Название | TREU |
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Автор произведения | Sven Hornscheidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783750231382 |
Er begutachtete sein Fahrrad und drehte den zur Seite weggeknickten Lenker mit etwas Kraft wieder in die richtige Position. Dann schaute er sich noch einmal um und schob das Rad Richtung Waldrand. Er hatte genug für heute vom Kraterwald.
Aus dem Hinterhalt beobachteten ihn zwei Augen.
Moritz
7
Langsam fing Moritz an, zu frieren. Er stand vor Lukas’ Haustür und zögerte, ob er denn auch klingeln sollte. Gestern war er, ohne ein Wort des Abschieds, einfach von der Party verschwunden und die Tatsache, dass niemand per Kurznachricht nachfragte, suggerierte ihm, dass es entweder niemanden störte oder dass seine Freunde sauer auf ihn waren. Er stand schon seit ein paar Minuten da und zerbrach sich seinen Kopf. Das konnte er gut – sich den Kopf wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zerbrechen, die sich im Endeffekt eigentlich immer zerstreuten oder als undramatisch herausstellten.
Er klingelte und hüpfte von einem Bein auf das andere.
Niemand öffnete, es war still. Alle schon weg? Er schaute auf seine Uhr. Es war fast Viertel nach zwei. Normalerweise hingen alle noch bis zum Nachmittag bei Lukas herum und schnorrten sich durch den Kühlschrank. Darauf achtete Lukas immer – ein prall gefüllter Kühlschrank, wahrscheinlich der Situation geschuldet, dass er so oft alleine mit seinem Bruder war und so unfreiwillig in den Genuss einer frühen Selbstständigkeit kam. Er lauschte. Bella war anscheinend auch nicht da, sonst wäre sie schon längst nach unten gestürmt, um den neuen Besucher zu begrüßen. Toll, die ganze Latscherei umsonst.
Er schaute sich um. Von der Tür aus konnte er viele Fußabdrücke im Schnee ausmachen, die kreuz und quer Richtung Straße verliefen. Neben ihm klatschte ein matschiger Klumpen Schnee vom Vordach herunter. Die Spuren führten alle die Straße hinaus, heraus aus dem Wohngebiet, bis auf ein Paar, Größe 43, und kleinen sich anschließenden Hundetapsen, Größe 22. Sie führten nach unten. Bestimmt war Lukas auf seiner Runde mit Bella, einen Versuch war es wert. Er wartete noch einen Moment, klingelte noch einmal und drehte sich dann wieder um. Eigentlich konnten die Tapsen nur zum Wald führen, auf der abschüssigen Straße waren sie größtenteils von Autospuren überlagert, doch Moritz kannte Lukas’ Route: über den Bach und hinauf zu den Feldern, wo sie dann am Ende eines weiteren Wäldchens wieder die Straße entlang zurückgingen. Er folgte den rudimentären Marken noch eine Weile bergab, bis sie rechts in einen kleinen Waldweg abbogen. Er behielt recht.
Der Wald war ein typisches Naherholungsgebiet. Befestigte Wege und hier und da ein paar Schilder, die die örtliche Flora beschrieben. Überwiegend wuchsen hier hohe Fichten und mehr oder weniger kräftige Eichen, ein paar Haselsträucher, wo das Licht ausreichte, und sonstiges Grünzeug, das sich erst einordnen ließe, wenn man die unleserlichen Schilder entzifferte.
Ein hässlicher Metallzaun grenzte eine städtische Fläche, die für die Qualitätsmessungen des Grundwassers verwendet wurde, vom Gehweg ab und knickte nur ein paar Meter weiter nach links ab, sodass er das Bild des Waldes nicht weiter störte. Auf die Zaunpfosten hatte jemand leere Bierdosen gesteckt.
Es war immer jemand unterwegs, denn man konnte den Wald zum einen als Abkürzung in ein anderes Stadtgebiet benutzen und zum anderen bot er sich an, Hunden Auslauf zu gewähren, ohne auf die braunen Hinterlassenschaften achten zu müssen, wie es auf den städtischen Wiesen der Fall war.
Es standen zwar in regelmäßigen Abständen Spender für Hundekottüten herum, doch sie waren immer leer. Offenbar hatte das Städtische Amt für Vierbeinerangelegenheiten es inzwischen aufgegeben, sie aufzufüllen. Jedenfalls hatte Moritz noch nie beobachtet, dass ein Hundehalter bückenderweise kleine Kackhaufen in Tüten bugsierte.
Ein Jogger kam ihm entgegen und grüßte freundlich.
