TREU. Sven Hornscheidt

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Название TREU
Автор произведения Sven Hornscheidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750231382



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murmelte er leise und wischte quer über die Windschutzscheibe. Er drehte sich nach allen Seiten um, doch es war alles still. Der Boden war weiß und unberührt. Keine Fußabdrücke zeugten mehr von der verräterischen Spur des Künstlers. Wahrscheinlich war es reiner Zufall gewesen, dass ausgerechnet sein Auto als Leinwand missbraucht wurde. Er grübelte darüber nach, wer wissen könnte, wie es um seine Gefühle bestellt war, doch ihm fiel niemand ein.

      Er zog sein Smartphone aus der Tasche – keine Nachricht. Dann machte er ein Panoramafoto von der weißverschneiten Szenerie und postete es auf Facebook mit der Überschrift „Schneewanderung“. Solch einen kommunikativen Irrsinn hatten sie früher nicht gebraucht, doch nun schien die digitale Welt ein steter Begleiter zu sein, der einen immer daran erinnerte, dass das eigene Leben vielleicht doch nicht so spannend war. Er hasste die ständigen Posts der anderen Leute. Fotos unter Palmen, aus New York oder von Tempelruinen in Kambodscha. Manchmal fragte er sich, ob die Leute nur an außergewöhnliche Orte reisten, um damit auf Facebook anzugeben, und nicht, weil es ihr Herzenswunsch war.

      Er trocknete seine kaltnassen Hände an der Hose ab und machte sich auf den Weg zu Lukas. Warum er jetzt zu den Trümmern einer Party vom Vorabend ging, wusste er auch nicht. Aufzuräumen hatte er nun wirklich keine Lust, doch sein Bauch wollte diesen Weg einschlagen.

      Sein Smartphone vibrierte. Marina hatte sein Foto geliked.

      Ausgerechnet Marina ...

      Die Straße war menschenleer. Anscheinend verspürte niemand den Drang, sich in den Schnee zu wagen. Nur hier und da befreiten gewissenhafte Hausbesitzer den Eingangsbereich und Bürgersteigabschnitt von ihrem Eigentum vom Schnee.

      „Spießer“, dachte Moritz. Sein Lieblingswort, wenn es darum ging, die konservative Welt um sich herum zu beschreiben.

      Ein Hund kläffte, als er mit seinen viel zu kurz geratenen Beinen versuchte, einen von seinem Herrchen geworfenen Stock im Schnee wiederzufinden. Er hüpfte hin und her und manchmal schaute nur noch die Rute aus dem Schnee heraus, bis sein Kopf frohlockend mit einem dicken Ast im Maul wieder aus einer Schneewehe auftauchte. Moritz mochte Hunde. Aber lieber die Großen, so wie Bella, als solch kurzbeinige Schoßhündchen.

      Seine Eltern hatten ihm als Kind nie den Wunsch erfüllt, auch einen Hund anzuschaffen. Vielleicht war das auch gut so, denn eigentlich war er viel zu spontan und zu faul, um jeden Tag bei Wind und Wetter Gassi zu gehen.

      Auf der Hauptstraße angekommen, änderte sich das Bild. Es war schon gestreut worden und es bildete sich eine transparente Matschschicht, die nicht weniger rutschig war als der frische Schnee, aber sicherer für diejenigen Autofahrer, die es wieder einmal nicht rechtzeitig geschafft hatten, ihre Sommerreifen auszuwechseln.

      „Hey, Mo!“

      Von der anderen Straßenseite aus winkte Max ihm grinsend zu. Er war immer der Erste, der nach einer durchzechten Nacht wieder zu Kräften kam und auch der Erste, der sich darauf verstand, morgens möglichst schnell wieder zu verduften, damit er nicht aufräumen musste.

      „Alles klar? Warum bist du gestern so früh abgehauen? Wir haben noch die halbe Nacht Mario Kart gespielt. Du hättest Jan mal sehen sollen, er hat den ganzen Papierkorb vollgekotzt!“

      Moritz wurde es wieder flau im Magen, als er sich diese Szene vorstellte.

      „Ich hatte keine Lust mehr“, rief er quer über die Straße.

      Ein älterer Herr, ganz in Grau gekleidet, der an einer Bushaltestelle stand, beobachtete den Wortwechsel und schüttelte griesgrämig den Kopf.

      „Warum sind ältere Herren immer Grau gekleidet?“, fragte sich Moritz.

      „Wo willst du denn hin?“, fragte Max mit seiner knabenhaften, fast schon froschartigen Stimme.

