Название | Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes |
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Автор произведения | Gerd Sodtke |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991076544 |
Voller Interesse schaute ich aus dem Fenster hinab. An dieser Südseite des Gebäudes waren zum Sonnenschutz über den Fenstern breite, waagrechte Metall-Lamellen angebracht worden, so auch über dem Fenster unter uns. Und auf diesem Sonnenschutzgitter lag das gesamte Frühstück meiner Patientin ausgebreitet: zwei Scheiben Brot, zwei Brötchen, ein Schälchen Quark, Marmelade, Wurst, und etwas abseits davon eine Scheibe Käse, die in der bereits hochstehenden Morgensonne zu schmelzen begann. Die leckere Erdbeermarmelade dröppelte in zähen Tropfen langsam auf den Hubschrauberlandeplatz. Kein Wunder, dass ihr Tablett immer leer war, wenn die Schwestern es nach dem Essen abräumten! Sie schaute mir direkt in die Augen und sagte mit unglücklicher und bedauernder Miene nur: „Ist mir hinuntergefallen.“ Das Tablett selbst und das Geschirr lagen allerdings nicht unten. Und wenn ich ihre abwegige Feststellung ernst genommen hätte, wäre sie auch die erste Patientin gewesen, die ihr Frühstück an einem weit geöffneten Fenster eingenommen hätte. Zumal dies immerhin ein Fenster war, das nicht mit einer Fensterbank ausgestattet war, auf der man ein volles Frühstückstablett hätte abstellen können. Sie hatte wohl die Abwesenheit der Schwestern auf dem Stationsflur, die ihr eigenes Frühstück zu dieser Zeit in der Stationsküche einnahmen, ganz bewusst genutzt. Für mich war dieser von Anbeginn mysteriöse Fall nun endlich klar.
Einer der Vorteile als Krankenhausarzt besteht nun darin, dass man sich mit erfahrenen Kollegen über schwierige Krankheitsfälle austauschen und beraten kann. Ich wählte denjenigen Kollegen mit der größten Erfahrung, ich ging zum Chefarzt. Ich berichtete über meine Patientin und die Entdeckung auf dem Sonnenschutzgitter, erwähnte auch die zunehmende Abnahme ihrer Gewichtskurve und des Eiweißgehalts im Blut. Er hörte mir zunächst entspannt zu, mit zunehmender Dauer meines Vortrags legte sich seine Stirne jedoch in immer tiefere Falten. Er war eine imposante Erscheinung: klein, schlank und drahtig, schlohweiße, wellig zurückgekämmte Haare, gerötete Gesichtsfarbe. Dann sprach er aus, was ich auch schon ahnte, eigentlich wünschte ich nur noch seine Bestätigung: „Diese Patientin hat eine Essstörung, eine Anorexia nervosa (Magersucht). Fragen Sie die Eltern und die Patientin, ob sie mit einer künstlichen Ernährung über eine Magensonde einverstanden sind.“
Nachdem ich der Familie den Ernst der Lage und die Folgen der Unterernährung, unter anderen das Auftreten von Eiweißmangelödemen (Wasseransammlung im Hautgewebe), erklärt hatte, waren alle einverstanden. Der Eiweißgehalt im Blut war inzwischen dramatisch um 30 Prozent des Normalwertes gesunken, sodass wir damals gar keine andere Wahl als die künstliche Ernährung hatten.
Das Mädel saß aufrecht im Bett, ich betäubte mit einem Spray eines Lokalanästhetikums den Nasengang, wie auch die besonders empfindliche Hinterwand des Rachens. Anschließend rieb ich mit einem Gel des Betäubungsmittels die dünne Ernährungssonde ein. Dann führte ich die Sonde sehr langsam und vorsichtig in den Nasengang ein, bis die Sonde an der Rachenhinterwand erschien, wie ich durch ihren geöffneten Mund sehen konnte. Nun bat ich die Patientin, einmal zu schlucken, und das tat sie auch ganz brav, sodass die Sonde fast wie von selbst tief in den Magen rutschte. Schließlich gab ich mit einer Spritze etwas Luft in die Sonde, hörte gleichzeitig mit dem Stethoskop den Magen ab, wo es vernehmlich blubberte, die Sonde lag also korrekt. Wie schön!
Wir begannen mit der flüssigen Sondenernährung, die in ausgewogener Form alle wesentlichen Nährstoffe enthält. Bereits am nächsten Morgen lag die Sonde zusammengekringelt auf dem Fußboden neben ihrem Bett. Wie unschön! „Ist mir in der Nacht rausgerutscht“, sagte sie mit treuherzigem Augenaufschlag. Eigentlich hatte ich die Sonde an der Nasenspitze gründlich mit Pflaster fixiert, und gleichzeitig erinnerte ich mich an das rein zufällige Herunterfallen des Frühstücks auf das Sonnenschutzgitter. So viele Unglücksfälle auf einmal konnte es eigentlich gar nicht geben, na ja. Es folgte umgehend die Anlage einer neuen Magensonde, die ich demonstrativ mit noch mehr Heftpflaster an der Nase fixierte und dabei auch andeutete, dass wir noch genügend Magensonden in unserem Sortiment hätten. Zusätzlich erklärte ich ihr noch, dass solche Spiränzchen zulasten meiner ohnehin knapp bemessenen Arbeitszeit gingen.