Bellas Pfotenspuren waren nun nicht mehr zu erkennen. Ohnehin war der Schnee hier nicht mehr so weiß wie auf den Gehwegen. Die Bäume hielten vieles ab und die Spaziergänger verwandelten den Puderzucker in Rübenkraut. Moritz’ halbhohe Turnschuhe waren nicht wirklich für diesen Ausflug geeignet, doch das war ihm jetzt egal. Er ging den Weg weiter entlang. Auf der rechten Seite führte ein schmaler Pfad wieder nach oben, vorbei an einem Hotel. Wenn man ihm folgte, wurde man zwar von den dort wuchernden Büschen dreckig, doch man kam ungefähr dort aus, wo Moritz auf Max getroffen war. Moritz ließ den Weg links liegen und ging weiter zu einer Holzbrücke, die über einen kleinen Bach führte. Das Plätschern war noch zu hören, es war noch nicht lang genug kalt gewesen, um die Bäche und Seen in dieser Gegend zufrieren zu lassen. Im Sommer hatten sie hier früher oft gespielt und Dämme gebaut, sehr zum Leidwesen der Spaziergänger, die die Überschwemmungen nur mit großer Mühe und vielen Flüchen trocken überqueren konnten.
Doch das gehörte der Vergangenheit an. Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie Lukas und er aus dem ganzen Umkreis Steine herbeigebracht hatten, um sie unter der Brücke aufzutürmen. Der Gehweg war damals zu einem stattlichen Teich angeschwollen und in der Zeitung stand am nächsten Tag, dass jugendliche „Randalierer“ den örtlichen Naherholungsweg zerstört hatten.
In dieser Hinsicht hatte Lukas recht: Es war wirklich ein kleines Kaff hier, wo sogar solch ein Kleinereignis würdig genug war, in der Tageszeitung thematisiert zu werden. Die anderen knapp 29.998 Einwohner hatten sich offenbar an diesem Tag vorbildlicher verhalten als sie.
Als er die Brücke überquerte, konnte man entweder steil den Berg hinaufgehen oder dem offiziellen Weg weiter das Tal entlang folgen. Lukas war gerne dort oben. Es gab Felder und Wiesen, auf denen er mit Bella herumtollen konnte und man hatte einen recht guten Ausblick über den nordwestlichen Teil der Stadt. Moritz mochte es da oben auch. Im Sommer hatten sie dort oft gezeltet und über brennenden Holzscheiten aufgespießte Würstchen gegrillt, was dem hiesigen Waldbesitzer stets ein Dorn im Auge war. Doch mit seinen beiden kleingeratenen Zwergpinschern wirkte er nicht sonderlich bedrohlich, wenn er mal wieder versucht hatte, die Meute mit vor Wut rot angelaufenem Gesicht zu verscheuchen. Sie nannten ihn immer den „Körperklaus mit den zwei Kampfratten“. Niemand nahm ihn wirklich ernst. Es war fast schon gemein, wie sie über ihn lachten, doch blöderweise stand sein Haus in Blickweite der grünen Lichtung, circa dreihundert Meter talabwärts gelegen. Offenbar hatte er auf seinem kleinen Hof nicht genug zu tun, um den aufsteigenden Rauch ihres Camps zu ignorieren.
Diese Route schied heute jedoch aus, denn es gab allenfalls einen ausgetretenen Pfad hinauf, doch das würde sich, außer Bella, bei diesem Wetter niemand antun wollen. Also stapfte Moritz weiter den Weg entlang und hielt Augen und Ohren nach Lukas und Bella offen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als er versuchte, das Bild der Grillwürstchen wieder aus seinem Kopf zu vertreiben.
„Guten Tag!“
Ein weiteres Pärchen mittleren Alters kam ihm entgegen.
Hier grüßte man sich noch.
Der Schnee ließ langsam nach und hier und da blinzelte sogar kurz die winterliche Sonne zwischen ein paar Baumwipfeln hindurch.
Dort, wo die immergrünen Fichten standen, gab es sogar fast schon frühlingshafte Momente, als die Sonne in kristallartigen Reflexionen durch die Öffnungen des Walddaches funkelte, und, wie durch eine Lochkamera blickend, runde Lichtflecken auf den matschigen Boden unter ihm warf.
Sie stand zwar relativ tief, wie es im Winter immer der Fall war, doch Moritz genoss den warmen Schauer auf seinen Wangen.
Hinter einer Biegung gab es eine weitere Holzbrücke über den sich durch den Wald schlängelnden Bach. Sie war länger und massiver als die Erste. Es gab sogar ein Holzgeländer und man kam sich vor, als würde man über einen kleinen Burggraben schreiten. Etwas übertrieben für dieses kleine Rinnsal, aber sie hatte durchaus ihren Charme.
Nicht weit entfernt hörte Moritz nun heiseres Bellen. Er lächelte. Das konnte nur Bella sein. Aus ihrem opulenten Körper klang ihr Bellen fast schon so, als wäre sie tief im Stimmbruch gefangen, in ihrer ewigen Pubertät.