Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes. Gerd Sodtke

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Название Licht und Schatten – der Alltag eines Krankenhausarztes
Автор произведения Gerd Sodtke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991076544



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hielt nichts mehr in meinem Arztzimmer, in dem ich die Telefonate mit dem Chefarzt und der Apothekerin geführt hatte. Ich konnte dort unmöglich tatenlos herumsitzen, ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch trommeln, Bleistifte in Reih und Glied ausrichten, irgendwelche Akten ordentlich aufeinanderstapeln oder die weiß getünchten Wände anstarren. Ich musste heraus aus diesem beengten Raum und ging zu der Patientin, bei der die Nachtschwester kurzfristig die Temperatur kontrollierte und fortlaufend die kühlenden Beinwickel erneuerte. Diese Hautwickel schienen beinah effektiver zu sein als das fiebersenkende Medikament, denn das Fieber war tatsächlich leicht gefallen. Das Warten an sich war ja nicht das eigentliche Problem, denn dafür konnte ich für gewöhnlich die notwendige Geduld aufbringen. Aber dieses völlig untätige Warten im Wissen um die Dringlichkeit eines sofortigen, wahrscheinlich lebensrettenden Therapiebeginns war mir nahezu unerträglich. Die Wartezeit kam mir unendlich lange vor, sodass schon bald erste Befürchtungen Gestalt annahmen, dass die Chinin-Infusionen zu spät geliefert werden könnten, oder genauso schlimm, dass sie überhaupt nicht verfügbar wären. Ruhelos pendelte ich zwischen dem Patientenzimmer und dem Stationsflur hin und her, schaute immer wieder aus dem Flurfenster auf den kleinen Parkplatz vor dem Haupteingang der Klinik, so als könnte ich alleine dadurch die Ankunft des dringend benötigten Medikaments beschleunigen. Der Parkplatz blieb leer. Nun hatte ich endlich mit eigenen Augen am Mikroskop die richtige Diagnose gestellt, doch es fehlte das wirksame Medikament in der geeigneten Form zur Behandlung. Mich überfiel erneut dieses lähmende Gefühl der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit, das mir seit meiner damaligen Zeit im ostafrikanischen Hochland leider nur allzu vertraut war.

      Nach etwa zwei oder drei Stunden, inzwischen war es 2:00 Uhr morgens geworden, kam mir die Apothekerin freudestrahlend und im Eilschritt mit einem großen Karton voller Chinin-Infusionen in den Armen auf dem langen Stationsflur entgegen. Sie machte dabei, noch etwas außer Atem, keineswegs den Eindruck, als hätte sie sich unnötig viel Zeit gelassen. Es war vermutlich gar nicht so einfach gewesen, die Infusionen zu besorgen. Während der unendlich erscheinenden Wartezeit waren mir bereits Zweifel gekommen, ob sie überhaupt welche finden würde, sie waren unsere allerletzte Chance. Wie sie kurz berichtete, hatte sie die Medikamente schließlich persönlich aus dem Notfalldepot der Universitätsklinik Düsseldorf abgeholt. Endlich, es hatte mir natürlich viel zu lange gedauert, ich hatte wirklich um das Leben der jungen Patientin gefürchtet. Ich atmete erleichtert tief durch, vielleicht war es noch nicht zu spät. Ich hatte dem Bericht der Apothekerin nur mit halbem Ohr zugehört, nahm die lebensrettenden Medikamente eilig entgegen, bedankte mich hastig für ihren Einsatz und lief mit dem Karton auf die Station.

      Eine Minute später tröpfelte die erste Chinin-Infusion in eine Unterarmvene der Patientin. Diese 22-jährige Frau, deren junges Leben noch kaum begonnen hatte, durfte auf gar keinen Fall versterben, und in meinem Nachtdienst schon einmal gar nicht, dies hätte ich mir niemals verzeihen können. Selbstverständlich verbrachte ich eine schlaflose Nacht und schaute stündlich nach ihr. Sehr langsam gewann ich bei meinen Kontrollbesuchen den Eindruck, dass sich ihr Zustand etwas stabilisierte.

      Am nächsten Morgen nahm ich sofort Kontakt mit dem Tropeninstitut der Uniklinik Düsseldorf auf, ich wollte eine fachliche Bestätigung der Diagnose und schilderte dem Kollegen ausführlich den dramatischen Krankheitsverlauf. Ich erwähnte auch, dass die Leberwerte der Patientin exorbitant erhöht waren, ein Befund, der wie übrigens auch die starke Gelbsucht auf gar keinen Fall mit der Malaria-Infektion zu vereinbaren war. Wir schickten per Eilboten sofort mehrere Blutröhrchen und Blutausstriche in die Tropenmedizin.