Diese neue Sonde sollte nun wie durch ein Wunder bis zur nächsten Chefarztvisite einige Tage später liegen bleiben. Die neue Magensonde nutzte der Chefarzt, der auch ein erfahrener Radiologe war, zu einer sehr kurzen Magendurchleuchtung mit flüssigem Kontrastmittel, womit er eine Verengung des Magenausgangs ausschließen konnte. Die Möglichkeit einer Magenspiegelung gab es damals noch nicht. So konnte die Sondenernährung fortgesetzt werden, die Nahrungsmenge wurde täglich behutsam gesteigert. Innerhalb weniger Tage nahm die Patientin drei Kilogramm an Gewicht zu. Endlich machte sie Fortschritte, die Sondenkost zeigte erste Erfolge, und wir waren zufrieden.
Dann kam der Tag der wöchentlichen Chefarztvisite. Wir standen gemeinsam am Fußende des Bettes unserer Patientin, ich berichtete über den positiven Gewichtsverlauf und letzte Laborergebnisse. Sie beantwortete bereitwillig die Fragen des Chefarztes. Plötzlich aber stockte sie mitten in einem Satz, und ohne ein Würgen oder andere Vorzeichen erbrach sie in hohem Bogen mehrere Liter der Sondenkost der vergangenen Tage über die Bettdecke. Dies war kein provoziertes Erbrechen, das wir erlebten, der Magen war schlicht und ergreifend übergelaufen. Das Phänomen der Magenatonie bei längerer Mangelernährung ist bekannt, mit der Zeit stellt der Magen seine Tätigkeit, die Nahrung weiter in den Darm zu transportieren, vollständig ein.
Zusammengefasst hatten wir nach fünfwöchiger Behandlung nur eine unwesentliche Gewichtszunahme von vielleicht zwei Kilogramm erreicht. Vor der Entlassung setzte ich mich mit der jungen Patientin und ihren Eltern zusammen. Ich unterbreitete ihnen Diätvorschläge und empfahl auch dringlich eine ergänzende psychotherapeutische Behandlung. Meine Patientin war wie immer einverstanden, zumal ja auch die Schulferien dem Ende zugingen. Sie bedankten sich für unsere umfangreichen, wenn auch aus ärztlicher Sicht wenig erfolgreichen Bemühungen.
Ich vermutete, dass das junge Fräulein zunächst bewusst an Gewicht abnehmen wollte, vielleicht aus kosmetischen Gründen. Vielleicht gab es dafür auch andere Gründe, zum Beispiel innerhalb ihrer Familie. Im Verlauf entwickelte sich daraus ein Zwang, aus dem „Wollen“ wurde ein „Muss“. Infolge der einsetzenden Magenatonie wurde ihr Vorhaben zum Selbstläufer mit wiederholtem Erbrechen. Ein angenehmer Nebeneffekt für sie bestand natürlich darin, dass sie seit Monaten im Mittelpunkt der Sorgen und Ängste von nahen Angehörigen und Ärzten stand. Ich war enttäuscht über sie, und auch über mich selbst: Trotz der eigentlich guten Arzt-Patienten-Beziehung, wie ich mir jedenfalls einbildete, hatte sie täglich bühnenreif gelogen, und ich hatte ihre Lügen nicht bemerkt. Ich hatte sie nicht bemerkt, weil ich es bis dahin niemals für möglich gehalten hatte, dass Menschen, die im Krankenhaus eine medizinische Hilfe suchen, einen Arzt belügen könnten.
Später fragte ich mich noch häufiger, wie oder durch wen sie das Lügen bis zu dieser Perfektion gelernt hatte. In unseren zahlreichen Gesprächen hatte sie immer den direkten Augenkontakt gesucht und dabei gelogen, ohne mit der Wimper zu zucken. Man hätte auch sagen können, je länger und intensiver sie den direkten Augenkontakt gesucht hatte, und je vertrauensseliger ihr Blick gewesen war, desto mehr hatte sie gelogen. Offensichtlich war sie mit dieser Methode sehr erfolgreich. Selbst die Aufdeckung ihrer Lügen hatte sie nicht beeindruckt, ein schlechtes Gewissen, ein Unrechtsbewusstsein oder ein Schamgefühl schienen ihr völlig fremd zu sein, oder sie verdrängte solche für sie peinlichen Situationen einfach. Ich war ja gewiss nicht die erste Kontaktperson, bei der ihre Lügen letztlich keinen Erfolg hatten. Sie dachte wohl auch nicht an die schlimmen Folgen einer Aufdeckung ihrer Lügen, nämlich den Vertrauensverlust bei denjenigen Menschen, die ihr nahestanden und sich um ihren Gesundheitszustand sorgten. Sie machte sich mit ihren Unwahrheiten dauerhaft unglaubwürdig, und niemand würde sie mehr ernst nehmen.
Ungefähr neun Monate später war er endlich gekommen, der erste schöne, lange ersehnte Frühlingstag nach einem kalten Winter. Seit dem frühen Morgen strahlte die Sonne an einem tiefblauen Himmel. Dieser Tag war wie geschaffen für den Besuch des jährlichen Gänselieselmarktes in einem kleinen Ort am Rhein, der nicht so weit entfernt lag. Die Gänseliesel ist ein Wahrzeichen dieses Ortes