decke reichte, war vielleicht weiter nachgedunkelt, das grüne Riffelglas in seinen Türen fiel stärker ins Auge, als ihm erinnerlich war, die Kacheln des Fußbodens hatten den Farbton von Klinkern angenommen, die grün gestrichene Stirnwand gegenüber dem einzigen Fenster zeigte über dem Herd dunkle Wrasenspuren. Das konnte auch alles schon so gewesen sein, als er das letzte Mal hier saß. Auch aus dem immer vollen Abwaschbecken quoll wieder das Geschirr der letzten Tage. Dann aber sahen seine überraschten Augen etwas, womit er bestimmt nicht gerechnet hätte. Auf dem für Katharinas Verhältnisse sorgfältig gedeckten Tisch mit einer etwas löcherigen grauweißen Decke, mit brennender Kerze und einem Strauß geschnittener Alpenveilchen, standen all die Dinge, derer er sich seit drei Jahren enthielt: Lachsschinken und fetter Camembert, Erdbeermarmelade und Griebenschmalz, Leberwurst und Weizenbrötchen. Er musste lachen.

      Das hätte ich dir vielleicht vorher sagen müssen.

      Was?

      Dass ich inzwischen zum Bio-Freak mutiert bin.

      Du?

      Ja, ich. Ich habe seit Jahren immer mal Probleme im Oberbauch. Meine Hausärztin hat mir geraten, meine Ernährung umzustellen. Inzwischen ist das für mich ganz selbstverständlich. Ich habe mich schon auf deinen Bio-Frühstückstisch gefreut. Das tut mir jetzt leid.

      Ja, allerdings, das ist doof, sagte sie. Es hat mich schon einige Überwindung gekostet, das Zeug zu kaufen. Aber ich habe neuerdings einen Studenten zur Untermiete. Ich glaube, bei dem werde ich das alles wieder los. Räumen wir’s also wieder weg.

      Und damit begann sie, den Tisch von allem gesundheitsschädigenden Unrat zu befreien und alles zusammen in einer großen Dose im Kühlschrank zu verstecken. Dafür kamen jetzt die bei ihr üblichen Alternativen zum Vorschein: Ziegenkäse, Quittenmus, Tomaten-Pfeffer-Paste und Akazienhonig. Das Ghee, das er ihr mitgebracht hatte, durfte stehen bleiben.

      Möchtest du vielleicht ein Ei, Bio natürlich.

      Er bejahte.

      Sieht doch auch ganz gut aus, sagte er und freute sich, als sie auch noch Dinkelbrötchen vom Vortag aus einer Tüte zauberte.

      Sie schaute ihn lange an, ehe sie fragte: Wie geht es dir?

      Danke, sagte er, außer diesen gelegentlichen Beschwerden im Oberbauch geht es mir ganz gut.

      Du wolltest nicht, dass ich zu dir komme, obwohl ich ja eigentlich ein Anliegen hatte. Sollte ich deine Frau nicht kennenlernen?

      Er überlegte einen Moment. Nein, ich glaube, dagegen hätte ich nichts. Ich vermute allerdings, dass ihr euch schwer anfreunden würdet, nicht, weil sie nicht von dir wüsste, auch nicht, weil sie von dir weiß, sondern weil sie in mancherlei Hinsicht so ähnlich ist wie du. Und wie, glaubst du zu wissen, bin ich?

      Zumindest habe ich Erinnerungen daran, wie du warst oder, sagen wir es vorsichtiger, wie ich dich wahrgenommen habe.

      Eben, unterstrich sie die Differenzierung, wahrgenommen. Aber lassen wir das. Warum wolltest du lieber zu mir kommen?

      Weil ich ohnehin eine Reise hierher geplant hatte, die weitere Besuche beinhaltet.

      Dienstlich?

      Nein, eigentlich nicht, sagte er. Ich will hier meinen alten Schulfreund besuchen, aus meiner Dresdner Zeit, ins Colonni-Museum gehen – du erinnerst dich vielleicht an meinen Expressionismusspleen – und ein paar von euern herrlichen Antiquariaten durchstöbern. So, so, einen alten Schulfreund, bemerkte sie. Nicht vielleicht eine alte Schulfreundin? Und wenn schon, gab er zurück. Muss ich dir denn alles verraten? Erklär du mir lieber einmal, was genau du mit mir vorhast.

