TREU. Sven Hornscheidt

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Название TREU
Автор произведения Sven Hornscheidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750231382



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Und dann bergab durch ein kleines Wohngebiet, an dem sich am unteren Ende der Wald anschloss, an dessen Rand das opulente Haus von Lukas’ Familie in einer relativ neu entstandenen Siedlung stand.

      Er stapfte weiter durch den Schnee und hinterließ seine Abdrücke auf dem Gehweg. In der Ferne lachten Kinder und versteckten sich hinter ein paar Mülltonnen, als sie sich gegenseitig mit Schneebällen bombardierten.

      Einmal nur wieder frei sein.

      LUKAS – damals

      6

      Lukas verstand nicht, warum Jakob sich immer so anstellen musste. Das Wetter war perfekt und der Wald bot eine willkommene Abkühlung von der übertriebenen Hitze an diesem Nachmittag. Er schaute sich noch einmal um, ohne sein Gleichgewicht auf dem Rad zu verlieren, und sah noch kurz, wie Jakob hinter einer Bergkuppe langsam verschwand. „Wahrscheinlich will er nur wieder nach Hause“, dachte er sich.

      Auf der rechten Seite führte eine langgestreckte Einfahrt zu einem kleinen Hof mit angeschlossener Scheune und einer großen Wiese davor. Jauchegestank stieg in Lukas Nase. Eine lästige Fliege summte um seinen Kopf herum und verschwand wieder. Das Wrack eines alten Traktors rostete am Rand der Einfahrt vor sich hin und unter einer großen Kastanie, die mit ihrer dichten Krone ein paar schlafenden Kühen Schatten spendete, stand eine uralte Emaillewanne, die als Wassertrog diente. Allerdings war sie leer und nur braune Schlieren am Boden zeugten von ihrer Bestimmung. Ein mutiger Bulle versuchte eine Lücke zwischen Weidezaun und Boden auszunutzen, um an die letzten grünen Halme jenseits seiner Welt zu gelangen, als Jakob mit dem Rad an ihm vorbei fuhr.

      Oben angekommen verzweigte sich der Weg nach links und rechts. Er stand nun direkt vor dem Kraterwald, der auf dem Hügel thronte und von dem Weg umschlossen wurde. Vor Lukas stand eine Parkbank auf einem Graswall, ein metallener Fuß zeugte davon, dass wohl auch einmal ein Mülleimer den kleinen Aussichtspunkt geziert hatte. Der Weg auf der linken Seite war mit einer Metallschranke versperrt worden. So rostig, wie die Schranke aussah, ließ sie sich wahrscheinlich nur noch mit roher Gewalt öffnen.

      Lukas hielt inne und lauschte, ob er Stimmen hörte. Den Berg hinauf hatte er noch das ein oder andere Grölen und Schreien gehört, doch nun schien alles ruhig zu sein.

      Er hörte nur das Knarzen der Bäume, unterbrochen von dem Blöken der Kühe, die er eben noch passiert hatte. Das Brummen eines Sportflugzeuges übertönte nun auch die restlichen natürlichen Laute.

      Er schulterte sein Rad und ging den Graswall hinauf, an der Parkbank vorbei. Es wurde schon merklich kühler, was nicht gerade unangenehm war. Mit den Füßen drückte er einen alten Stacheldraht nach unten, der ächzend protestierte, und schob sich zwischen Brennnesseln und Ilex hinein in den Wald. Seine Augen mussten sich nur kurz an den Schatten gewöhnen. Feuchtwarme Luft stieg vom Waldboden auf und parfümierte die Umgebung mit einem angenehm würzigen Geruch nach Laub, Holz und Nadeln. Neben ihm hing eine alte Plastiktüte im dichten Ilex und trübte diesen fast schon romantischen ersten Eindruck des Wäldchens. Er ließ sie hängen.

      Ein paar Meter weiter stand Lukas schon auf einem ausgetretenen, schmalen Pfad, der von den groben Profilreifen unzähliger Mountainbikes gezeichnet war. Selbst die freigelegten Baumwurzeln konnten dem nichts entgegensetzen und sahen bemitleidenswert ramponiert aus.

      Dies war einer der Pfade, der rund um den Rand des Waldes im Kreis verlief und auf einer erhöhten Kuppe im Zentrum wieder mit anderen Pfaden zusammenführte. Von diesen Wegen gab es hier viele, manche waren einfach zu fahren, andere schwerer, besonders dann, wenn sie durch die felsigen Krater führten oder sogar auf provisorisch aus Holzpaletten zusammengeschusterten Holzbrücken über sie hinüberragten.

      Dieser Wald war das Reich der Kinder, und die Erwachsenen ließen sie meist gewähren. Nur, wenn Feuer im Spiel war oder der Lärm bis spät in der Nacht anhielt, kam es schon mal vor, dass ein Bauer die Polizei rief, die dann aber meistens nur mit mahnenden Worten dazu aufforderte, sich zu benehmen und die Hinterlassenschaften wieder aufzuräumen, was aber allenfalls ein paar Tage Wirkung zeigte.

