Hans im Glück oder Die Reise in den Westen. Christoph Kleemann

Читать онлайн.
Название Hans im Glück oder Die Reise in den Westen
Автор произведения Christoph Kleemann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954625109



Скачать книгу

gewesen wären. Das würde ich sogar im Blick auf das ostdeutsche Schulsystem und die Kinderbetreuung sagen. Also, ich bitte dich, empörte sie sich, das Schulsystem der DDR wäre doch nun wirklich das Letzte, was man als Beispiel anführen dürfte. Du hast dich doch selber immer über diese, wenn ich dich zitieren darf, ideologischen Spalierobstplantagen aufgeregt. Und eure Kitas? – Ich sage nur: Töpfchen!

      Ja, ja, das Töpfchen. Daran macht ihr alles fest. Man, Katharina, ich bin doch kein Ignorant. Dass diese verdammte Ideologie das DDR-Volk mit der Zeit geistig eingeengt und vernebelt hat, steht für mich außer Frage. Natürlich musste die ideologische Klammer, die dieses Monstrum DDR notdürftig zusammengehalten hat, erst einmal zerbrochen werden. Aber dann wäre es doch dran gewesen, mit Sachverstand und vorurteilsfrei zu prüfen, was vielleicht wenigstens vom Ansatz her tragfähig wäre.

      Die Kitas auch?

      Auch die Kitas. Klar waren die Kindereinrichtungen ebenfalls ideologisch ausgerichtet, kommunistische Gedenktage, Vorgaben für Militärspielzeug, Tag der Volksarmee und so. Dieser ganze Mummenschanz aus der Erziehungsretorte von Frau Honecker gehörte auf den Müllhaufen der Geschichte. Was meinst du, warum wir unsere Kinder in keine Kindereinrichtung geschickt haben! Aber die Kitas als solche in Verruf zu bringen, um Jahre später festzustellen, dass Kitas unverzichtbar und vielleicht gar flächendeckend einzuführen seien, erinnert doch an die Bürger von Schilda.

      Manchmal muss man eben etwas erst zerschlagen, weil es mit schlimmen Auswüchsen verbunden ist, ehe man es neu erstehen lassen kann.

      Jetzt wirst du pathetisch, sagte er. Vielleicht gibt es das sogar. Aber ich wollte ja noch einen zweiten Punkt nennen, warum die deutsche Einheit mir kein Ergebnis einer Revolution zu sein scheint.

      Weil ihr sie gar nicht wolltet, warf sie ein.

      Er widersprach ihr. Das ist so nicht richtig. Ich glaube, die meisten wollten sie schon, nur nicht so schnell.

      Wieso, wunderte sie sich. Wenn ich etwas will, bin ich doch froh, wenn ich es so schnell wie möglich erreiche. Oder?

      Nicht unbedingt, gab er zu bedenken. Dann würden alle, die einen Gipfel erreichen wollen, nur noch mit der Seilbahn nach oben fahren. Wie viel glücklicher wird der auf dem Gipfel sein, der ihn aus eigener Kraft erklommen hat. Für den ist der Gipfel Krönung eines Erlebens, in das er sich mit seiner ganzen Person hineingegeben hat. Er ist gelaufen, geklettert, hat geschwitzt oder gefroren, ist vielleicht auch mal ausgerutscht, hat verweilt, wunderbare Aussichten und neue Blickwinkel kennengelernt, ist Menschen und Tieren begegnet, hat die Berge im Sonnenlicht und im Schatten gesehen, vielleicht abenteuerliche Übernachtungen auf sich genommen, Blasen an den Füßen bekommen, gejubelt und geflucht, nachgedacht über Leben und Tod.

      Was für ein schönes Bild, schwärmte sie, Georg Weber, du bist ein halber Dichter.

      Ja, ja, gab er zurück, ich weiß, aber eben nur ein halber. Ich wollte immer mal etwas ganz sein. Nur ehe du mich jetzt bemitleidest, lass mich das noch zu Ende bringen. Wir wollten damals die DDR demokratisieren. Ja, du hast richtig gehört: die DDR demokratisieren. Ich weiß, das klingt mehr als utopisch. Aber die Zeichen standen nicht schlecht. Die SED war mit ihrem Latein am Ende. Die Stasi entmachtet. Neuwahlen, die ersten richtigen, standen an. Ich hätte mir gewünscht, der Westen hätte geblockt und gesagt: Macht erst mal eure Hausaufgaben. Und dann lasst uns sehen, wie kompatibel wir sind. Wir unterstützen euch auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie und fördern eure Wirtschaft.

      Du bist und bleibst ein Träumer, sagte sie. Du weißt doch selber, dass das nie gegangen wäre. Eure Wirtschaft lag am Boden, eure Städte sahen aus wie nach einem Krieg, die Russen waren im Land, die Führungselite war unbrauchbar geworden. Wie sollte das gehen?

      Ich weiß, ich weiß, sagte Georg, stand auf und stellte seine Tasse unter den Espressoautomaten.