      Gut, wir können ja, während wir essen, schon ein bisschen anfangen. Ich plane also ein Buch über die Wende in deiner Stadt. Und dafür brauche ich einiges an Hintergrundwissen, wofür ich dich um Mithilfe bitte.

      Ach so, das soll also gar kein Interview werden, wie ich dich am Telefon verstand, eher soll ich dich mit Fakten spicken?

      Na, so ist das nicht. Ich hab ja schon allerhand zusammen, habe alle möglichen Dokumentationen dazu gelesen, Zeitungsartikel gesammelt, Interviews mit Akteuren, Vorträge, auch deine natürlich. Aber manches erschließt sich mir nicht ganz.

      Dann tu mir einen Gefallen, unterbrach er sie, und rede bitte nicht von Wende, auch in deinem Buch nicht. Das ist der unwürdigste und entstellendste Begriff für den Herbst 1989. Nicht nur, weil er angeblich von Egon Krenz für die Taschenspielertricks verwendet worden ist, mit denen die SED versucht hat, eine Verjüngungskur vorzutäuschen, um ihre Macht zu retten. Wende ist keine geeignete Bezeichnung für einen innergesellschaftlichen Prozess, in dem ein Volk erwacht und in kürzester Frist das Gesetz des Handelns an sich reißt.

      O, das klingt sehr pathetisch, warf Katharina ein. War es denn so? Oder ist das eine nachträgliche Idealisierung? Du musst mir als Journalistin solche Fragen zugestehen. Ich höre nämlich jetzt immer die Rede von einer friedlichen Revolution, von der ich nicht weiß, ob es sie wirklich gab.

      Etwas Revolutionäres wirst du den Vorgängen von 1989 doch nicht völlig absprechen wollen, entgegnete er.

      Mag sein, dass auch Revolutionäres dabei war. Aber eine Revolution? Ihr habt die Mächtigen doch gar nicht vom Thron gestoßen. Ihr habt den Thron erzittern lassen, das ja. Aber die SED hatte Gelegenheit, sich unter Krenz und Modrow, wenn auch mit politischen Leichtgewichten, noch einmal neu zu generieren. Als Luther vor bald 500 Jahren gegen die Ablasspraxis zu Felde zog, hat auch keiner von Reformation gesprochen. Ich vermute, der Begriff wurde dem Ganzen erst viel später verpasst. Mir scheint es ein bisschen vorschnell, kaum, dass der Herbst 1989 in die deutsche Vereinigung gemündet ist, von einer friedlichen Revolution zu sprechen. Feiern sich da vielleicht die Akteure von damals selber und die Akteure der Einheit gleich mit?

      Ich stimme dir sogar zu. Ich verwende den Begriff Revolution für das, was da passierte, auch nicht gern, zumal das Ergebnis, die deutsche Vereinigung, nichts davon erkennen lässt, dass sie das Kind einer Revolution ist.

      Katharina sah ihn gespannt an.

      Du erinnerst dich? Bonn 1995, oder war es 1996?

      Katharina nickte: O ja, ich erinnere mich.

      Trotz aller Demokratie hätte es ja auf westlicher Seite genügend Anlass gegeben, ebenfalls in sich zu gehen, alte Vorstellungen und Fehlentwicklungen über den Haufen zu werfen und Gesellschaftskritik zu üben.

      Jetzt huschte ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht: Woran denkst du da?

      An die föderale Bildungspolitik zum Beispiel mit ihren Verwerfungen und Ausgrenzungen, an die Mängel bei der Kinderbetreuung, die westliche Arroganz, die vergessen macht, wem der Westen die günstigeren Voraussetzungen für seine Entwicklung verdankt und mit der jetzt ostdeutsche Arbeitnehmer schlechtergestellt werden, als sei die mangelnde Produktivität der DDR eine östliche Charaktereigenschaft und nicht Ausdruck eines verfehlten staatlichen Wirtschaftssystems. Oder die sozialpolitische Überheblichkeit, mit der alle Strukturen der DDR erst einmal