      Am Nachmittag des gleichen Tages wurde ich vom Krankenhauspförtner angefunkt, er habe ein Gespräch für mich in der Leitung, der Teilnehmer müsse mich dringend sprechen. Der Pförtner stellte die Verbindung zu dem Kollegen aus der Tropenmedizin her. Seine erste Frage an mich lautete: „Sagen Sie mal, Herr Kollege, lebt denn ihre Patientin überhaupt noch?“ Ich war mehr als verwundert über diese Frage, denn ich konnte ihm erleichtert mitteilen, dass sich ihr Zustand inzwischen wesentlich gebessert hatte. Sie war seit dem späten Vormittag wieder ansprechbar und bei Bewusstsein, und das hohe Fieber war deutlich gefallen. Daraufhin sagte er: „Kompliment, Herr Kollege, solch einen massiven Malaria-Befall habe ich noch selten gesehen!“ Seine Worte waren deswegen so bemerkenswert, weil sie aus dem Mund eines Tropenmediziners kamen, der tagtäglich mit derart exotischen Erkrankungen konfrontiert ist. Er hatte ernsthaft befürchtet, dass die Patientin aufgrund des hohen Erregerbefalls nicht überlebt hatte. Dann teilte er mir endlich seine Untersuchungsergebnisse mit: Unsere Patientin hatte nicht nur die gefährlichste Malariaform, nämlich die Malaria tropica, sondern auch akute Infektionen mit den beiden anderen Malaria-Erregern, also Malaria tertiana und Malaria quartana. Seine Untersuchungen wegen der hohen Leberwerte benötigten hingegen noch ihre Zeit.

      Obwohl das Fieber weiterhin rückläufig war, erholte sich die junge Frau aber nur auffallend zögerlich, die Leberwerte blieben sehr hoch. Sie benötigte weiterhin Infusionen, nur war an den Armen dieses zierlichen Persönchens keine Vene mehr für eine Infusionskanüle zu finden. So legte ich ihr unter lokaler Betäubung einen zentralen Venenkatheter in die große Vene unterhalb des Schlüsselbeins. Diese Punktionstechnik beherrschte ich sicher, obwohl die Punktion nicht ganz ohne Risiko ist. Es besteht dabei die Gefahr einer Verletzung der Lungenspitze, was sofort zu einem Kollaps der Lunge mit entsprechender Atemnot geführt hätte. Die Venenpunktion gelang auf Anhieb, sodass sich der Venenkatheter etwa 20 Zentimeter tief in der großen Vene bis vor das Herz vorschieben ließ. Ein solcher Venenkatheter kann sehr viel länger liegen bleiben als eine kleine Infusionskanüle in einer Unterarmvene, die sich sehr viel schneller entzünden kann.

      Eine Woche später erhielt ich den nächsten Anruf aus der Tropenmedizin: Unsere Patientin hatte zusätzlich auch eine akute Leberinfektion durch das Hepatitis-A-Virus sowie eine akute Infektion durch das Ebstein-Barr-Virus, den Erreger des Pfeifferschen Drüsenfiebers, bei dem ebenfalls eine begleitende Leberentzündung auftreten kann. Damit hatten wir nun endlich hinreichende Erklärungen für die hohen Leberwerte, und auch für die starke Gelbsucht, und letztendlich für den folgenden langwierigen Krankheitsverlauf. Die gesamte Wahrheit bedeutete also, dass diese junge Frau durch sage und schreibe fünf unterschiedliche Erreger infiziert worden war, womit ihr schlechter Allgemeinzustand nachvollziehbar wurde. Ein Hinweis auf weitere Tropenkrankheiten, zum Beispiel Gelbfieber, hatte sich hingegen nicht mehr ergeben.

      Sie hatte mir bei den täglichen Visiten inzwischen erzählt, dass sie seit einem Jahr kreuz und quer durch Afrika gereist war und ihre Zelte in Deutschland vollständig abgebrochen hatte. Sie war eine Aussteigerin. Den Grund für ihren Exodus ausgerechnet nach Afrika, der für damalige Zeiten höchst ungewöhnlich war, wollte sie mir nicht verraten. Medikamente zur Vorbeugung gegen die Infektionen hatte sie in den letzten Monaten ihrer Reise nicht mehr eingenommen. Damit hatte sie ihr Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Und von der Krankenhausverwaltung erfuhr ich, dass sie seit einem Jahr nicht mehr krankenversichert war. Sie hatte also zunächst eine fünfwöchige Gratisbehandlung bei uns erhalten, deren Kosten später das Sozialamt übernehmen würde. Der Versicherungsstatus interessierte mich allerdings weniger, mein ganzes Bestreben galt ausschließlich der Genesung der Patientin.

      Eines Tages betrat ich zu der täglichen Visite ihr Zimmer, das sie wegen der ansteckenden Leberentzündung durch das Hepatitis-A-Virus alleine belegte. Das Bett war zerwühlt und leer, und der mühevoll gelegte, zentrale Venenkatheter baumelte traurig am Infusionsständer. Die Infusion tröpfelte sehr langsam auf den Boden, wo sich bereits eine breitere Pfütze gebildet hatte, in der jeder neue Tropfen mit steter Regelmäßigkeit ein leises, plätscherndes Geräusch verursachte, gefolgt von einem kleinen Spritzernebel. Nach der Größe dieser Pfütze und der Tropfgeschwindigkeit zu urteilen, war die Patientin bereits seit etwa zwei Stunden fort. Der Kleiderschrank und der Nachtschrank waren so leer, als hätte sie nie in diesem Zimmer gelegen. Sie hatte das Krankenhaus lautlos verlassen, ohne sich zu verabschieden, ohne ein Wort des Dankes, so geräuschlos wie eine Sternschnuppe, die an einem wolkenlosen Nachthimmel verglüht. Niemand von dem Pflegepersonal hatte ihr Verschwinden bemerkt. Ich stand vollkommen fassungslos vor dem Fußende ihres leeren Bettes. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, was ich hier sah. Schließlich hatte ihr junges Leben an jenem Wochenende, als sie unser Krankenhaus aufsuchte, an einem sehr dünnen seidenen Faden gehangen. Ich hatte um ihr Leben gebangt und voller Sorgen um sie eine schlaflose Nacht verbracht.