      Er wandte sich zu Katharina um: Ich habe das immer wieder gehört, die Sterne, um es im Mystischen zu belassen, hätten für die deutsche Vereinigung vielleicht nie wieder so günstig gestanden. Ich habe da meine Zweifel. Das klingt eher wie die Schutzbehauptung derer, die es schnell hinter sich bringen wollten. Wie fertig die Wirtschaft war, darüber streiten sich noch heute die Fachleute. Wenn ihr die Treuhand nicht den Rest gegeben hätte, sondern eine ähnliche Instanz eine gezielte Privatisierung im Interesse einer noch bestehenden DDR vollzogen hätte, hätten vielleicht manche wirtschaftlichen und sozialen Folgen in Grenzen gehalten werden können.

      Hätte, hätte, hätte! Politik hält sich an das Machbare, nicht das Wünschenswerte, warf sie ein. Georg drückte auf den Knopf und wartete das Geräusch des Mahlwerks ab, ehe er einlenkte: Okay, wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht ist das der Pfarrer in mir, der immer das bessere Menschsein erhofft. Angenommen, wir hätten – wieder hätten! – wir hätten die Chance gehabt, demokratische Strukturen in der DDR selber zu schaffen, das Bildungswesen selber zu entideologisieren, die vielen Aktiven des heißen Herbstes in politische Verantwortung einzubinden, wären wir da nicht ein Stück weiter in unserer Staatsbürgerlichkeit? So sind uns die Strukturen des Westens ungeprüft übergeholfen worden, die Westparteien haben die Ostparteien geschluckt, die Westfirmen haben das, was von Ostfirmen übrig war, gefressen, die Posten sind an die gefallen, die Posten brauchten und die Bürgerbewegten haben sich wieder in Nischen verkrochen.

      Sie schaute ihn skeptisch an: Etwas zugespitzt, würde ich sagen.

      Er nahm seine Tasse und kehrte an den Tisch zurück.

      Mag sein. Aber all die Unarten, die auch in einer Demokratie ihre Chance bekommen wie Postenschacherei, wie soziale Kälte und Geldgier, haben sich so quasi strukturell mit implantieren lassen.

      Er nahm einen Schluck und setzte die Tasse wieder ab.

      Das also ist das andere, was mich daran zweifeln lässt, eine ostdeutsche Revolution habe zur deutschen Einheit geführt: das sichtbare Ergebnis. Haben wir denn irgendetwas bekommen, was auch nur den Ruch eines revolutionären Prozesses hat? Sind wir nicht einfach auf den bequemen und durchgesessenen Polstern der Wohlstandsgesellschaft gelandet, wo es ein klares Oben und Unten gibt und wo grundlegende und nötige gesellschaftliche Veränderungen in Freiheit erstickt werden, in einer Freiheit, die nahezu alles toleriert und deshalb nichts mehr ernsthaft wagt?

      Jetzt idealisierst du aber euern herbstlichen Aufbruch und dämonisierst den Westen, wandte Katharina ein.

      Vielleicht, gab Georg zu. Aber 1989 ging es allein um die Gesellschaft, nicht um persönliches Fortkommen. Auch 1990 stand bei allen Entscheidungen im kommunalen Bereich das Gemeinwohl noch an erster Stelle. Heute scheint Politik vor allem der Durchsetzung von Partikularinteressen zu dienen. Stichwort: Lobbyismus. Aber ich sehe, wir verzetteln uns. Vielleicht solltest du jetzt lieber einmal dein Anliegen näher umreißen.

      Sie schaute ihn nachdenklich an, dann nickte sie, stand auf, holte eine Mappe, aus der ein Berg beschriebener Zettel quoll, und nahm wieder auf ihrem zerschrammten Küchenstuhl Platz.

      Mit einer Armbewegung wischte sie das Frühstücksgeschirr beiseite, packte die Mappe auf den Tisch und schlug sie auf. Typisch Katharina, dachte er, als er die kreuz und quer bekritzelten Seiten sah, assoziative Arbeitsweise. So könnte er nicht arbeiten. Bei ihm hatte alles seine Ordnung. Papiere wurden vollgeschrieben, nummeriert und einander zugeordnet. Dazu liebte er es, auf seine Schrift angesprochen zu werden, die so akkurat wie winzig war, dass eine handgeschriebene DIN-A-4-Seite etwa vier Maschinenseiten ergab. Katharina brauchte Stöße von Papier für einen einzigen Aufsatz, sammelte und notierte scheinbar orientierungslos Fakten, Gedanken und Zitate, skizzierte Grobentwürfe mit dicken Stiften auf große Bögen, von denen die Papierkörbe in ihrer Wohnung nahezu barsten, und kam dennoch zum guten Ende. So hatte sie ihre Doktorarbeit geschrieben, so waren inzwischen drei, vier zeitgeschichtliche Fachbücher entstanden, so würde sie auch dieses neue Vorhaben, dessen Zielrichtung er gleich erfahren sollte, bewältigen. Er dagegen hatte noch nie etwas zustande gebracht, das länger als fünf Seiten war: Vorworte, Grußadressen, kleinere Beiträge.

      Katharina schlug die Beine übereinander, stellte ihren rechten Ellenbogen auf den Tisch, legte ihren Kopf schräg in ihre rechte Hand und schaute verstohlen zu ihm.

      Los geht’s?