      Lukas stellte sein Mountainbike wieder ab, prüfte den Druck seiner Reifen und folgte dann geschickt dem schmalen Lehmpfad zwischen Baumstämmen und Ilexbüschen. Er bewegte das Rad fast wie ein Skifahrer seine Ski, beim Umschwingen von Buckeln, im perfekten Zusammenspiel von Körperschwerpunkt, Druck und Bewegung. Er wollte noch eine Runde durch den Wald drehen, um dann auf der großen Kuppe nachzuschauen, ob noch jemand von seinen Freunden da war.

      Die ersten Kurven und Hügel meisterte er blind. Nach einer langgestreckten Biegung musste er etwas aufpassen, denn der Weg war nur wenige Zentimeter breit. Links ging es circa vier Meter in die Tiefe in einen weiteren Kessel und rechts waren zu viele Büsche, um ausweichen zu können. Er fuhr nun im Stehen, so hatte er eine bessere Kontrolle über seine Beine und konnte die Bodenunebenheiten besser ausgleichen.

      Im Tunnelblick umfuhr er das größere Hindernis und beschleunigte dann auf eine schmale Gerade, die mitten durch die dornigen Büsche geschlagen wurde. Links und rechts wuchs dichter Ilex und am Ende des dunkelgrünen Tunnels gab es eine scharfe Linksbiegung um einen mit Liebesschnitzereien verzierten Baumstamm herum.

      Sein Adrenalinspiegel folgte seinem Tempo, Lichtstrahlen flackerten zwischen den Ästen und warfen runde Schatten auf die Umgebung und sein Gesicht. Sein Blick war auf das Ende des kurzen Streckenabschnittes gerichtet, die Hände fest um den Griff gelegt, Mittel- und Zeigefinger an den Bremsen, als plötzlich, nur ein paar Meter vor ihm, ein Schatten vorbeihuschte und wieder verschwand. Er erschrak fürchterlich, begann zu schlingern und versuchte mit einer Gewichtsverlagerung die Balance zu halten, ehe er völlig die Kontrolle verlor. Doch es war zu spät. Er bremste hart, die Vorderreifen verkeilten sich an einer kleinen Baumwurzel und die Masse seines Körpers gehorchte den physikalischen Gesetzen der Natur. Mit einem Schrei schob sich Lukas über seinen Lenker, seine Kniescheibe schlug hart am Vorbau seines Rades auf und er stürzte in die grüne Wand aus Dornen. Er konnte gerade noch sein Gesicht vor dem Gröbsten schützen, dann landete er krachend in dem Gewirr aus Blättern, Dornen und Ästen und blieb in einer unnatürlichen Position hängen.

      Er stöhnte und sein Gesicht war schmerzverzerrt. Alles um ihn herum drehte sich. Für einen kurzen Moment fehlte ihm die Orientierung und sein Herz pochte wie wild.

      Irgendwie musste er sich aus der Umklammerung des unbequemen Bettes befreien. Er war fast bis auf den Boden in die Dornenmasse eingesunken, seine Beine nach oben gestreckt und die Arme waren irgendwo dazwischen. Wie ein zu fetter Mensch, der versuchte, auf einem Gummireifen in einem Whirlpool eine bequeme Position zu finden.

      Er schaute sich um, wo er sich abstützen könnte, ohne noch mehr Schrammen davonzutragen und entschied sich, sein Körpergewicht erst mal weiter nach vorne zu verlagern, um seine Füße irgendwie auf den Boden zu bekommen. Alles tat weh, und er erinnerte sich, dass er damals am lautesten gelacht hatte, als Jakob in die Brennnesseln gekracht war. Nur war diesmal niemand hier, der lachte. Was war das? Wer war das? Wäre es einer von den Jungs, hätte Lukas es garantiert mitbekommen, entweder als hämische Schelte oder als Hilfestellung, doch alles war ruhig.

      Nur sein Atem und sein leises Stöhnen, das ihm bei jeder Bewegung, von einem Rascheln begleitet, entfuhr, war zu hören.

      Er war alleine.

      Er könnte um Hilfe rufen, doch so schlimm war es zum Glück nicht. Diese Gestalt, die er nur für Sekundenbruchteile gesehen hatte, jagte ihm eine Heidenangst ein. Er hasste sie, war er nur ihretwegen in dieser schmerzvollen Situation gefangen. Sein Kopf tat weh und seine Schulter fühlte sich an, als hätte jemand dagegengetreten. Ganz zu schweigen von den vielen Kratzern und Schnitten, die er sich momentan nur ausmalen konnte. In seinem Knie bohrte ein stechender Schmerz, aber bewegen konnte er anscheinend alles.

      Er harrte noch einige Sekunden aus, dann presste er die Lippen zusammen, schwang sich mit ganzer Kraft nach vorne und wuchtete sich aus seinem dornigen Verlies.

      Er stolperte noch etwas, als sein Bein sich in einem Ast verfing, dann stand er wieder sicher auf dem lehmigen Boden. Sein Knie schmerzte nun stark und ein großer Bluterguss begann sich unaufhaltsam auf seiner Kniescheibe zu entwickeln. Ansonsten war alles soweit in Ordnung, er hatte sich seine Verletzungen schlimmer vorgestellt, als er noch