      „Warte, ich komm rüber!“

      Der Mann schaute ihm zu, wie er die glitschige Straße überquerte. Sein mittägliches Unterhaltungsprogramm schien nun wohl beendet zu sein.

      Sie schlugen sich mit geschlossener Faust gegenseitig ein.

      Max grinste, doch sein Atem verriet, dass es seinem Magen noch nicht so gut ging wie seiner Stimmung. Abgesehen davon, dass er ein richtiger Morgenmuffel sein konnte, war er eigentlich immer gut gelaunt, worum Moritz ihn ein bisschen beneidete. Er war kein Freigeist wie er und konnte mit jeder Situation umgehen, ohne sich überfordert zu fühlen. Selbst, als seine Mutter verstorben war, war ihm nach einigen Wochen fast nichts mehr anzumerken. Zumindest nicht äußerlich. Wie es in seinem Innersten aussah, wusste niemand, doch Moritz konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine entspannte Laune nur Fassade war, dazu hatte er eine zu gute Menschenkenntnis.

      Es gibt halt solche Menschen – „Warum kann ich nicht so sein?“, – fragte er sich.

      Vielleicht sollte er es ihm als Erstes sagen, sinnierte er, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Er dachte an das Kunstwerk auf seiner Windschutzscheibe.

      „Ich wollte mal bei Lukas vorbeischauen. Sind die anderen noch da?“

      „Da sieht es noch immer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.“

      „Und du hast dich verdrückt?“, grinste Moritz ihn an.

      „Was meinst du denn? Denkst du, ich hänge da noch Stunden rum, bis alle einigermaßen wach sind, um dann den Putzlappen durch das Haus zu schwingen?“

      Ein bisschen egoistisch war er ja schon, aber man konnte ihm einfach nicht böse sein.

      „So schlimm?“, entgegnete Moritz.

      „Schlimmer! Und Lukas hat echt eine miese Laune heute. Ich weiß auch nicht, was mit ihm wieder los ist. Also, an deiner Stelle würde ich da jetzt nicht aufkreuzen. Es stinkt, alle sind verkatert und Lukas motzt nur herum.“

      „Und Marina?“, fragte Moritz.

      „Die ist direkt unter der Dusche verschwunden und hat sich dann wieder mit ihrem Laptop ins Bett verkrochen. Als ich gegangen bin, haben bis auf Lukas, Marina und Bella alle noch gepennt. Naja, Jan war zwar wach, aber irgendwie doch nicht. Er musste es gestern mal wieder übertreiben. Ich war gerade noch kurz bei Tom, also, kann sein, dass sie jetzt schon frühstücken, oder so. Was willst du überhaupt da? Bist du so scharf aufs Aufräumen?“

      „Nein, mir ist einfach langweilig.“

      „Und dann räumst du lieber auf?“

      Max verstand nicht so ganz, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte, also wechselte er das Thema.

      „Nächstes Mal feiern wir einfach bei dir!“

      „Nee, besser nicht. Das gibt nur Stress mit meinen Eltern.“ Langsam fing Moritz an, von Max genervt zu sein. In seinem Leben drehte sich alles nur um Party, Kirmes und sonstige Events. Immer von der Angst getrieben, etwas zu verpassen.

      „Und was machst du noch?“, fragte Moritz ihn.

      „Eigentlich müsste ich noch Mathe büffeln, aber heute Abend wollte ich noch mit Tom was trinken gehen.“

      Rastlos ...

      Ein kurzes Schweigen entstand und Max merkte, dass Moritz nicht wirklich Lust hatte, sich mit ihm noch weiter zu unterhalten. Er klatschte ihm auf die Schulter.

      „Na dann ...“

      „Mach’s gut!“

      Moritz drehte sich um, steckte seine Hände wieder tiefer in die Taschen und trottete die Straße entlang, weiter in die Richtung, in der Lukas wohnte. Ein Schneeball schlug neben ihm an einem Parkverbotsschild ein.

      „Nächstes Mal!“, rief Max ihm noch nach und machte sich dann auch auf den Heimweg. Moritz musste lächeln.

      Es war noch ein gutes Stück zu laufen, aber die kalte Luft tat ihm gut. Er sog sie tief ein, bis er fast husten musste, hielt sie noch eine Weile an und atmete dann sein dampfendes Inneres bewusst wieder aus. Er musste noch durch das Industriegebiet, in dem sie vor ein paar Jahren Fotos vor einem inzwischen